Ich wurde das Gefühl nicht los, dass dieser Raum mich verschlucken wollte. Breite Bücherregale ragten weit empor, die mit einer so dicken Staubschicht bedeckt waren, dass selbst ein Blinder es hätte nicht übersehen können. In der Mitte stand ein antiker Tisch, der länger als mein Zimmer war und um ihn, auffällig passend viele Stühle. Er war mit einer grauen Tischdecke bedeckt, die früher sicher einmal weiß gewesen war. Doch abgesehen von der Staubschicht, brachte sie nichts. Sie hatte viele Löcher und war an manchen Stellen so zerfressen, dass man einen Teil des Tischmusters ohne große Probleme erkennen konnte.
Die Stühle waren mit bunten Vögeln bestickt, die sogar nicht meinen Einrichtungsstil widerspiegelten und eher in das Wohnzimmer meiner Oma gepasst hätten.
Der ganze Raum wurde durch eine Vielzahl von Fackeln erleuchtet, die jemand vor unserem Erscheinen angezündet haben musste. Also konnten wir doch nicht alleine sein und das Licht hatte für jemand ganz Bestimmtes geleuchtet. Nachdenklich starrte ich in den Raum hinein, wobei ich erkannte, dass ich nicht einmal sein Ende oder eine abgrenzende Wand, erspähen konnte. Als wäre der Raum endlos, mit unzähligen Geheimnissen.
„Na dann, fangen wir an zu suchen”, beschloss Leandro und ging zielstrebig zu einem der riesigen Bücherregale.
„Du willst die doch wohl nicht alle lesen oder? Dann sind wir ja in zehn Jahren noch nicht fertig!”
„Na klar, die sind ja nicht sortiert.”
„Ja Ja, sehr witzig, ich setze mich bestimmt nicht hin und lese die alle.“
„Du kannst die Bücher auch im Stehen lesen, also... wenn dir das lieber ist“, lachte er und stellte den Schmöker wieder ins Regal, während er mir ein breites Grinsen schenkte, das wohl so schnell nicht wieder verschwinden würde. Gott, diese gute Laune ging mir aber auch schon wieder auf den Keks. Warum war er plötzlich so gut gelaunt? Ich meine die alte, muffige Luft und generell das Ambiente, versetzte mich nicht gerade in eine zufriedene Stimmung. Seit wann befand sich eigentlich dieser arrogante Touch in seiner Stimme, der mir das Gefühl gab, er würde sich und seine Entscheidungen über alles stellen? Klar, es hatten schon so einige arrogante Wörter seine Lippen verlassen, doch neuerdings konnte er diesen arroganten Unterklang nicht mehr unterdrücken. Oder ich hörte ihn erst jetzt heraus. Jetzt, wo ich zunehmend erkannte was für ein verdammtes Arschloch er war.
„Nein danke ich setz mich lieber. Nach was genau suchen wir jetzt eigentlich?“
„Schau dich am Besten nach Büchern vom Grafen um. Von England... und wenn du dann auch noch auf lilafarbene Verschnörkelungen achtest, sollte es nicht so lange dauern.“
„Was haben denn meine Schwindelanfälle mit dem Grafen zu tun?“
„Wenn ich mich richtig dran erinnere, dann hatte er wohl auch mal mit so etwas zu kämpfen.“
„Na gut“, seufzte ich nichtsahnend und machte mich an die Regale, um genau das zu finden, wonach er suchte. Verblüfft von dieser Menge an fetten Schinken, brauchte ich einen Moment, ehe ich wirklich zu lesen begann.
Ob es über die Queen, Friedrich den Zweiten oder Albert Einstein war, hier gab es einfach alles. Das würde eine lange Nacht werden. Nicht nur diese Mengen erschlugen einen, es war auch nicht besonders von Vorteil, dass ich nicht ansatzweise eine Ordnung finden konnte. Es wunderte mich schon, dass ich keine Bibel oder etwas Ähnliches finden konnte. Immerhin befanden wir uns in einer Kirche, aber wahrscheinlich befand sie sich einfach in einen der vielen Regale, die noch nichts von meiner Aufmerksamkeit bekommen hatten. Eine Weile ließ ich meine Blicke nur oberflächlich über die Regale schweifen und achtete dabei stets darauf, dass Leandro nie von meiner Bildfläche verschwand, bis mir eine Reihe von schwarzen Büchern, mit lilafarbenen Verschnörkelungen, ins Auge stachen.
„Was genau haben diese Verschnörkelungen noch einmal zu bedeuten?“, fragte ich und schob meinen Kopf um die Ecke.
