Ahnte er überhaupt, wie beschissen es mir ging? Hatte er auch nur die leiseste Ahnung, was ich alles für ein paar Stunden Schlaf geben würde? Mit müden Augen hatte ich mich langsam umgezogen und war schließlich zu ihm gegangen. Dieser Vogel hatte mich tatsächlich um halb fünf geweckt! Der hatte echt nicht mehr alle Tassen im Schrank!
„Die wirst du nicht brauchen.“
„Was?“, fragte ich irritiert, als ich mir die Winterjacke über meinen dicken Pullover ziehen wollte. Draußen waren drei Grad, die Jacke würde ich sicherlich gebrauchen.
„Die Jacke. Ich zeige dir, wie du deine Körpertemperatur angenehm temperierst, außerdem wird dir beim ganzen Gelaufe eh warm.“
„Wo willst du denn bitte hin?“
„Sagen wir mal so, bis zur Kirche ist es noch nicht einmal die Hälfte.“
„Vergiss es, da kannst du alleine hinreinnen“, beschwerte ich mich und schloss die Tür hinter uns ab. Schon allein aus Protest hatte ich die Jacke angelassen und war darüber sehr froh, als ich bemerkte, wie kalt es wirklich war. Außerdem waren meine Haare jetzt nass und machten die Sache nicht besonders angenehm.
„Du hast versprochen dich nicht zu widersetzen.“ Viel zu offensichtlich verschluckte ich meine Worte und behielt die Gedanken bei mir. Ich hatte keine Lust wieder mit dem Vorwurf anzufangen, er hätte seinen Teil der Verabmachung auch nicht eingehalten. Dann würde wieder diese eigenartige Stille entstehen, die ich absolut nicht leiden konnte. Außerdem war ich insgeheim froh, über diesen Abend nicht mehr sprechen zu müssen. Immerhin hatte ich mich bis auf die Knochen blamiert. Bei seinem komischen Verhalten, hatte man aber wirklich nicht ahnen können, was er eigentlich wollte.
Es dauerte keine fünf Minuten, da forderte er mich zu einem Wettrennen heraus. Kurz hatte ich mit mir gerungen, ob ich darauf überhaupt eingehen sollte, doch mein Stolz war viel zu groß und ich hatte keinen Bock, am nächsten Morgen wieder einen Eimer Wasser übers Gesicht gegossen zu bekommen. Nun musste ich mich wirklich ranhalten. Zwischen uns lag bereits am Anfang ein großer Abstand, da ich viel zu lange überlegt hatte.
Die ersten Schritte waren schwer und ich hatte Mühe, ihn nicht zu verlieren. Warum ließ ich mich überhaupt auf so etwas dämliches ein?
Schnell ging mir die Puste aus. Es war einfach nicht meine Zeit und ich war immer noch viel zu müde. Mein Keuchen war bereits so laut geworden, dass ich alles andere um mich herum ausblendete und ich mich auf die Atmung konzentrieren musste, damit ich auch ja keine Seitenstechen bekommen würde. Ich wusste nicht mal mehr wo wir lang rannten, noch wie lange ich überhaupt schon lief. Meine Lunge brannte und meine Beine wurden immer schwerer, doch ich hatte mir vorgenommen nicht aufzugeben und ihm zu folgen, ihn zu überholen, bis er nicht mehr könnte, auch wenn ich dann völlig am Ende wäre.
Wir rannten Ewigkeiten. Er hielt erst wieder an, als ich kurz davor war, aufzugeben. Stolz stellte ich mich ihm gegenüber und verschnaufte.
„Und weiter“, murmelte er angestrengt und wollte sich schon eine Sekunde später wieder auf den Weg machen.
„Nein, gibt mir zwei Minuten“, forderte ich und stützte mich mit den Händen, auf den Knien ab. Das Brennen in meiner Lunge wurde weniger und ich spürte, wie sich meine Atmung langsam wieder einpendelte. Gähnend sah ich mich um und stellte fest, dass wir in der Nähe des Reiterhofes waren, auf dem eine Freundin zwei Pferde zu stehen hatte. Meine Erinnerungen an diesen Ort waren verschwommen, doch ich wusste genau, dass wir damals eine Stunde gebraucht hatten, um mit dem Auto hier her zu fahren.
