Schreiend saß ich auf dem Boden und starrte ins Leere. Wahrscheinlich hätte ich Ewigkeiten so verbringen können, doch eigenartiges Klirren einer kaputten Scheibe riss mich aus der Verzweiflung und ließ mich aufschrecken. Glasscherben fielen auf meine empfindliche Haut und hinterließen in ihr blutige Spuren. Gedankenfetzen setzten sich zusammen, gaben mir die Hoffnung wieder und in Windeseile stand ich vor ihnen, griff nach ihrer eisigen Hand und zog sie von diesem Mann weg. Sie stolperte kurz, da sie auf meinen kleinen Übergriff ganz und gar nicht vorbereitet gewesen war und genau deswegen funktionierte es wohl auch. Es ging viel zu schnell, sodass sie all ihre Zweifel über Bord warf und mir endlich folgte. Wir rannten so schnell unsere Beine uns auch tragen mochten.
Ich ließ ihre Hand nicht los und irgendwann hatten wir ein Tempo erreicht bei dem sie mir nur noch hinterher stolpern konnte. Doch das war mehr als nötig. Die Dunkelheit saß uns eng im Nacken und setzte alles daran uns endlich einholen zu können. Zwischendurch warf ich immer wieder einen Blick nach hinten und versicherte mich, wie nah sie uns bereits war. Dabei erkannte ich, dass diese schwarze Dunkelheit von etwas mächtigen angeführt wurde. Etwas mit dunklen, schwarzen Augen, schwarzen Gewändern und finsterer Miene. Es war nur ein Bruchteil einer Sekunde gewesen, in der ich dieser Gestalt entgegen geblickt hatte, sodass ich ihr Gesicht schnell vergessen hatte.
Meine Lunge brannte, meine Knie wurden immer weicher und die Energie verließ bei jedem Schritt immer mehr meinen Körper. Ewigkeiten schon liefen wir in diesem rasanten Tempo und wussten nicht wo wir uns hin retten sollten. Ich kämpfte mit mir und meinem erschöpften Körper, zwang mich und sie immer weiter zu laufen. Solange, bis ich mir endlich eingestand, dass es keinen Sinn hatte. So würden wir nie einen Ort erreichen, der uns vor dieser Dunkelheit retten könnte. Während wir weiterliefen dachte ich über meine vergangenen Begegnungen mit diesem Ort nach und erinnerte mich daran, wie ich ihn wieder verlassen hatte. Weglaufen war noch nie eine Option gewesen. Stattdessen mussten wir uns der Angst stellen und uns fallen lassen. Keine Bedenken mehr haben, einfach frei von Angst sein.
Urplötzlich stoppte ich. Zog meine Mum mit mir und zusammen standen wir mit einem Ruck der Dunkelheit gegenüber. Furchtlos starrte ich diesen verhängnisvollen Augen entgegen und ließ mich zusammen mit ihr einfach fallen. Na ja, eher fiel ich zu Boden und riss sie mit mir. Das Grelle unter uns hörte auf zu leuchten und färbte sich langsam dunkelrot. Zusammen fielen wir dieser Röte entgegen. Ein unangenehmes Kribbeln machte sich in mir breit und bescherte mir Übelkeit. Doch die war mein kleinstes Problem. Durch diese rasende Geschwindigkeit war ich irgendwann nicht mehr dazu in der Lage gewesen, ihre Hand bei mir zu behalten und hatte sie losgelassen. Schnell verlor ich den Überblick und musste schließlich machtlos mit ansehen, wie sie aus meinem Augenwinkel verschwand.
Das Rote wandelte sich allmählich in leichtes Rosa, bis es weiß wurde und mein Körper langsam Widerstand spürte. Ich wusste ich war zurückgekommen und brauchte nur die Augen zu öffnen und schon würde ich Leandros besorgtes Gesicht vor meinen Augen sehen.
Doch ich war noch nicht bereit um der Wahrheit ins Gesicht zu sehen. Immer noch hatte ich Angst um meine Mutter, was wenn die Dunkelheit sie doch noch auf diesem kurzen Weg eingeholt hatte? Die Wahrheit konnte ich nicht leugnen und genau deswegen war ich nicht bereit sie zu erfahren. Ich wusste nicht ansatzweise wie ich damit umgehen sollte, wenn ich sie tatsächlich verloren hatte. Der Moment an diesem merkwürdigen Ort war nur ein Einblick in das gewesen, was ich tatsächlich fühlen müsste und dafür war ich nicht bereit. Ich konnte es einfach nicht mehr.