„Die zeigen nur an, dass der Inhalt von übernatürlichen Dingen handelt. Warum, hast du eins gefunden?“ Energisch schüttelte ich den Kopf und wendete mich wieder dem Regal zu. Ich wollte unter keinen Umständen, dass er kommen und mir helfen würde, denn dann würde es wieder mal heißen, dass nur er es gefunden hatte.
Es war ganz angenehm, dass dieses Regal doch etwas Ordnung in sich trug. Es war voll mit Titeln rund um Könige, Queens und schließlich auch Grafen. Da ich nur eins mit der Aufschrift: „Graf von England“ fand, ging ich einfach davon aus, dass es das Richtige sein musste. Doch einen Hacken gab es trotzdem, das Buch befand sich am anderen Ende des Raumes und damit meine ich, dass es beinahe an der Decke zu kleben schien. Natürlich hätte ich das bestens ohne seine Hilfe hinbekommen, aber ich wollte keine blöden Kommentare von ihm zuhören bekommen, warum ich ausgerechnet dort oben herum krackzeln musste. Außerdem konnte er sich auch mal nützlich machen.
„Ich habe eins gefunden“, rief ich quer durch den Raum und noch im selben Moment stand er neben mir und betrachtete mit großen Erstaunen das Regal.
„Eins? Das sind Tausende!“ Was ich anfangs für ziemlich unrealistisch hielt, war letztendlich doch nicht völlig übertrieben. Ein breites, bis zur Decke ragendes Bücherregal, stand vor uns und hatte sich wie eine bedrohliche Mauer vor uns aufgebaut. Es reichte bis weit in den Raum hinein und schien beinahe das Ende dieses Ortes zu sein, doch ich wusste, dass sich dahinter weitere tausend Bücher verbargen, ja vielleicht sogar Millionen!
„Na und? Da oben steht etwas über den Grafen, die Frage ist nur wie wir dort ran kommen.“
„Hm“, war seine einzige Antwort, während er nur desinteressiert mit den Schultern zuckte und sich einen Schritt von mir entfernte. Eine Weile musste ich ihn wohl ziemlich verblüfft angestarrte haben, immerhin hatte ich nicht damit gerechnet, dass nicht einmal er eine Idee hatte, wie wir an dieses Buch ran kommen sollten.
Er, der sonst immer perfekt und für alles und jeden einen Notfallplan hatte. Ich konnte mir beim besten Willen nicht vorstellen, dass ihm keine Idee eingefallen war. Also entweder war das wieder eine seiner Aktionen, um mir zeigen zu können, wir hilflos ich doch eigentlich war oder er wollte wieder aus der Ferne, amüsiert beobachten, wie ich mir etwas einfallen ließ, das für ihn wohl möglich viel zu umständlich war.
Zögernd musterte ich ihn und stellte fest, dass er nur gelangweilt zu Boden starrte und keinerlei Anstalten machte, um eine Lösung für das Höhenproblem finden zu können. Seufzend lief ich auf und ab, während ich die Regale begutachtete und nach etwas hilfreichem suchte. Noch ziemlich weit von uns entfernt, befand sich eine braune Leiter, die bis zur Decke führte. Bisher hatte ich so etwas nur in England gesehen, doch mittlerweile hielt ich fast nichts mehr für unmöglich. Entschlossen stolzierte ich auf sie zu und hörte nur im Hintergrund, wie mir Leandro fragende Worte hinterher rief.
„Wirst du ja sehen”, murmelte ich, als ich schon fast an der Leiter angekommen war. Grinsend zog ich sie mit einem lauten Quietschen, an den oben und unten angebrachten Schienen, entlang und stellte sie dann direkt neben Leandro fest, um gemütlich auf ihr nach oben zu tapsen. Vorsichtig tastete ich mich immer weiter nach oben und prüfte, ob die Stufen mich aushalten würden. Denn jedes Mal, wenn ich auf eine von ihnen trat, knarrte sie so unheimlich laut, dass ich die Befürchtung bekam, mich in Windeseile wieder auf dem Boden befinden zu können.
Immer weiter erklomm ich die Stufen und hielt mich tapfer in dieser atemberaubenden Höhe.
„Ein Gentleman ist er ja nicht gerade!”, flüsterte ich grinsend, als ich auf die letzte Stufe der Leiter trat und mich nach dem Buch strecken wollte.