„Es gibt erst eine Pause, wenn ich es sage“, rissen mich Leandro´s nervende Worte aus den Gedanken und erinnerten mich wieder an die Gegenwart.
„Warum hast du dann überhaupt angehalten, wenn du doch gar keine Pause machen wolltest?“
„Ich wollte sicher gehen, dass du noch da bist.“
„Schwachsinn, du brauchst doch selbst eine Pause.“
„Nein. Wir müssen uns jetzt auf den Rückweg machen, damit wir noch duschen können und genügend Zeit haben, um nicht zu spät zur Schule zu kommen.“ Den Kopf entnervt nach hinten gestreckt, weigerte ich mich seinen Forderungen nach zu kommen und setzte mich auf den nassen Boden.
„Schön wie du willst. Zwei Minuten“, stöhnte er und gesellte sich zu mir auf den Boden.
„Wie geht’s dir jetzt?“, fragte er plötzlich völlig aus dem Zusammenhang gerissen und sah mir besorgt in die Augen. Schnell blickte ich zu Boden und schwieg für einen Moment. Was sollte diese blöde Frage? Es war offensichtlich, dass es mir nicht gut ging und es war genauso klar, dass es an ihm lag. Das wusste er und genau deswegen war diese Frage mehr, als dumm.
„Was soll das jetzt?“, zischte ich und verschränkte die Arme vor der Brust. Er war der Letzte mit dem ich über meine Probleme sprechen wollte. Er war schließlich an allem Schuld, an wirklich allem. Immer noch konnte ich nicht verstehen, was daran so schwer war, sich einfach mal zu entscheiden. Bis er das nicht getan hatte, wollte ich eigentlich kein einziges Wort mit ihm wechseln und ich wollte keine einzige Sekunde in seiner Gegenwart verbringen. Ich wollte ihn einfach nur vergessen, doch das konnte ich nicht, wenn ich ihn jeden Tag sehen musste.
„Ich meine deinen Durst, dein Verlangen“, entgegnete er ruhig und hörte endlich auf mich anzustarren.
„Mir geht’s gut, okay? Ich habe mich unter Kontrolle.“
„Das glaube ich nicht. Dein Verlangen ist doch mittlerweile so sehr gestiegen, dass du am liebsten jeden, der dir über den Weg läuft, am liebsten umbringen würdest“, sprach er erschreckender Weise, meine tiefsten Gedanken aus. Tief in mir hatte ich diese Überlegungen gehabt. Das Wochenende über hatte ich viel zu oft darüber nachgedacht, abends alleine rauszugehen und mein Verlangen zu stillen. Doch es war die Vernunft in mir gewesen, die mich davon abgehalten hatte. Mit jedem Tag wurde das Verlangen und der Hunger stärker und ich fragte mich, wie lange ich noch auf meine innere Stimme hören könnte. Doch diese Gedanken, diese bestimmenden Gefühle, konnte und wollte ich nicht vor ihm zugeben. Warum fragte er jetzt? Anscheinend war es üblich, dass man nach dem ersten Blut, schnell abhängig werden konnte, warum fragte er also ausgerechnet jetzt?
„Mir ist egal was du glaubst“, log ich.
„Ich kann dir helfen, deine Gefühle unter Kontrolle zu bringen und der Versuchung zu widerstehen.“
„Ich brauche deine Hilfe nicht, ich komme sehr gut alleine zurecht“, antwortete ich schnippisch und stand auf, um mich langsam auf den Heimweg zu machen. Ich wollte einfach nicht mit ihm über meine Probleme reden, wann verstand er das endlich? Ihm konnte ich doch sowieso nicht mehr vertrauen, warum tat er dann so, als wäre es nur meine Sturheit, die mich davon abhielt seine Hilfe anzunehmen?
