Die Wochen vergingen, wie im Fluge und schon stand der erste Schultag vor der Tür. Meine Motivation hielt sich in Grenzen, aber ich kannte Lucas und das machte die Sache etwas einfacherer. Weihnachten und Neujahr hatten wir kaum gefeiert, es gab einfach nichts zum feiern. In diesen Wochen hatte ich extrem gespürt, wie Leandro und ich, uns immer weiter von einander entfernten. Und ich war mir nicht einmal sicher, was ich davon denken sollte. Ich war es leid, ihm hinterher zu rennen, das war ich wirklich. Klar, ich hätte auf ihn zugehen können, ihn fragen sollen, was mit ihm nicht stimmte, aber ich wollte nicht. Ich weiß nicht, ob es meine Sturheit war oder die Angst der Abweisung.
Die Nächte hatte ich allesamt bei Lucas verbracht und mithilfe seine Therapie, konnte ich meine Gefühle mehr und mehr unter Kontrolle behalten. Nur noch selten fuhr ich aus der Haut oder verlor die Fassung und wenn ich es doch tat, dann nur, weil ich diese Provokationen nicht mehr aushielt. Die Situation zuhause hatte sich nicht wirklich gebessert, aber das war okay. Ich verbrachte nicht mehr viel Zeit dort. Eher hing ich mit Lucas ab und zog mir tausend Filme mit ihm rein. Bei ihm war ich entspannt und ich wusste, dass ich mit ihm über alles reden konnte. Das tat ich auch, nach und nach, obwohl ich über Leandro kaum ein Wort verloren hatte. Und das hatte Lucas auch so langsam akzeptiert. Komisch, dass ich mit Lucas lieber über meinen Vater und meine Schwester redete. Vielleicht hatte ich Angst davor, wie er über Leandro denken würde, was er mir raten würde. Und das sein Rat, vielleicht sogar richtig wäre.
Nach Leandro´s Zuneigung sehnte ich mich von Tag zu Tag mehr, aber ich wollte nicht danach fragen. Ich wollte nicht den ersten Schritt machen. Das musste er tun und wenn er es nicht tat, dann müsste ich wohl damit leben. Trotzdem hatte ich mir keinen Fehler mit Lucas erlaubt. So viel Vernunft hatte ich schließlich noch. Mit Lucas verstand ich mich immer besser und hatte langsam das Gefühl, als würden wir uns schon ein ganzes Leben lang kennen. Er hatte mir eine Menge über ein Mädchen erzählt, was er kennengelernt hatte und ich fing langsam an zu glauben, dass auch er bald nicht mehr Single sein würde. Zugegebener Maßen hatte ich in den letzten Tagen doch etwas über Leandro ausgeplaudert. Auch, wenn ich das eigentlich gar nicht gewollt hatte. Na ja, viel mehr über ihn und mich. Lucas hatte so viel von diesem Mädchen erzählt und er wirkte irgendwie glücklich dabei, dass ich darauf langsam neidisch wurde. Ich freute mich für ihn, natürlich, aber ich wollte mich auch wieder so freuen, wenn ich über Leandro sprach. Lucas hatte mir einige Tipps gegeben und mir immer wieder gesagt, dass ich mit ihm reden müsste, doch natürlich war ich zu stur dafür gewesen.
Leandro hatte schon lange aufgehört mich zu küssen. Er nahm mich nicht mehr in den Arm und getrennt schliefen wir sowieso. Nachts war er genauso lange weg, wie ich und deshalb kamen wir kaum noch ins Gespräch. Doch so richtig bemerkte ich es erst jetzt. Lucas hatte mich alle die Zeit über abgelenkt und dafür war ich dankbar. Doch umso mehr er über dieses Mädchen erzählte, desto mehr verstand ich, wie schlimm es wieder zwischen Leandro und mir geworden war. Ich fing wieder an darüber nachzudenken, was der Grund dafür war. Hatte ich mich entfernt oder war er derjenige gewesen? Ich hatte nie einen Kuss von ihm abgewiesen, aber ich hatte ihm auch kaum einen Kuss von mir aus gegeben. Vielleicht waren wir beide daran schuld, aber ich hatte Angst ihn darauf anzusprechen. Nicht zu wissen, wie er dachte und was er vorhaben könnte, war irgendwie doch besser, als es die Antwort wäre, dass er das beenden würde. Das redete ich mir jedenfalls ein.