Einige Zeit kämpfte ich mit mir selbst und ging alle die Szenarien durch, die mich erwarten könnten. Ich verbrachte wohl Stunden damit und dann endlich wurde mir die Entscheidung abgenommen. Ihre Hand zuckte in meiner. Es war so leicht, dass ich es beinahe nicht bemerkt hätte. So leicht, dass ich mich kurz zu fragen anfing, ob ich es mir nicht doch nur eingebildet hatte. Trotzdem hatte mir dieses Zucken genügend Mut gebracht, um die Augen aufzuschlagen und meiner Mutter hoffnungsvoll entgegenzublicken. Vorsichtig drückte ich ihre Hand und richtete mich immer weiter auf. Ich konnte meine Augen nicht von ihr nehmen und wartete sehnsuchtsvoll auf den Moment, in dem sie sich endlich bewegen würde. So, dass ich mir sicher sein konnte sie würde es schaffen. Nachdenklich hockte Leandro neben mir und suchte nach richtigen Worten. Worte der Entschuldigung. Mein Warten fühlte sich wie die unendliche Ewigkeit an, trotzdem wagte ich es nicht meinen Blick von ihr zu nehmen. Leandro war schon nach kurzer Zeit näher an mich gekommen und hatte seine Hand tröstend auf meine linke Schulter gelegt. Doch dieses Mal brauchte er mich nicht zu trösten. Sie würde wiederkommen, sie musste einfach wiederkommen!
„Alex, ich...“, fing er an und stoppte noch im selben Moment, als ein eigenartiges Zucken durch den gesamten Körper meiner Mutter fuhr und sich ihre Augenlider zu bewegen anfingen. Erleichtert atmete ich auf, zog ihren Oberkörper an ihrer Hand näher zu mir und umarmte sie so fest ich nur konnte. Tränen der Erleichterung rannen meine Wangen hinunter und versiegten auf dem hellen Stoff ihres Pullovers.
„Wie geht es dir?”, hörte ich schließlich zaghaft die bebende Stimme meines Bruders und ließ meine Mutter wieder los. Kurz schaute ich in ihre grünen Augen und spürte die Dankbarkeit mit der sie mich am liebsten überschüttet hätte. Kaum merklich lächelte sie mir entgegen und versuchte die Tränen in ihren Augen zu verbergen. Glücklich fiel ihr Tom in die Arme. Seufzend legte sie ihren Kopf auf seiner Schulter ab und streichelte ihm abwesend durch die Haare. Ob sie sich an alles erinnerte? Wenn sie es tat, dann würde sie sich wohl ewig Vorwürfe machen, wie sie nur eine Sekunde lang hatte zögern können uns zurückzulassen. Nachdenklich schaute ich zu Leandro, der einen zweifelnden Gesichtsausdruck aufgesetzt hatte und versuchte eine Erklärung für die vergangenen Minuten zu finden. Ich starrte ihn lange an und wahrscheinlich hatte er das auch mitbekommen, aber ich konnte einfach nicht aufhören mich zu fragen, wie er es überhaupt soweit hatte kommen lassen. Zwischen ihnen musste einfach irgendetwas gewesen sein, niemals hätte er es sonst so ausarten lassen. Wut staute sich langsam wieder in mir an. Wahrscheinlich verstand ich von dieser ganzen Welt immer noch nicht viel, aber es reichte um zu wissen, dass diese ganze Aktion nicht nötig gewesen wäre, wenn er erstens besser verhandelt hätte, überzeugender und wenn er mir verdammt noch mal geglaubt hätte.
„Ich möchte ja nicht stören, aber wir müssen uns etwas überlegen. Sie und vielleicht noch viel mehr werden wieder kommen und sich rächen wollen, außerdem...“
„Kannst du ein einziges Mal empathisch sein? Sie ist gerade...“, unterbrach ich ihn abrupt, konnte allerdings meinen Satz nicht beenden. Ich wollte sie und Tom nicht daran erinnern und ehrlich gesagt auch nicht mich. Am liebsten hätte ich nie wieder über dieses Thema gesprochen, doch diesen Gefallen konnten sie mir alle nicht tun.