„Lass mich dir doch helfen. Alleine kann man den Anfang einfach nicht überstehen.“
„Warum sollte ich mir von dir noch helfen lassen? Alles was du je getan hast, war mit mir zu spielen. Ich habe einfach keine Lust mehr darauf. Ich will dich nicht mehr sehen, ich will nicht mit dir reden und ich will verdammt noch mal, deine scheiß Hilfe nicht. Versteh das doch endlich mal“, schrie ich wütend, als er mich am Arm gepackt hatte und mich zurückziehen wollte. Schneller als er gedacht hatte, hatte ich mich von ihm wieder losreißen können und lief nun in Richtung Heimweg. Er zögerte nicht lange und folgte mir. Kurz schwieg er und ich bildete mir ein, er würde über meine Worte nachdenken, er würde endlich verstehen, wie verletzend sein Verhalten gewesen war und wie verletzend es immer noch war. Ich hoffte er verstand endlich, dass es mit ein paar Worten nicht getan war.
„Du brauchst sie aber, ob du willst oder nicht. Der Sport soll dir helfen dich unter Kontrolle zu
bekommen. Ich mache das ja nicht, um dich zu ärgern.“ Das war ja mal was ganz neues.
„Ich kann mich noch genau daran erinnern, wie schlecht ich mich gefühlt habe, als ich das erste Mal Blut getrunken habe. Alles tat mir weh und ich dachte, ich würde diese schlechten Gefühle nur loswerden, wenn ich weiter Blut trinke. Für den ersten Moment wird es auch besser, aber es ist keine Dauerlösung.
Ich habe auch versucht viel zu schlafen. Doch auch das hat am Ende nicht funktioniert. Das einzige was man wirklich machen kann, ist diese schlechte Zeit durchzustehen und sich irgendwann wieder zu fangen. Mir hat damals der Sport wirklich gut geholfen. Am Anfang war es wirklich anstrengend und ich fragte mich jedes Mal, wann es sich endlich besser würde. Doch als sich mein Körper dann endlich an diese Umstellung gewöhnt hatte, wurde ich immer entspannter. Du brauchst den Schlafentzug, der durch die Schule bestimmt kommen wird. Und in Kombination mit dem Sport, wirst du dich irgendwann richtig ausgeruht fühlen und wenn es so weit ist, dann fällt dir das Ignorieren des Durstes und des Verlangens, nach dem verführerischen Geschmack, nicht mehr allzu schwer.“
„Also wird das Verlangen für immer bleiben?“, fragte ich knapp. Vielleicht gab er sich ja Mühe, aber das reichte bei Längen nicht, um seine Spielchen mit mir wieder gut zu machen. Wenn man das überhaupt noch gut machen konnte.
„Leider schon.“
„Hm.“
„Alex, es tut mir wirklich leid, wie das alles gelaufen ist“, erklärte er plötzlich ganz ruhig und hatte schon wieder diesen Ton in der Stimme, der mir sagte, dass er versuchte sich zu versöhnen. Doch dazu würde es nicht kommen. Vorsichtig zog er mich zu sich nach hinten und dieses Mal ließ ich es einfach geschehen. Bedauernd schaute er mir in die Augen und suchte nach den richtigen Worten, die seine vergangenen Taten entschuldigen könnten. Aber diese Worte gab es nicht.
Seine Augen waren trüb geworden und ich spürte die Unsicherheit in seiner Stimme. Jedoch änderte das nichts an meiner Entscheidung. Er konnte hier nicht so einfach vor mir stehen, um Vergebung bitten und alles wäre vergessen. Es wäre wohl wirklich besser, wenn wir einfach eine Pause von allem hätten, auch wenn das bei der momentanen Situation unmöglich war. Ich wollte nicht das Mädchen sein, das immer sprang, wenn er es wollte. Auch er musste endlich mal das wollen, was er nicht haben konnte. Auch wenn es nur für eine kurze Zeit war. Ich wusste, dass ich ihm nicht lange widerstehen konnte, wenn wir so viel Zeit miteinander verbringen mussten, doch ich hatte einen Plan und den musste ich durchziehen, damit er um mich kämpfen müsste, so wie er es schon zu Beginn unserer Begegnung hätte tun müssen.