Das begonnene Gespräch mit meiner Mutter hatten wir nie beendet, trotzdem kam ich im Allgemeinen gut mit ihr klar. Ich ignorierte ihre Vorwürfe so gut es ging und versuchte mich ihren Wünschen anzupassen. Trotzdem konnte ich diesen einen Vorwurf nie komplett vergessen. Sie sprach es nicht einmal aus, aber in ihrem Unterton und wie sie redete, wusste ich genau, dass sie mich für den Tod von Mia verantwortlich machte. Vielleicht war genau das der Grund, warum sie mich nie fragte, wie es mir ging. Aber das konnte keiner in diesem Haus. Leandro interessierte es ja nicht mal, wo ich mich die ganze Nacht aufhielt und anscheinend fiel es ihm auch nicht auf, dass wir schon längst keine Beziehung mehr führten. Aber das musste sich ändern. Irgendwie. Lange würde ich das nicht mehr aushalten. Ich beschloss ihn darauf anzusprechen, Morgen, wenn er nur mich haben würde und nicht das, was er die ganze Nacht machte. Inständig hoffte ich, dass wir uns zusammenreißen könnten und versuchte krampfhaft den Gedanken aus meinem Kopf zu verbannen, dass er sich heimlich mit Laureen traf. Morgen würde ich ihn zur Rede stellen! Das musste ich.
„Essen!“, brüllte meine Mum, während ich mich gerade setzen wollte. Erschrocken fuhr ich zusammen und fasste an meine Ohren, um sie mir zuzuhalten.
„Danke, jetzt bin ich taub“, meckerte ich mit einem kleinen Grinsen auf den Lippen und versuchte sie damit auf andere Gedanken zu bringen. Doch als Dank erntete ich nur strafende Blicke.
„Lass die Witze, sie sind unpassend und setz dich jetzt!“ Damit nahm sie den letzten Teller aus dem Schrank und stellte ihn auf ihren Platz. Es war das erste gemeinsame Essen seit Wochen und eigenartiger Weise freute ich mich darauf, obwohl ich natürlich keinen Hunger hatte. Der Tisch war einfach gedeckt, etwas Brot, Belag und einen frischen Salat, aber es reichte. Nachdem sie alles zurecht gerückt hatte, setzte sie sich mir gegenüber und fing an die Milch zu verteilen. Gähnend kam Leandro die Treppe runter getrottet und setzte sich auf die linke Seite von ihr, während er mir erwartungsvolle Blicke zuwarf. Ich runzelte jedoch nur die Stirn und nahm mir schon ein Brot.
„Heute Abend bleibt ihr im Haus, nur damit das klar ist!“, fing Mum bestimmend an und musterte uns beide streng. Stumm nickte ich nur, da ich sowieso nichts anderes vor hatte und schaufelte mir etwas Salat auf den Teller. Mit Lucas war ich jetzt jeden Nachmittag verabredet, das passte und einfach uns besser. Meine Mutter hatte schließlich Recht, für die Schule müsste ich ausgeruht und vorbereitet sein. Schließlich wollte ich einen guten Abschluss, ohne dabei zu schummeln. Meine Einstellung hatte sich nicht geändert, ich wollte meine Kräfte nur nutzen, wenn ich sie wirklich brauchte, wenn sie notwendig waren. Immerhin wollten wir wie Menschen leben, also mussten wir uns auch so benehmen. Mittlerweile hatte ich mich auf fünf Blutbeutel, am Tag, beschränkt. Es war immer noch eine Menge und zu viel, aber ich brauchte es und Lucas meinte, dass ich mich gut schlagen würde.
Tomi kam mit riesigen Gepolter die Treppe runter marschiert und setzte sich Leandro gegenüber.
Für mich war das Thema gegessen, wo wir uns heute Abend aufhalten durften, nur Leandro schien damit ein Problem zu haben, weswegen er sich äußerst stur stellte und meiner Mutter widersprach:
„Ich kann ja wohl selbst entscheiden, wann und wo, ich hingehe. Und für Alex gilt das Gleiche, wir sind schließlich alt genug.“ Bevor meine Mum eine Rede schwingen konnte, meldete ich mich schnell zu Wort, um meine Position klarstellen zu können. Ich hasste es nämlich, wenn Dinge über meinen Kopf hinweg besprochen wurden. Und vor allem dann, wenn ich mich gleichen Raum befand.