„Dafür haben wir keine Zeit“, sagte er knapp und stand auf. Zögernd tat ich es ihm gleich und machte einen Schritt auf ihn zu. Böse schaute ich ihm in die Augen und wollte seine Reue sehen. Ich wollte, dass er wenigstens ein Mal verstand, dass er es ziemlich verbockt hatte. Auch wenn dafür keine Zeit blieb und es bei weitem nicht der richtige Ort war.
„Und was machen wir nun?”, fuhr er emotionslos fort und sah durch mich hindurch. Meine Mum und Tom standen ebenfalls auf. Immer noch versuchte sie sich zu sortieren und die Ereignisse zu verstehen. Wahrscheinlich taten wir das alle.
„Wir sollten erst Mal zu Anne gehen”, erklärte ich mürrisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Es war nicht der richtige Moment um sich wie ein Kind zu verhalten, trotzdem sträubte sich alles in mir, ihm antworten zu müssen. Warum konnte er nicht einfach aus meinem Leben verschwinden? Immer wieder gab es Probleme, große Probleme und immer nur wegen ihm.
„Muss das wirklich sein?”, stöhnte Leandro.
„Ja“, zischte ich. Hatte er jetzt auch noch Extrawünsche? Dafür war er gerade wirklich nicht in der richtigen Position.
„Hast du etwas gegen sie?“, mischte sich meine Mutter überrascht ein und legte ihren Arm auf Tomi´s Schulter, der sie immer noch mit großen Augen anstarrte.
„Gar nichts“, knurrte Leandro und blickte zu Boden. Sie war wirklich nicht meine erste Wahl und auch mir grauste es davor, länger als fünf Minuten mit ihr verbringen zu müssen, aber uns blieb nun Mal nichts anderes übrig.
„Gut“, entgegnete Mum und zusammen machten wir uns auf den Weg zum Auto. Hoffentlich war das verschont geblieben. Vorsichtig tasteten wir uns immer näher an unser Haus heran und versicherten uns, dass niemand mehr von ihnen dort war. Unerwarteter Weise waren wirklich alle Wölfe fort oder im Brand umgekommen. Zusammen hatten wir uns bis zum Auto vorgeschlagen und uns gerade niedergelassen, als mich ein Geistesblitz traf und ich ohne jegliche Erklärungen wieder aus dem Auto sprang. Ich konnte nicht ohne die Kette gehen, die mir mein Vater zum 16. Geburtstag geschenkt hatte. Sie schien das einzige zu sein was ich noch von ihm hatte und das konnte ich hier nicht zurück lassen. Doch als ich unserem Haus etwas mehr Aufmerksamkeit schenkte verstand ich, dass ich gar keine andere Wahl hatte. Das Feuer war bereits so gewachsen, dass es anfing sich bis zum Wald vor zu fressen. Ich würde das Haus nicht vermissen, die Gegend nicht und die Leute wohl auch nicht. Nur die Erinnerungen.
Die Blicke zu Boden gerichtet stieg ich wieder ein und knallte die Autotür lauter als gewollt zu. Dieses Mal wagte keiner ein Kommentar und das war auch gut so. Nichts hatte ich mitnehmen können, nichts außer Erinnerungen, die mit der Zeit immer mehr verblassen werden. Schweigend stützte ich meinen Ellenbogen am Fensterrand ab und schaute zu, wie wir uns immer mehr von den lodernden Flammen entfernten. Den kompletten Weg über schwiegen wir. Jeder versank in seinen eigenen Gedanken und das wäre ich wohl auch, wenn mein Kopf vor lauter Gedanken nicht komplett leer gewesen wäre. Es war eigenartig die ganze Zeit einfach nur vor sich hinzustarren und an nichts zu denken. Es war eigenartig und doch tat es mir gut den Kopf einfach Mal leer zu haben.
„Leandro, willst du nicht die Feuerwehr anrufen?“, unterbrach meine Mutter das Schweigen, als wir in den kleinen Gartenweg fuhren, der zu Annes Haus führen würde.