„Es tut mir wirklich leid und ich...“
„Das ist mir egal. Von mir aus hilf mir. Aber ich will mit dir nicht länger darüber sprechen, wie es mir geht und worüber ich mir Gedanken mache, ist das klar?“, unterbrach ich ihn schnell, bevor er mich mit seinen überzeugenden Worten wieder dazu gebracht hätte, meine Vorsätze über Bord zu werfen.
„Aber ich,...“
„Ob das klar ist?“
„Ja, damit muss ich mich wohl erst mal zufrieden geben oder?“
„Ja musst du“, antwortete ich kalt, befreite mich aus seinen Griffen und lief endgültig nach Hause. Stumm folgte er mir und zusammen rasten wir nach Hause, ohne daraus ein Wettrennen zu machen.
Dort angekommen lagen wir noch gut in der Zeit und hatten keine Probleme damit, schnell unter die Dusche zu springen. Die Stimmung zwischen uns war nicht neu, trotzdem überlegte ich, ob ich nicht doch zu hart zu ihm gewesen war. Immerhin hatte er versucht, sich zu versöhnen. Er hatte sich wieder entschuldigt und für ihn war das wohl ein wirklich großer Schritt gewesen. Aber das musste mir egal sein. Ich durfte jetzt nicht schwach werden, ich musste meinen Plan durchziehen!
Nach dem Duschen setzten wir uns, zusammen mit meiner Familie, an den Tisch und sollten frühstücken. Doch ich hatte keinen Hunger und ich wusste schon jetzt, dass das bei meiner Mutter zu einem Konflikt führen würde.
„Morgen föhnst du sie trocken“, waren die ersten Worte meiner Mutter gewesen, als ich die Treppe runter gekommen war und mich zu den anderen an den Tisch gesetzt hatte. Obwohl ich meine Haare eben nicht gewaschen hatte, waren sie immer noch nass, von der unnötigen Aktion, die sich Leandro heute morgen geleistet hatte. Jetzt musste ich eben einen Morgen mit nassen Haaren nach draußen gehen, immerhin konnte ich sie nicht föhnen, da sie danach so aussehen würden, als hätte ich in eine Steckdose gefasst.
„Hm“, murmelte ich und versuchte mich zusammenzureißen, da mich ihre Forderungen, nach diesem anstrengenden Morgen, ziemlich nervten.
„Seit wann duschst du Morgens?“ Kurz warf ich Leandro vorwurfsvolle Blicke zu, ehe ich euphorisch nach dem Kaffee griff. Müde war ich immer noch und wirklich frischer und erholter, fühlte ich mich nach diesem gigantischen Sprint immer noch nicht.
„Ich wollte am ersten Schultag eben frisch sein.“
„Das bist du auch, wenn du abends duschst?“
„Hm.“ Mehr brachte ich nicht raus, als ich die frisch gebratenen Spiegeleier vor meiner Nase entdeckte. Schon bei dem Gedanken daran, diese Eier essen zu sollen, wurde mir übel. Lächelnd schob sie mir einen Teller mit Spiegeleiern und Toast entgegen und nickte mir stolz entgegen. Ich schüttelte unsicher den Kopf und schob den Teller weg, woraufhin ich empörte Blicke erhaschte.
„Ich hab keinen Hunger.”
„Wie du hast keinen Hunger? Ich habe extra Spiegeleier für dich gemacht?“
„Ich weiß, aber ich habe jetzt einfach keinen Hunger, okay?“
„Schmecken dir auf einmal Spiegeleier nicht mehr oder was?“
„Das habe ich doch gar nicht gesagt!“
„Ja, aber warum willst du dann nichts mehr essen? Du hast doch morgens immer Hunger. Oder bist du auf einmal auf Diät?“, fragte sie vorwurfsvoll und streckte mir den Teller mit den Spiegeleiern weiterhin entgegen. Schwer atmend starrte ich zu Leandro, der mir irgendwie aus dieser Situation raus helfen sollte, der jedoch war völlig abwesend und in einer ganz anderen Welt verschwunden.
„Neeein bin ich nicht. Egal ich muss jetzt eh los!“
„Warum bist du denn schon wieder so angezickt?“
„Angezickt? Ich? Du machst mich doch hier von der Seite an?“
„Ich? Hast du mal deinen Ton gehört? Natürlich bist du schon wieder angezickt.“
„Ach lass mich doch in Ruhe!“, rief ich energisch und stand auf.