„Ich hatte gar nicht vor heute Abend weg zu gehen.“
„Es ist mein Haus und solange ihr hier lebt, haltet ihr euch gefälligst an meine Regeln, ansonsten müsst ihr eben ausziehen.“ Mir war klar gewesen, dass sie mit diesem Argument kommen würde. Sie tat es ständig und ehrlich gesagt hatte sie damit auch Recht. Da konnte ich nur hoffen, dass sich Leandro an die Regeln halten würde.
„Was für`n Kindergarten“, brummte er und schmierte die Butter mit zu viel Kraft auf sein Brot, sodass es nun durchlöchert war. Das Schweigen zwischen uns hielt nicht lange an, denn Tomi ergriff das Wort und berichtete von irgendwelchen Abenteuern, die er teils erlebt hatte und die teils seiner Fantasie entsprangen.
Ich lauschte ihm nicht, trotzdem genoss ich seine Gegenwart und das wenigstens er lächeln durfte. Meine Mutter reagierte beinahe allergisch, wenn ich zu lächeln anfing und strafte mich jedes einzelne Mal, mit finsteren Blicken. In ihrer Gegenwart durfte ich einfach nicht fröhlich sein. Ich fand es unsinnig, denn glücklich zu sein, hieß ja noch lange nicht, dass ich Mia vergessen hatte, aber einen Streit wollte ich deswegen auch nicht anfangen. Tomi redete und redete, während das Essen auf seinem Teller kaum weniger wurde. Doch anstatt sich über die Leichtigkeit von ihm zu freuen, verzog meine Mum das Gesicht und blickte bitter drein. Leandro machte es nicht anders, nur hielt er es nicht für notwendig, das loszuwerden, was ihm so sehr auf der Seele brannte.
„Was ist nur los mit euch? Mia ist tot und ihr könnt lachen? Ihr tut so, als hätte sie nie existiert, keiner redet über sie oder nimmt nur ihren Namen in den Mund. Ist sie euch völlig egal geworden? Ist sie überhaupt ein Verlust für euch?” Sie schaute in die Runde, wobei ihre Blicke vor allem an mir kleben blieben. Alle schwiegen und keiner wagte sich ein Wort zu sagen.
Tomi´s Blick war wie versteinert, die Hypnose hatte ihre Kraft verloren, er erinnerte sich wieder an alles. Leandro wirkte eher abweisend, als eingeschüchtert. Worum seine Gedanken wohl grade schweiften? Um Lynn? Dem Vorwurf, seinem Vater nicht geglaubt zu haben? Laureen?Die Stille machte mich fast wahnsinnig. Alle starten sie gebannt auf ihre Teller und nur das Klirren der Gabel war zu Hören. Es war so ungewöhnlich leise, dass ich zum ersten Mal, das Ticken der Küchenuhr, wahrnahm. Mum´s Vorwürfe an uns alle wollte und konnte ich nicht länger auf mir sitzen lassen. Sie hätte sich zusammenreißen müssen, für meinen Bruder.
„Nein Mum, wir haben sie nicht vergessen und das werden...” Ich schluckte und verstummte für einen Moment. Beide sprachen wir in der Mehrzahl, dabei wussten wir wohl beide, dass diese Vorwürfe nur für mich bestimmt waren. Tomi war aus der Sache raus und Leandro hatte sie kaum gekannt. Ich wollte nicht über sie reden. Ich wollte sie nicht vergessen, ich wollte aber auch nicht an sie denken. Zwar hatte das regelmäßige Blut gute Arbeit geleistet, trotzdem kamen mir manchmal immer noch die Tränen und jetzt, wo ich vor allen reden sollte, über sie, meine tote Schwester, merkte ich, wie sehr es immer noch weh tat.
„Wir versuchen doch nur unser Leben weiter zu leben, was uns nicht gelingt. Jede freie Sekunde denke ich an sie, aber ich will nicht an sie denken. Das heißt nicht, dass ich sie vergessen will, ich möchte nur nicht an diesen Schmerz erinnert werden und deswegen lache ich. Glaubst du nicht, dass wir alle in unseren Betten liegen, die Decke anstarren und uns fragen warum? Uns fragen, ob wir ihr hätten helfen können? Ob es nicht unsere Schuld war? Ich weiß, dass gerade sie noch so viel vor sich hatte. Sie noch so unschuldig war. Doch wenn ich versuche zu lachen, dann findet der Gedanke an sie keinen Platz. Die Tränen. Wenn ich zum Lachen gebracht werde, bin ich dankbar. Ich will nicht mehr traurig sein, was bringt das Mia? Es bringt sie nicht zurück und es macht den Ort nicht schöner, wo auch immer sie ist.” Meine Worte verstummten und jetzt gab es wieder nur die Stille. Das Klirren hatte aufgehört und nun stach das Ticken der Uhr ganz besonders hervor. Alle starrten sie nur auf ihre Teller, während ich gespannt auf eine Antwort wartete.