„Ich denke es ist besser wir mischen uns erst Mal nicht ein. Die Nachbarn werden das schon mitbekommen haben.“
„Da hast du wohl recht.“ Ich konnte einfach keine Gelegenheit auslassen, um ihn spüren zu lassen, wie verdammt angepisst ich war. Ich konnte und ehrlich gesagt, wollte ich auch nicht.
„Und was ist mit dem Wald? Willst du den etwa abbrennen lassen?“, mischte ich mich ein. Meine Mutter hatte weitaus andere Sorgen und ich konnte ihr nicht verübeln, dass sie darüber nicht nachdachte.
„Was juckt mich der Wald?“, meinte Leandro gleichgültig und schnallte sich ab.
„Wir kommen nach“, beschloss ich schnell und hielt Leandro an seiner Hand zurück, als er kurz davor gewesen war auszusteigen. Mit dem Knallen der Autotüren waren wir alleine und ich nutze die Gelegenheit, um ihn provozieren zu können. Es war höchste Zeit, dass er sich entschuldigte.
„Rufst du jetzt die Feuerwehr?“, drängte ich.
„Nein, habe ich dir doch eben schon erklärt.“
„Du machst es dir verdammt einfach! Du denkst nur an dich! Was ist wenn das Nachbarhaus auch Feuer fängt?“
„Der Wind weht nicht in diese Richtung“, murmelte er abwesend und spielte wohl mit dem Gedanken, einfach auszusteigen. Aus diesem Jungen würde ich wohl nie schlau werden, wie konnte man nur so gefühllos sein? Selbst mein größter Feind hätte mich in diesem Moment in den Arm nehmen wollen. Wieso kam er nie auf diese Idee? Warum stritten wir immer, wenn wir uns eigentlich brauchten? Warum funktionierten wir einfach nicht?
„Und damit willst du mir versichern, dass das andere Haus nicht brennen wird oder was?“
„Hm.“
„Gott was ist denn los mit dir?“, zischte ich und ließ mich in den Sitz fallen. Kopfschüttelnd sah ich ihn an und wartete auf eine Erklärung.
„Nichts! okay? So, dürfte ich jetzt endlich aus dem Auto steigen?“, fragte er mit einem genervten Unterton und starrte auf unsere Hände. Immer noch hatte ich seine Hand fest im Griff, hörte damit jedoch schnell wieder auf und verschränkte wütend meine Arme vor der Brust.
„Lässt du wenigstens meine Mutter nicht alles alleine regeln? Sie muss das Ganze denke ich erst Mal verarbeiten. Außerdem haben das garantiert auch irgendwelche Nachbarn mitbekommen, also sag mir wenigstens, dass du mit ihr da noch einmal hinfahren wirst. Immerhin wirst du einige Leute hypnotisieren müssen.“
„Hm“, brummte er und hörte nicht auf aus dem Fenster zu starren.
„Und was willst du meiner Mutter sagen? Und wie erklären wir das meinem Bruder?“
„Bleib doch mal ruhig. Die wissen das doch eh schon.“
„Ich soll ruhig bleiben? Willst du mich verarschen?“, schnaufte ich. Schnell kniff ich die Augen zusammen und versuchte mich zu beruhigen. Meine Emotionen drohten überzukochen und ich stand kurz davor, ihm eine zu knallen.
„Die Hypnose wird ungültig, wenn die Betroffen das verdrängte Wissen zum Überleben brauchen. Beide wissen also alles wieder.“
„Alles?“, fragte ich ungläubig und fasste mir an den Kopf.
„Ja alles, darf ich jetzt endlich aussteigen?“
„Mach doch was du willst. Von dir ist es wohl zu viel erwartet, dass du auch nur ein einziges Mal fragst wie es mir geht“, entgegnete ich enttäuscht und musste zusehen, wie er wortlos das Auto verließ. Kurz starrte ich noch vor mich hin, ehe ich mich nach draußen begab und das Auto abschloss.
Da sich der Winter so langsam näherte, hatten die Bäume bereits ihre Blätter verloren und jegliches Grün war von den Zweigen verschwunden. Eisiger Wind wehte durch die Stadt und brachte mich zum frieren. Schlürfend lief ich den Kiesweg hoch, bis zu ihrer Haustür und trat dort seufzend ein. Anne stand neben ihrer und meiner Mutter und machte einen hysterischen Aufstand. Übertrieben verzog sie ihr Gesicht beim Sprechen und gestikulierte wild in der Gegend herum. Schweigend stellte ich mich neben meinen Bruder in die Küche und verdrängte Annes hysterische Stimme.