Plötzlich aber war das Knacken unter meinen Füßen so ungewöhnlich laut, dass es mich zum zögern brachte. Das Holz unter meinen Füßen wurde immer instabiler und schließlich brach die Sprosse mit einem schallenden Knacken durch. Verzweifelt versuchte ich mich irgendwo an irgendwas festzuklammern, doch alle Versuche waren vergebens. Mit weit aufgerissenen Augen stürzte ich direkt in die Tiefe und konnte noch im Fall spüren, wie der harte Boden sich in meinen Rücken bohren würde. Ungewöhnlich laut zischte die Luft an mir vorbei und blendete alle anderen Geräusche aus. Das Rauschen blieb, aber meine Geschwindigkeit verringerte sich mit einem Mal um das Zehnfache und ließ mich nur noch in Zeitlupe durch die Luft schweben. Ich fiel so langsam, dass ich sogar die Stufen der Leiter zählen konnte. Ich wollte mich irgendwo festhalten, doch ich war in dieser Schwerelosigkeit so gefangen, dass ich mich kaum bewegen konnte.
Mit nur halb offenen Augen starrte ich nach unten, direkt in seine. Ob er mich auffangen würde? Dem Boden kam ich langsam immer näher und nun war es offensichtlich, dass er mich auffangen würde. Doch das wollte ich nicht, ich wollte mich selbst retten. Also riss ich mich aus dieser Schwerelosigkeit und griff nach der Leiter. Ziehender Schmerz zog sich durch meinen Zeigefinger, als ich eine Stufe zu fassen bekam und mich an ihr festklammern konnte. Das unebene Holz hatte sich in meine Haut gebohrt und nun steckte ein Splitter oberflächlich in meiner Haut.
Doch das war mir gerade ziemlich egal. Zuerst setzte ich meine Füße auf das Holz unter mir, bevor ich dazu kam, meinen Finger genauer zu betrachten. Meine Atmung wurde hektischer, als ich begriff, dass ich von dieser gigantischen Höhe runtergestürzt war. Mit zusammengekniffenen Augen zog ich den Splitter aus meinem Finger und war froh, als ich erkannte, dass sich keine Reste mehr unter meiner Haut befanden.
Nachdem ich mich einiger Maßen wieder beruhigt hatte, wagte ich mich ein zweites Mal nach oben, wobei ich nun noch viel vorsichtiger war.
Irgendwann aber wurde mir das ständige Austesten der Stufen doch zu nervig und ich legte mir ein normales Tempo zu. Immerhin hatten mich die Sprossen ganz ohne Problem bis nach oben getragen, also würden sie das auch dieses Mal tun.
Nicht mal ein „Bist du Okay?“, hatte er raus bringen können. Stattdessen hatte er nur schweigend unten gestanden und mir seelenruhig beim Fallen zugesehen. Unverschämt, wie ich fand. Da opferte ich mich schon freiwillig, nach dort oben zu krackseln und er war sich auch noch zu fein, um mich wenigstens etwas fragen oder beruhigen zu können.
Während ich mich in Gedanken mehr und mehr über ihn aufregte, spürte ich plötzlich einen leichten Anflug von Schwindel und presste daraufhin meinen Körper so eng an die Streben, dass das raue Holz beinahe meine Jacke kaputt machte. Mit regelmäßigen Atemzügen versuchte ich mich zu beruhigen, doch stattdessen wurde ich immer nervöser.
Erschrocken riss ich die Augen weit auf, als ich eine Gestalt neben mir erblickte, die dabei war, in einem ungewöhnlich, langsamen Tempo in die Tiefe zu stürzen. Erst nach vielen Blicken, erkannte ich sie. Ich war es, ich sah wie ein Abbild von mir in die Tiefe stürzte. Doch anstatt eines ängstlichen und beunruhigten Gesichtsausdruck, schaute sie ganz ruhig und lächelte mir beinahe freundlich entgegen. Ihr Fall, mein Fall dauerte Ewigkeiten.
Unter ihr stand Leandro, der heldenhaft die Arme ausgebreitet und sich dazu bereit gemacht hatte, sie auffangen zu wollen. Gerade als sie in seinen Armen hätte landen müssen, verschwand das Verschwommene und sie. Die Zeitlupe war vorüber und ich kam allmählich wieder in der Realität an. Es war nicht real gewesen, es war nur eine weitere, unpassende Einbildung! Richtig? Verdutzt blickte ich nach unten und bemerkte, dass ich schon wieder ziemlich weit oben stand. Mit gelangweilter Miene blicke mir Leandro entgegen und tippte nervös auf der Scheibe seiner Armbanduhr herum, als hätten wir irgendeinen Zeitdruck.
„Alles okay da oben? Oder bist du festgewachsen?” Schwer atmete ich aus und verdrehte entnervt die Augen.