Doch bevor sie antworten konnte, fiel Tomi die Gabel aus der Hand, er sprang vom Stuhl auf und rannte mit Tränen in den Augen, die Treppe nach oben. Spätestens jetzt erinnerte er sich wieder an sie.
„Super Alexandra, wegen dir erinnert er sich wieder! Wir sind hier fertig, räum` auf!”, befahl sie mir wütend und stand auf. Weder Leandro, noch ich, waren fertig mit dem Essen gewesen, aber das interessierte sie nicht länger. Erschrocken von ihren Worten und den weiteren Vorwürfen, schüttelte ich den Kopf und stand ebenfalls auf. Auf einmal merkte ich wie eine unglaubliche Wut in mir hoch kam. Sie brodelte tief in mir und ich sah es nicht ein, sie dort zu lassen. Meine Mum machte mich so unheimlich wütend und es war längst an der Zeit, dass ich mich gegen ihre Befehle sträubte. Meiner Wut ließ ich freien Lauf, ich wollte schreien und irgendetwas kaputt machen. Ja ich verspürte sogar das Verlangen jemandem weh zu tun. Was dachte sie sich auch?
„Nein, ich werde nicht aufräumen“, sagte ich trotzig, stellte mich ihr gegenüber und verschränkte abwehrend die Arme vor der Brust.
„Was soll das? Nimm jetzt die Sachen und hilf mir!“ Ich spürte, wie auch ihre Stimme mit immer mehr Wut gefüllt wurde. Ich wollte sie so richtig wütend machen, sie sollte schreien vor Wut!
„Nein!“
„Alexandra, ich sag es dir nicht zwei Mal!“
„Was willst du sonst tun, hm? Hausarrest? Sicher nicht! Ich bin viel stärker als du und so was lasse ich mir garantiert nicht bieten.“ Schnell spürte ich, wie sich ein leichtes Lächeln auf meine Lippen legte und ich wusste, dass ich siegen würde.
„Das ist kindisch, aber du hast Recht, zwingen kann ich dich nicht, dann frag ich eben Leandro.“ Sie schaute zu ihm und forderte ihn mit hochgezogenen Augenbrauen auf, ihr gefälligst zu helfen. Zögernd stand er auf, gesellte sich jedoch zu mir, da er wohl wusste, dass ich es dabei nicht belassen würde.
„Na sag schon. Sag laut was du wirklich denkst!“
„Ich weiß nicht wovon du redest.“
„Ich kenne deine Gedanken ganz genau, deine Anschuldigungen. Denkst du etwa ich hätte die Vorwürfe, mir gegenüber, in deiner Stimme nicht bemerkt?“
„Alex, lass es“, bat mich Leandro besorgt und legte seine Hand schützend auf meine Schulter. Jetzt auf ein Mal war er da? Jetzt konnte er mit mir reden? Nicht mit mir! Arrogant schubste ich seine Hand von meiner Schulter und fuhr mir durchs Haar.
„Du hast mir gar nichts zu sagen, ich interessiere dich doch n Scheißdreck.“
„Was redest du da?“
„Du weißt genau, wovon ich rede! Tue nicht so, als hättest du keine Ahnung. Hast du mich ein Mal gefragt, wo ich die Nacht war? Bei...“ Mein Atem stockte und ich verstummte wieder. Beinahe hätte ich mich verraten und jemand Aufmerksames hätte wohl möglich raus hören können, dass ich etwas verheimlichen wollte. Nur er merkte es nicht, er, der es eigentlich mitbekommen sollte. Das ich mich jeden Tag mit Lucas traf, tat ich nicht nur, um stärker zu werden, ich wollte auch Leandro´s Aufmerksamkeit bekommen. Ich wollte endlich wieder das Gefühl haben, dass er sich um mich sorgt und sich für mich interessiert. Ich musste ja nicht der Mittelpunkt seines Lebens sein, aber etwas Aufmerksamkeit würde nicht schaden.