Ich fing an mich zu fragen warum mich ihr Haus früher immer so sehr fasziniert hatte. Im Grunde war es nur ein kalter, riesiger und weißer Klotz, der eine Menge unnützer Techniken besaß. Für viele Dinge, wie das Licht, gab es spezielle Fernbedienungen. Doch wenn ich genauer darüber nachdachte, dann war das ganze nur reine Geldverschwendung und eigentlich nur zum Angeben gedacht, aber das passte ja perfekt zu Anne.
Da gaben sie Unmengen an Geld für Ernährungsplänge und Fitnesssachen aus und konnten dann nicht einmal den Weg zum Lichtschalter auf sich nehmen? Außerdem wenn son Ding mal kaputt geht, will ich nicht wissen wie teuer die Reparatur ist.
Plötzlich stand Anne vor mir und überraschte mich mit einer überschwänglichen Umarmung. Auch Leandro wurde davon nicht verschont, der sich jedoch nicht hatte zusammenreißen können und ziemlich offensichtlich mit den Augen gerollt hatte.
„Was ist denn mit euch passiert?”, fragte Anne kritisch, während sie sich von Leandro löste und arrogant an ihren Rock herum zupfte.
„Seid ihr etwa in einen Sandsturm gekommen?“, hakte ihre Mutter unterstützend nach und begann einzelne Sandkörner von den Schultern meiner Mutter zu sammeln. Während ich ihnen dabei zusah, konnte ich nicht anders, als mich selbst auch von dem Staub zu befreien und penibler Weise ein paar graue Fussel von meiner schwarzen Hose zu sortieren.
„Irgendwelche Leute müssen unser Haus angezündet haben, beziehungsweise haben sie eine Explosion verursacht. Wir können froh sein, dass wir überhaupt da raus gekommen sind“, log Leandro, ohne dabei zu stocken und brachte diese erfundene Geschichte außergewöhnlich überzeugend rüber. Aber was sollte man auch anderes von jemanden wie ihm erwarten?
„Was? Wer tut denn so etwas?“, fragte Annes Mutter ganz verblüfft und gab endlich auf, jeglichen Dreck entfernen zu wollen. Eigentlich hatte ich sie wirklich gern und im Gegensatz zu Anne, war sie sehr zuvorkommend und höflich. Gerade deswegen wunderte es mich sehr, warum Anne... so geworden war, wie sie nun mal ist. Zumindest konnte ich mir kaum vorstellen, dass sie es in dieser Familie jemals schlecht gehabt hatte.
„Keine Ahnung, aber könnten wir vielleicht einige Zeit hierbleiben? Nur so lange bis wir etwas neues gefunden haben und mit den Versicherungen alles geklärt wurde?“, fragte ich Sabine, Annes Mutter, für die unsere Unterbringung eine Selbstverständlichkeit war.
„Aber wehe ihr fasst etwas an! Wir bekommen noch Besuch, gehobenen Besuch!”, bemerkte Anne streng, wobei sie das Wort „gehoben“, ganz besonders stark betonte, als wolle sie uns verständlich machen, dass wir mit solchen Personen nie etwas zu tun haben würden. Meine Ausdauer mit irgendjemanden zu diskutieren, war an diesem Tag ganz besonders niedrig, weshalb ich es einfach auf sich beruhen ließ und ohne weitere Worte im Badezimmer verschwand.
Es interessierte mich auch nicht welche Leute kommen würden und wo die anderen untergebracht wurden. Ich freute mich einfach auf eine warme Dusche und Ruhe. Die letzte Stunde waren wir nur in Panik gewesen und hatten uns abgehetzt, sodass es mir gerade so vorkam, als wäre Duschen und Ruhe das Kostbarste auf dieser Welt.