„Du stresst! Du stehst ja schließlich nicht hier oben, also halt die Schnauze! Ich wäre fast gestorben... oder auch nicht,....egal lass mich meine Sachen machen und du tust deine okay? Du kannst ja auch nach anderen Büchern suchen, wenn dir so langweilig da unten ist.” Es war so befreiend ihn anschreien zu können und anscheinend hatte ich ihn beeindruckt, denn mehr als ein: „Okay“, brachte er nicht mehr heraus.
Kopfschüttelnd machte ich mich wieder auf den Weg und erklomm mit besonderer Vorsicht die Stufen. Doch nachdem ich eine Weile verzweifelt versucht hatte, ignorieren zu können, dass das, was ich eben gesehen hatte, tatsächlich passieren könnte, machte ich mir Sorgen, was passieren würde, wenn er nicht mehr dort unten stand.
„Na gut, bleib bitte stehen, aber hetz- mich nicht so, ansonsten kannst du es machen!“, brummte ich widerwillig und schritt weiter, ohne in seine Augen starren zu müssen, die mich mit Sicherheit ausgelacht hätten. Immer wieder warf ich einen kurzen Blick nach unten und kontrollierte, ob er sich noch dort befand und mich im Zweifelsfalle, hätte auffangen können.
Da ich noch eine Menge Stufen vor mir hatte, wurde ich mit der Zeit ungeduldiger und unvernünftiger. Auch wenn ich es hätte einfach ignorieren können, saß mir Leandro´s Ungeduld im Nacken und veranlasste mich dazu, immer schneller zu werden. Ich wurde sicherer und irgendwann schaute ich nicht mehr nach, ob die Stufen brechen würden. Sie mussten einfach stabil sein, na ja bis auf die Obere, von der ich gestürzt war.
Voller Vorfreude beinahe das Ende der Leiter erreicht zu habe, trat ich auf die nächste Stufe. Noch drei Weitere und ich hätte es geschafft. Doch anscheinend konnte mich diese Leiter nicht besonders leiden, denn eine der nächsten Sprossen knackte erneut, viel zu laut und ich stürzte ein weiteres Mal in die Tiefe.
Sekunden vergingen wie Minuten und es fühlte sich an, als würde ich langsam zu Boden schweben. Verblüfft starrte ich das Mädchen an, das mir erschrocken entgegen blickte und sich verkrampft an den Holzsprossen festklammerte. Und schon wieder, sah ich ein Abbild von mir, die mich zu beobachten schien. Wie von selbst bildete sich ein ruhiges Lächeln auf meinen Lippen, denn ich wusste dass ich sicher aufkommen würde und genoss für einen Moment die warme, stickige Luft, die in langsamer Geschwindigkeit an mir vorbei zog. Mit tiefen Atemzügen genoss ich die Freiheit, die mich umgab und breitete die Arme aus, als wäre ich ein Vogel. Ich ignorierte den Fakt, dass ich eigentlich nicht in seinen Armen landen wollte und konzentrierte mich nur auf diese Freiheit.
Für ein paar Sekunden fühlte ich mich sicher. Mit einem leichten Ruck spürte ich seine kalten Finger an meinem Rücken. Erleichtert atmete ich auf. Bei dieser Nähe konnte ich gar nicht anders, als in seine atemberaubenden Augen zu starren. Fast lächelnd blitzten sie mir entgegen und ließen Sorgen vergessen. Das, weshalb ich ihn hassen wollte. Fast bewundernd betrachtete ich seine Haare, die ihm dabei waren wieder ins Gesicht zu fallen und seine markanten Wangenknochen verdecken wollten. Es wäre so doch so einfach. Ich müsste ihm nur vergeben, mich in seine Arme werfen und hoffen, er würde das zwischen ihm und Laureen vergessen.
Also warum konnte ich mich nicht einfach in seine Arme werfen? Seine starken Arme spüren, die meine Schultern umschlangen und mir Sicherheit brachten? Ihn einfach küssen und hoffen es wäre einmalig gewesen. Warum? Es war doch so einfach, eigentlich. Doch natürlich war mein Stolz dafür viel zu groß, mein Stolz und die Angst ein weiteres Mal enttäuscht und verletzt zu werden. Egal was ich mir vorgenommen hatte, was ich mir geschworen hatte, bei diesen blauen Augen vergaß ich es und war plötzlich bereit, gegen alle meine Vorsätze zu verstoßen.
Zögernd reckte ich meinen Kopf etwas weiter zu seinem und war bereit meine Lippen auf seine zu pressen.