„Warum habt ihr mich nicht geweckt? Es ist kurz vor acht“, fragte ich gehetzt und wollte mir den Wintermantel überziehen.
„Du wirst heute nicht zur Schule gehen“, antwortete Mum gelassen und rückte etwas zur Seite, damit ich mich zu ihnen auf die Couch setzten könnte. Zögernd ließ ich meine Tasche zu Boden sinken und hing den Mantel wieder an. Unsicher lief ich auf die Drei zu und setzte mich neben Leandro. Tomi, Mum und Leandro musterten mich, doch wollten sie mir nicht verraten, was passiert war. Wieso sollte ich nicht zur Schule gehen?
„Warum?“
„Sie wollen dich verhören. Sie haben die Überwachungskamera einer Tankstelle geprüft und du warst die letzte Person, die den Laden betreten hat, bevor die Kameras ausgefallen sind. Bevor dort zwei Menschen umgebracht wurden.“ Mum´s Worte waren wie ein Schlag ins Gesicht. Hatte ich vielleicht sogar eine Kamera übersehen? Was sollte ich jetzt tun? Was sollte ich den Beamten sagen? Was sollten wir jetzt machen? Würden sie wieder wegziehen wollen? Weg aus Hamburg? Nein, ich konnte nicht schon wieder umziehen. Ich wollte hier nicht weg. Ich hatte endlich Freunde gefunden, wahre Freunde. Leandro könnte mir da doch raushelfen oder? Er müsste nur ein paar Menschen manipulieren und schon wäre die Sache geregelt, richtig?
„Und jetzt? Was wollt ihr jetzt machen?“, fragte ich fast vorwurfsvoll und presste meinen Rücken immer enger gegen das kalte Leder der Couch.
„Wir müssen hier weg. So schnell es geht. Die Sache ist längst zu groß geworden. Sie werden bald vor unserer Tür stehen und Fragen stellen, die du nicht beantworten kannst. Der Einsatz ist viel zu groß, als dass ihn Leandro regeln könnte. Wir müssen untertauchen. Deine DNA ist am Tatort und wenn sie die untersuchen, werden sie noch viel mehr Fragen stellen.“
„Ihr wollt von hier verschwinden? Schon wieder? Ihr wollt weglaufen? Ohne mich! Von mir aus lass ich mir die Haare schwarz färben und mach mir einen gefälschten Ausweis, aber ich renne nicht schon wieder davon!“, sagte ich entschlossen und versuchte das Ganze zu begreifen. So langsam verstand ich, dass ich gestern zwei Menschen und einen Hexer umgebracht hatte. Ich hatte drei Personen das Leben genommen. Ich ganz allein. Noch gestern hatte ich mich frei gefühlt, mir war alles egal gewesen und heute steckte ich plötzlich bis zum Hals in der Scheiße?
„Wir haben keine andere Wahl. Packt eure Sachen, wir werden noch heute
verschwinden“, bestimmte Mum und stand auf. Fassungslos starrte ich sie an und hoffte, dass das Ganze nur ein schlechter Scherz war. Bevor ich protestieren konnte, nahm sie Tomi an die Hand und lief mit ihm nach oben. Sie wollten mich einfach aus meinem Leben reißen? Weg von Melina, Maya und Lucas? Ich konnte doch nicht einfach verschwinden, ohne ihnen irgendetwas erklärt zu haben! Ich wollte nicht gehen! Sie waren die ganze Zeit über für mich da gewesen, ich konnte mich doch nicht einfach aus dem Staub machen, ohne ihnen irgendetwas zu erklären!
„Alex es tut mir leid, ich...“
„Ich nehme mal an, ihr habt euch schon drauf geeinigt, wo wir hingehen werden?“, unterbrach ich Leandro abrupt und sah ihm enttäuscht in die Augen. Ich fühlte mich verraten. Sie hatten alles über meinen Kopf hinweg entschieden. Sie hatten mich außen vor gelassen, obwohl es um mich ging.
Leandro senkte den Kopf und lehnte seinen Oberkörper etwas weiter nach vorne, während er zu seufzen begann. Oh ja, sie waren sich einig und sie wussten, dass ich dort unter keinen Umständen zurück wollte.
„Ich weiß, dass du nicht gerade begeistert sein wirst, aber ich denke, es ist das Beste für uns alle. Sie werden uns beschützen, vor irgendwelchen plötzlichen Angriffen. Wir müssen keine Erklärungen der Polizei liefern, weil nie ein Mensch diesen Ort finden wird, ohne, dass wir es wollen und wir müssen dort nicht so vorsichtig sein. Du könntest die Schule dort besuchen. Ich glaube so langsam musst du echt auf einige Dinge vorbereitet werden. Und ich sollte auch langsam wieder zurück, mir fehlt das Training.“ Verbittert sah ich ihn an. Er wollte zurück nach England. Zurück zu ihr. Zu Laureen, zu Luna und zu dem ganzen Scheiß, den ich versucht hatte zu vergessen. Dort könnte ich meiner unnormalen Seite nicht mehr entfliehen. Keine Sekunde lang. Ich sollte dort zur Schule gehen? Sollte das ein Scherz sein? Sollte ich als braver Vampir die Schulbank drücken und mir das ganze Zeug reinziehen, womit ich nichts zu tun haben wollte?