So genoss ich also das erfrischende Wasser in vollen Zügen und ließ die vergangenen Stunden Revue passieren. Als ich endlich wieder sauber war und einen einiger Maßen klaren Kopf besaß, lief ich in das mir zugeteilte Zimmer und überlegte welche Kleidung ich nun anziehen sollte. Ich wollte nicht die gleichen, verdreckten und verstaubten Sachen anziehen, also war ich wohl gezwungen nach Anne suchen zu müssen. Und da ich keine Lust hatte mit gerade mal einem knappen Handtuch bekleidet durchs Haus zu streifen, wollte ich nach meinem Handy suchen, um sie anrufen zu können. Doch da erinnerte ich mich, dass ich es meiner Mutter hatte geben müssen, nachdem sie Wind von dieser Party und meiner Anwesenheit dort, bekommen hatte. Inständig hoffte ich nun, dass sie es Zuhause nicht eingeschlossen hatte und es in dem Feuer zugrunde gegangen war.
Wohl oder übel musste ich mich jetzt also halbnackt auf sie Suche machen und hoffen, niemanden über den Weg zu laufen. Mit nackten Füßen tappste ich nun schnell raus und suchte nach Annes Zimmer, das sich äußerlich kaum von den anderen abhob. Unsicher griff ich nach der erst besten Tür und hoffte stark, dass ich nicht in den Besuch reinplatzen würde. Unerwarteter Weise blieben mir diese Peinlichkeiten erspart und mich schaute nur Anne etwas verwundert an, die sich gerade mehrere Schichten Make- up ins Gesicht klatschte.
„Spinnst du?“, blaffte sie mich an, sprang empört auf und schlug die Tür hinter mir zu.
„Gott, was wenn dich die anderen so gesehen hätten?“
„Das wäre peinlich geworden, aber mir ist nichts andere übrig geblieben.“
„Was? Warst du etwa zu dumm, um dich selbst anziehen zu können oder was?“
„Quatsch, ich habe nur keine sauberen Sachen, also muss ich ja zwangsläufig welche von dir tragen.“ Genervt stöhnte sie auf, kam in schnellen Schritten auf mich zu und öffnete den Kleiderschrank.
„Such dir was aus und nerv mich nicht länger“, brummte sie und setzte sich wieder an ihren Schminktisch. Sie hatte so unglaublich reine Haut und beschwerte sich jedes Mal bei mir, wenn sie eine kleine Hautunreinheit hatte. Vielleicht war es doch ganz gut, dass ich mein Spiegelbild nicht mehr sehen konnte, dann würde mir wenigstens das in meinem Gesicht erspart bleiben. So wie sich Anne in meiner Gegenwart verhielt, wirkte es beinahe so, als wolle sie jemanden von ihren besonderen Gästen beeindrucken wollen. Oder sie hegte immer noch die Hoffnung etwas mit Leandro anfangen zu können, aber wenn sie das tun würde, wenn sie das beide tun würden, dann gäbe es nichts mehr was mich davon abhalten könnte, ihn und sie aus meinem Leben zu kicken.
Auch wenn ich zwischendurch das Gefühl gehabt hatte ihn langsam vergessen zu können, so kam es an diesem und den folgenden Tagen fast doppelt zurück. Tatsächlich machte ich mir Sorgen darüber, dass zwischen ihm und ihr etwas laufen könnte und das obwohl ich wusste, dass er sie nicht ausstehen konnte. Mit seiner Art verunsicherte er mich von Tag zu Tag mehr, sodass ich mir mittlerweile kaum noch vorstellen konnte, wie ich mir bei ihm in irgendeiner Weise sicher sein könnte.
Da ich nicht geplant hatte, heute das Haus verlassen zu müssen, suchte ich mir bequeme Gammelsachen raus und hoffte heute niemanden mehr über den Weg laufen zu müssen. Bevor sie etwas merken würde stapelte ich alle Sachen und verschwand schnell aus dem Zimmer. Auch dieses Mal blieb ich von fremden und bekannten Gesichtern verschont, wodurch ich erleichtert im Zimmer ankam und das verrutschte Handtuch einfach zu Boden fallen lassen konnte.
Ich war gerade dabei in dem Klamottenhaufen vor mir nach dem BH zu suchen, da öffnete sich die Tür hinter mir und Leandro trat ohne Vorwarnung ein. Kurz schrie ich auf und versuchte mit den nackten Armen meine Brüste zu verdecken.
„Verschwinde!“, rief ich empört. Wahrscheinlich hätte ich mich glücklich schätzen sollen, dass ich bereits meine Unterhose und Hose anhatte, dann war das Ganze nicht allzu peinlich,... hoffte ich jedenfalls. Verdutzt stand er im Türrahmen und konnte seine Augen nicht von meinem Oberkörper nehmen. Er regte sich kein Stück und starrte mich nur noch an.