„Dann nimm aber die Spiegeleier mit zur Schule.“
„Nein, ich muss jetzt los.“
„Das dauert doch keine zwei Minuten, außerdem hast du noch Zeit.“
„Ich will die blöden Spiegeleier nicht mitnehmen.“
„Dann isst du sie halt, wenn du aus der Schule kommst.“
„Nein, ich will nicht.“
„Also magst du doch keine Spiegeleier mehr oder wie?“
„Bor, lass mich doch einfach in Ruhe!“, schrie ich nun wütend, stürmte mit meiner Tasche über die Schulter geworfen, Mantel und Schuhen aus dem Haus und knallte mit voller Wucht die Tür hinter mir zu. Wie konnte mich ein Mensch so aggressiv machen? Was war denn so schwer daran, einfach zu verstehen, dass ich jetzt keine Spiegeleier essen wollte?
Fröstelnd zog ich mir die Jacke über und öffnete die Tür des Schuppens, um die Fahrräder rauszuholen.
„Hier“, murmelte Leandro, während er mich an der Schulter packte und mir eine Wasserflasche entgegen reichte. Augen rollend stellte ich das Fahrrad meines Vaters ab und nahm sie entgegen.
„Danke.“
„Sie meint es doch nur gut.“
„Lass das, klar?“, zischte ich wütend und schwang mich aufs Fahrrad. In mir stapelte sich die Wut. Wut auf ihn, auf meine Mutter und auf diese ekelhafte Frühe, in der ich mich schon wieder zur Schule schleppen musste.
„Was?“, fragte er verwundert und nahm das Fahrrad meines Vaters entgegen.
„Außerhalb vom Training reden wir am besten gar nicht mit einander.“
„Das ist jetzt aber wirklich unnötig.“
„Mir doch egal. Und pass bloß auf das Fahrrad auf, es gehört meinem Vater.“ Falten legten sich auf seine Stirn und er sah so aus, als wollte er noch etwas sagen. Nach langem Überlegen, verkniff er sich das allerdings. Ohne auf ihn zu warten fuhr ich vor und versuchte dabei meinen Schal zu sortieren, damit er nicht zu Boden fiel.
„Wir sollen aber deinen Bruder noch zur Schule bringen“, rief er mir hinterher und holte mich schnell wieder ein.
„Das kann sie alleine machen.“
Als wir das Grundstück verließen, hörte ich das Gebrülle meiner Mum, ich ignorierte es jedoch und beschleunigte mein Tempo, damit wir hier bald weg wären. Heute Abend müsste ich mir erst mal eine Ansage von ihr anhören, doch das war mir in diesem Moment völlig egal.
Da ich Tom nicht bei seiner Schule absetzen musste, konnten wir die Abkürzung nehmen und sparten damit einige Minuten.
Schweigend fuhren wir nebeneinander und quälten uns den unendlichen Berg hinauf. Jeder Tritt wurde schwerer und anstrengender, sodass ich kurz vor der Bergspitze absteigen musste und den Rest des Hügels schob. Für heute hatte ich genügend Sport hinter mir.
Mit versteinerter Miene stieg ich wieder auf und fuhr weiter. Innerlich regte ich mich fürchterlich über meine Mutter auf. Wiedereinmal hatte sie es geschafft mich vor anderen wütend zu machen und es so aussehen zu lassen, als wäre sie das Opfer. Das tat sie nur allzu gern und meistens durfte ich mir danach anhören, dass sie es nicht so meine und dass ich nicht so hart zu ihr sein solle. Auch wenn sie auf andere wie der Engel in Person wirkte, so hatte auch sie ihre Macken und Fehler. Was mischten sich die Leute überhaupt in mein Leben ein? Keiner kannte meine Mutter so wie ich und niemand wusste was für ein Drachen sie sein konnte.