„Das hast du genauso wenig bei mir gemacht.“ Seine Worte waren kalt und herzlos. Genau in diesem Moment wurde mir klar, dass sich daraus mal wieder ein Streit, mit ewig langer schlechter Laune, ergeben würde und ich fing an mich zu fragen, wann wir uns so aus den Augen verloren hatten. Wann wir uns so von einander entfernt hatten, obwohl wir zusammen lebten. Seine Augen waren abweisend, irgendwie gekränkt und sie wirkten nicht so, als wolle er sich mit mir vertragen. Ich beschloss diese Diskussion zu verschieben und später mit ihm alleine führen zu können, weshalb ich mich erst mal wieder auf meine Mutter konzentrierte:
„Wie auch immer, aber ich will, dass Mum es endlich ausspricht.“
„Ich habe keine Ahnung wo von du redest und ich denke du verschwendest meine Zeit“, sagte sie beinahe genervt und räumte den ersten Teller in die Spülmaschine. Ich wollte sie nicht davon kommen lassen und wollte, dass sie mir endlich ihre Gedanken und Vorwürfe an den Kopf werfen würde, die sie sich nicht traute auszusprechen. Warum? Das wusste ich selbst nicht genau, es war eher ein Gefühl von dem ich mich leiten ließ. Ich wollte Streit, ja ich wollte sogar, dass wir uns so richtig anschreien würden. Ihre Vorwürfe hatte ich viel zu lange ignoriert, ich hatte mich in den letzten Wochen nie beklagt oder gesagt was mich störte, vielleicht war das der Grund, warum ich so auf Streit aus war. Egal wie lange man versuchte irgendwelche Gefühle zu verdrängen, irgendwann kamen sie doch und überrannten einen. Ob man wollte oder nicht.
„Na sag schon, dass du mir die Schuld an Mia´s Tod gibst!“ Ihre Miene wurde plötzlich bitter böse und sie nahm eine abwehrende Haltung ein. Sie kniff die Augen fest zusammen, sodass sich wütende Falten auf ihrer Stirn bildeten. Ihr Blick wurde leer, zugleich aber so strafend, dass ich fast anfing zu glauben, Blicke könnten doch töten. Angst machte sie mir trotzdem keine.
„Das hab ich nie gesagt.“
„Nein, aber gedacht.“ Unsicher blickte sie mich an und überlegte wohl möglich, ob ich ihre Gedanken gelesen hatte. Umso mehr Zeit verging, desto unruhiger wurde sie und schon allein ihr Blick reichte mir, um zu wissen, dass ich mit meiner Vermutung Recht hatte. Sie gab mir tatsächlich die Schuld an Mia´s Tod. Ich hatte mir geschworen, dass ihre Gedanken immer bei ihr bleiben sollten. Früher konnte ich sie schließlich auch nicht lesen, aber jetzt fragte ich mich, was noch so in ihrem Kopf vor sich ging, welche Vorwürfe sie mir wohl noch machte.
„Hör auf mir so etwas zu unterstellen! Das tut weh, wirklich. Hilf mir jetzt lieber!“
„Ich werd dir ganz bestimmt nicht helfen. Ich kann es nicht fassen, dass du mir solche Vorwürfe machst, auch wenn du sie nie ausgesprochen hast. Dich mache ich ja schließlich auch nicht für ihren Tod verantwortlich!“ Es stimmte, ich hatte nicht ein Mal dran gedacht, ihr die Schuld dafür zu geben, aber wenn ich sie so sah und ihren erschrockenen Blick, als hätte ich sie beim Klauen erwischt, dann wurde mir immer klarer, dass sich dieser Gedanke in ihrem Kopf fest gebrannt hatte und sie niemand anderen die Schuld dafür geben wollte.
Auf meine Worte fiel ihr nichts besseres ein, weshalb sie nur benommen zu Boden starrte und schwieg. Aber ihr Schweigen verriet nur umso mehr, wie Recht ich doch hatte.