„Geht`s noch? Verpiss dich!“, zischte ich zunehmend fassungslos und griff schließlich nach einer Packung Taschentücher, die auf dem Boden gelegen hatte, um ihn abzuwerfen. Es fühlte sich wie eine Ewigkeit an, bis er endlich zu sich kam, sich umdrehte und aus dem Zimmer verschwand. Schnell lief ich zur Tür, schloss sie ab und zog mir die fehlenden Teile an. Nachdem die unangenehme Hitze aus meinem Gesicht verschwunden war und ich meine Haare einigermaßen gebändigt hatte, machte ich die Tür wieder auf und sprach ihn unfreundlich an:
„Was wolltest du?“
„Ich?... ähm“, zögernd verstummte er und versuchte seinen Blick wieder auf meine Augen zu richten. Hatte er mir eben etwa noch mal auf die Brüste gestarrt? Typisch Junge.
„Ähm... Anne meinte wir sollen uns das Zimmer teilen, da-.. da-...mit deine Mutter und dein Bruder ein eigenes Zimmer haben“, stotterte er, während eine leichte Röte in sein Gesicht stieg.
„Das ist ein Scherz oder?“, fluchte ich.
„Wenn du dir lieber das Zimmer mit deinem Bruder teilen möchtest, dann bitteschön. Ich denke jedenfalls, dass deine Mutter erst einmal etwas Ruhe braucht, ich glaube sie muss einige Dinge vorerst mit sich selbst ausmachen“, antwortete er, als er sich langsam wieder gefangen hatte und verfiel in seinen alten Tonfall, bei dem er das Gefühl hatte mich über alles belehren zu müssen. Seufzend nickte ich und ließ ihn schließlich widerwillig eintreten.
Ich wollte mein Zimmer einfach nicht mit ihm teilen. Warum konnte er sich nicht ein Zimmer mit meinem Bruder teilen? Offiziell waren sie schließlich auch Geschwister.
„Und wie sieht unser Plan aus?“, fragte er unentschlossen und setzte sich in einen Sessel, gegenüber des Bettes auf dem ich es mir bequem gemacht hatte. Das Zimmer war kalt und leer. Natürlich es war modern, aber die Gemütlichkeit fehlte und die liebevolle Einrichtung.
„Was willst du denn planen?“, fragte ich verwirrt und lehnte mich an die Wand.
„Na ja, zunächst sollte der ganze Papierkram erledigt werden oder nicht?“, merkte er an und zog sich die Socken aus.
„Ich glaube vor dem Papierkram hast du ganz andere Sachen zu regeln“, entgegnete ich unfreundlich und verschränkte die Arme vor der Brust, während ich ihn musterte.
„Ich weiß schon worauf du hinaus willst. Ich soll zurückfahren und die Verwirrungen klären oder?“
„Ja.“
„Und dann müssen wir uns nach etwas neuem umsehen.“
„Ja, nur nicht mehr heute.“
„Okay“, antwortete er knapp, ohne Widersprüche. Erstaunt sah ich ihn an. Es war für ihn okay erst morgen zu suchen. Hätte er nicht 100 Einwände haben müssen? Mir widersprechen wollen? Vielleicht nahm ihn die ganze Sachen doch mehr mit, als er zugeben mochte?
„Fährst du jetzt noch los?“, fragte ich in die gerade entstandene Stille hinein, da ich vermutete er würde diese Aufgabe nur unnötig lange aufschieben wollen.
„Ja. Ich will nur schnell unter die Dusche“, warf er ein und verschwand aus dem Zimmer. Erschöpft ließ ich mich ins Bett fallen und starrte einfach nur die Decke an. Meine Augen wanderten zur Uhrzeit, die in roserner Farbe an die Decke gestrahlt wurde. Und mit einem Mal saß ich wieder im Bett und sprang noch in der gleichen Sekunde auf. Es war bereits 17 Uhr und Mia war noch immer im Kindergarten.
Ich wollte gerade durch die Tür stürmen, da streifte mich ein bekannter Hauch am Nacken und verursachte eine gewaltige Gänsehaut auf meinem Körper.