Schnell vergaß ich den Ärger mit meiner Mutter wieder und dachte über eine weitere Frage nach, die mich schon das ganze Wochenende über verfolgt hatte. Wieder ging es um den Donnerstag Abend, doch dieses Mal war nicht Leandro die Hauptrolle in meinen Gedanken.
„Habe ich sie getötet?”, platze es aus mir heraus und zerbrach somit die Stille zwischen uns. Verwundert blickte Leandro auf und dachte einen Moment nach.
„Die Frau, in der Nacht?“ Ich nickte kurz, schaute für den Bruchteil einer Sekunde in seine blauen Augen und starrte wieder stumm zu Boden.
„Nein.“ Erleichterung machte sich in mir breit. An manche Dinge von diesem Abend, konnte ich mich viel zu gut erinnern. An die Frau hatte ich jedoch kaum Erinnerung und fragte mich, was mit ihr danach überhaupt passiert war. Noch bevor ich weiter über sie Fragen stellen konnte, kam mir Leandro zu vor und startete einen weiteren Versuch, etwas normalen Smalltalk zwischen uns herstellen zu können.
„Immerhin hast du es jetzt hinter dir.“
„Wie schön.“
„Ja ich weiß, deswegen meinte ich ja, dass ich so etwas niemanden freiwillig antun würde.“
„Hm.“
Draußen war es immer noch nicht richtig hell geworden, doch das störte mich nicht. Immerhin waren meine Kopfschmerzen dann etwas erträglicher und meine müden Augen konnten noch eine Weile müde sein. In der Hektik hatte ich die Kopfschmerztabletten völlig vergessen, aber vielleicht war es auch gut so, denn dann konnte ich einer weiteren Diskussion, über meinen Gesundheitszustand, aus dem Weg gehen. Sowohl bei meiner Mum, als auch bei Leandro. Doch bei dieser Sache wäre meine Mum noch ein wenig krasser eingestellt. Sie machte sich ja schon Sorgen, wenn ich mir einen Tee kochte und fing an zu fragen, ob ich krank sei. Ich war es gewohnt, dass sie mit ihrer Besorgnis immer übertrieb, doch heute war es noch krasser gewesen, als sonst. Vielleicht lag es an meinem Vater? Schleunigst verschluckte ich diesen Gedanken und konzentrierte mich auf den Weg, da wir langsam der Schule immer näher kamen.
„Warum fragst du?“
„Warum frage ich wohl? Weil ich nicht genau weiß, was danach passiert ist“, blaffte ich ihn an und wechselte die Spur.
„Was heißt genau?“
„Gott, müssen wir echt schon wieder diese Diskussion führen?“
„Anscheinend schon.“
„Ich weiß ganz genau was ich zu dir gesagt habe, als du mich nah Hause getragen hast. Wenn du darauf hinaus wolltest.“
„Ja darauf wollte ich hinaus?“
„Toll und jetzt? Wir haben das doch schon tausend Mal geklärt, lass es doch einfach“, antwortete ich mit hochgezogenen Augenbrauen und fragte mich, was er mit diesen Fragestellungen schon wieder bezwecken wollte.
„Das kann ich aber nicht. Würdest du dich denn...“
„Also... ähm würdest du es denn noch mal versuchen wollen, wenn ich mich komplett, also ich meine, endgültig entscheiden würde?“, fragte er unsicher und ließ mich an meinem Plan schon wieder zweifeln. Hieß das er wollte es probieren? Jetzt schon?
„Ich will nicht darüber reden.“
„Irgendwann müssen wir aber reden oder willst du es komplett aufgeben?“ Natürlich mussten wir das, aber er war doch derjenige der nicht drüber reden konnte. Er konnte sich ja nicht mal entscheiden, ob er endlich reden wollte oder nicht? Ob er die ganze Wahrheit sagen oder ob er mich wieder einmal nicht einweihen wollte. Wenn er das schon nicht konnte, wie sollte er sich dann jemals für mich entscheiden? Für mich, voll und ganz. Es klang unmöglich, dass er sich jemals komplett entscheiden könnte und so kam in mir der Gedanke auf, dass das alles, alles mit ihm, anscheinend keinen Sinn machen sollte. Vielleicht sollten wir es aufgeben. Vielleicht.