„Mum weißt du was? Ich hasse dich! Dafür hasse ich dich wirklich!“ Beim letzten Wort war meine Wut einfach verschwunden. Trotzdem spürte ich keine Reue für meine Worte. Mum´s Miene wirkte wie versteinert. Ihr Blick starr und böse. Leandro und sie starrten mich beide gleichermaßen fassungslos an und es wirkte beinahe so, als würden sie mich jede Sekunde fragen, wie ich es nur wagen konnte, meine Stimme gegen sie zu erheben. Die Situation wurde immer unangenehmer, desto länger wir schwiegen, also lief ich ohne ein weiteres Wort davon. Schnell suchte ich mir bequeme Sachen zusammen und verschwand dann im Badezimmer, bevor Leandro mich zur Rede stellen konnte. Ich wusste genau, dass er es vor hatte und ich würde mich dem stellen müssen und auch wollen, nur nicht jetzt. Denn ich spürte, wie ich wieder schwächer geworden war und einzelne Tränen meine Augen füllten. Doch sie blieben nicht lange dort, schnell blinzelte ich sie weg und versuchte diesen Streit und alle damit verbundenen Sorgen, zu vergessen.
Flink zog ich meine Kleidung aus, warf sie unachtsam in eine Ecke und verschwand schließlich in der Dusche. Immer noch musste ich eine Menge Wasser ablaufen lassen, bevor Klares auf den weißen Boden, der Dusche, fiel. Eigenartiger Weise fror ich, weswegen ich den Hahn etwas wärmer drehte und versuchte dem kalten Wasser auszuweichen, bis das Warme endlich nachrücken würde. Immer wieder verstellte sich das Wasser von ganz alleine, manchmal wurde es zu heiß und dann eiskalt. Dieses Spielchen hatte ich schon so einiges Mal erlebt und schob es auf die alten Rohre und meine Mum, die den Wasserhahn in der Küche benutzte. Doch heute war es besonders auffällig oft. Die Abstände wurden kürzer und die Temperaturen immer extremer.
Während ich das letzte bisschen Schaum aus meinen Haaren spülte, hörte ich, wie sich der Wasserhahn drehte und in kurzer Zeit wurde das Wasser dampfend heiß. Ich schrie auf, da ein paar heiße Tropfen meinen Rücken gestreift hatten. Schnell griff ich nach dem Hahn und wollte das Wasser wieder kühler stellen, doch er regte sich kein bisschen. Verzweifelt versuchte ich ihn abzustellen, doch auch das funktionierte nicht. Das Wasser wurde immer heißer und in der engen Dusche schien es gar unmöglich zu sein, den heißen Strahlen ausweichen zu können. Das komplette Zimmer war mittlerweile vor lauter Hitze, neblig geworden und ich bildete mir ein, dass die Luft immer knapper wurde.
Bei dem Versuch aus der Dusche zu steigen, traf mich das Wasser auf dem ganzen Rücken und entlockte mir einen schrillen Schrei, den ich gar nicht von mir geben wollte. Die Tür klemmte, sperrte mich ein und nahm mir jegliche Luft zum Atmen. Ich merkte, wie mir langsam schwindlig wurde und mich das Gefühl überkam, sitzen zu wollen. Doch das konnte ich nicht, also nahm ich einen weiteren Anlauf, versuchte die Tür zu öffnen und als sich immer noch nichts tun wollte, fing ich an panisch gegen die Scheibe zu hämmern. Vergebens versuchte ich das Brennen auf meinem Rücken zu ignorieren und mir einzureden, dass mich jemand hören könnte, mir helfen würde.
Meine Schreie wurden immer energischer und panischer, trotzdem eilte mir niemand zur Hilfe. Erschöpft lehnte ich mich wieder gegen die angenehm, kalte Wand und war froh, für einen Moment nicht das heiße Wasser auf meinem Rücken fühlen zu müssen. Doch plötzlich spürte ich Stiche an meinen Armen, die sich in wenigen Sekunden zu unaushaltbaren Schmerzen verwandelten. Meine Handgelenke waren von tiefen Schnitten bedeckt und nun rann das Blut meine Hände hinunter. Die eben verstummten Schreie wurden wieder hörbar, nur waren sie heiser und leise geworden. Vor Angst war meine Stimme beinahe komplett verschwunden und meine Kehle fing an sich zuzuschnüren. Tränen schossen mir erst jetzt in die Augen, während ich gebannt zu sah, wie sich das Blut mit dem Wasser vermischte. Bedrohlich floss es den Abfluss entgegen und wäre ich nicht so abhängig von Blut, hätte ich mich wahrscheinlich übergeben müssen.