„Lynn!“, rief ich erleichtert sie wieder zu sehen und konnte mein Glück kaum fassen. Auch wenn ich nicht an sie gedacht hatte, so war ich nun umso erleichterter, sie wiedersehen zu können. Vielleicht aber war es auch nur mein schlechtes Gewissen, was diese Euphorie in mir hervorrief. Ich hatte die ganze Zeit keine Sekunde mehr an sie gedacht. Ob sie das wusste? Ich nahm mir vor nicht länger darüber nachzudenken, immerhin hatten sich die Ereignisse überschlagen und man konnte mir kaum einen Vorwurf machen, nicht an sie gedacht zu haben.
„Verdammt nochmal, klopf das nächste Mal endlich an!”, maulte ich sie voreilig an und verschränkte die Arme vor der Brust. Eigentlich hatte ich es nicht böse gemeint, aber die Worte waren härter und strenger als gewollt, aus meinem Mund gekommen.
„Sorry”, murmelte sie leise. Beschämt starrte sie zu Boden und traute sich nicht einmal mir in die Augen zu sehen.
„So war es auch nicht gemeint, ich... bin froh dich zu sehen“, antwortete ich versöhnend und machte einen Schritt auf sie zu.
„Es... es tut mir ja so Leid,... ich wollte dir Bescheid sagen... wirklich, aber dann stand plötzlich dieser eine Geist vor mir und... ja er hat mich einfach umgehauen.” Verwundert zog ich eine Augenbraue hoch. Ich hatte es gesehen, ich hatte ihre Angst gespürt und trotzdem fühlte ich in diesem Moment keinen Funken von Mitleid. Auch keine Wut, ich fühlte einfach nichts.
„Dich hat also ein Geist umgebracht?“
„Ja“, brummte sie verlegen und schaute weiterhin zu Boden, als hätte sie die Befürchtung, dass ich ihr nicht glauben würde.
„Ich will ja nicht unhöflich sein, aber ich muss dringend los. Die Kita macht in einer halben Stunde zu und ich muss zu Fuß gehen.“
„Tut mir Leid,... ich wollte nicht stören, aber... ach egal”, fing sie an, verstummte schnell wieder und verschwand genauso schnell, wie sie gekommen war. Beim nächsten Mal würde ich ihr aufmerksamer zuhören, aber jetzt hatte ich einfach keinen Kopf dafür. Kurz starrte ich noch an die Stelle wo Lynn gestanden hatte, bis ich mich zusammenriss und mich auf den Weg machte.
Gestresst platze ich ins Wohnzimmer und fragte nach meiner Mutter. Anne war sichtlich schockiert, dass ich es doch tatsächlich gewagt hatte einfach so reinzuplatzen, ohne nach ihrer Erlaubnis gefragt zu haben, aber das war mir egal. Und natürlich war mir dieser gut aussehende Franzose, neben ihr, nicht entgangen. Seine braunen, wilden Locken und die grünen Augen hatten sie mit Sicherheit in den Bann gezogen und sein Akzent würde sie alle Male dahin schmelzen lassen, aber das war auch gut so. Dann würde sie sich endlich Leandro und vielleicht auch Louis, aus dem Kopf schlagen.
Mit meiner Mum machte ich aus, dass ich Mia abholen und sie mit Tom, ins Bett bringen würde. Zusammen mit Leandro war meine Mutter wieder losgefahren und versuchte einige Sachen zu klären. Es war gut, dass ich viel zu tun hatte, auch wenn ich müde war und am liebsten direkt ins Bett gefallen wäre. Aber auf diese Weise konnte ich den aufkommenden Hunger noch eine Weile verdrängen.
Unterwegs traf ich auf meinen Ex- Freund, Tobi. Eigentlich hätte ich dort mit ihm reden sollen, einige Dinge aus der Welt schaffen müssen, aber dafür hatte ich keine Zeit. Keine Zeit und Lust. Klar ich hatte einige Zeit meines Lebens mit ihm verbracht und wahrscheinlich war ich ihm noch so einiges schuldig, aber momentan hatte ich dafür einfach keinen Nerv. Viel zu viele Gedanken schwirrten in meinem Kopf herum, als das ich mich auch noch mit seiner Verletztheit hätte rumschlagen können.