Aber anscheinend hatte ich gar keine andere Wahl. Ich musste mitgehen. Ob ich wollte oder nicht. Wegen gestern und wegen dem unguten Gefühl, was mich schon den ganzen Morgen verfolgte. Dieser Traum, der mich fast zu Tode geängstigt hatte, war eindeutig mehr, als nur ein Traum gewesen. Es war real gewesen, seine Wiederauferstehung war real. Ich spürte ihn, so seltsam es auch klang. Ich spürte, wie er atmete, wie er sprach und wie er literweise Blut trank. Er wurde von Sekunde zu Sekunde stärker und das machte mir Angst. Er rief mich zu sich, er wollte, dass ich zu ihm nach England kommen würde. Ich hatte also keine andere Wahl.
„Wir fahren also nach England? Zu Laureen und Melonie?“
„Ja, dort sind wir einfach am sichersten.“ Natürlich, sobald wir dort wären brauchte er sich nicht mehr zu wundern, wenn ich ihm nicht mehr vertrauen könnte, kein Bisschen.
„Na du musst es wohl wissen.“
„Ach Alex, wir müssen einfach das Beste draus machen“, versuchte er mich aufzumuntern und rückte ein Stück an mich heran. Unsicher musterte er mich und versuchte herauszubekommen, ob ich seine Annäherungsversuche ablehnen würde.
„Ich verstehe nicht, wie du denen noch trauen kannst“, murmelte ich mürrisch und verschränkte die Arme vor der Brust. Seine Laureen war alles andere, als vertrauenswürdig. So blind konnte man doch gar nicht sein!
„Wieso?“, fragte er leise, sah mich aber mit einem prüfenden Blick an, als hätte er eine Ahnung.
„Ich habe euch gesehen. Dich mit Laureen und Luna.“
„Woher kennst du Luna?“
„Diese hochnäsige Zicke hat mich gestern entführt. Was dachtest du denn, warum die Morde so weit weg waren? Hätte ich wirklich nur morden wollen, wäre ich hier geblieben.“
„Bitte? Sie hat was?“, fragte er erschrocken und seine Augen fingen an sich zu weiten.
„Ach komm, so überraschend ist das nun auch wieder nicht“, spielte ich die Sache runter und hoffte wir könnten schnell das Thema wechseln. Immer noch wollte ich nicht zugeben, dass er an dem Kuss keine Schuld hatte. Ich war davon einfach nicht überzeugt. Hätte er mit mir geredet, wäre das alles nicht passiert und wir müssten nicht weg von hier. Ich würde jetzt gelangweilt im Unterricht sitzen und zwischen uns hätte es keine Probleme mehr gegeben. Es wäre alles einfacherer.
„Ich hätte Ihnen niemals trauen dürfen...“, gab er leise zu und fuhr sich kopfschüttelnd durch die Haare.
„Wow, was für eine Einsicht. Natürlich hättest du ihnen nicht trauen dürfen! Du kennst doch Laureen und ihre Spielchen! Du kennst sie ganz genau. Warum hast du ihnen vertraut?“, fragte ich vorwurfsvoll und wurde immer aufbrausender. Es ging nicht in meinen Kopf, wie er diesen Leuten hatte vertrauen können, wie er diesem Miststück hatte vertrauen können.
„Luna kenne ich seitdem ich ein Baby bin. Sie hat mich noch nie hintergangen“, stellte er fassungslos fest und seufzte. Immer hatte er so getan, als wüsste er genau wem man vertrauen kann und wem nicht. Dabei war er mindestens genauso naiv und gutgläubig, wie ich. Zumindest was Laureen anging.
„Warum hast du nicht mit mir geredet? Wieso hast du mir nichts von diesem Treffen erzählt? Ich dachte wir wollten uns nichts mehr verheimlichen?“, fragte ich überzeugt. Ich war auch schon lange nicht mehr ehrlich zu ihm. Mittlerweile konnte ich mir denken, wieso ich von dem Blut losgekommen war. Der regelmäßige Blutkonsum hatte mich wohl weniger abhängig gemacht. Ich verheimlichte ihm so einiges, aber ich war mir sicher, dass auch er mir immer noch unzählige Sachen verheimlichte. Also brauchte ich kein schlechtes Gewissen zu haben.
„Du hättest es nicht verstanden. Du hättest von Anfang an etwas dagegen gehabt, nur weil es Laureen war.“
„Das stimmt und wie sich herausgestellt hat, hätte ich mit meinen Vorurteilen Recht gehabt. Denkst du echt, es ist so eine gute Idee, ausgerechnet zu ihr zu gehen?“
„Na ja uns bleibt nichts anderes übrig.“
„Was ist mit dem Quartier der Vampire?“ Ich konnte mir nicht mal vorstellen, wie es dort ablief, aber ich war mir sicher, dass ich mich dort besser aufgehoben fühlen würde, als bei den Panuletas. Sie waren wie wir und ich müsste mich vielleicht nicht wie eine Fremde fühlen.
„Niemals. Das ist ein schrecklicher Ort, glaub mir“, antwortete er streng und sah mich an, als wäre ich nicht ganz bei Trost.
„Laureen wird mich verraten, da bin ich mir sicher.“
„Die Menschen kommen nicht ohne unsere Einwilligung zu diesem Ort. Wir müssen sie schon dort hinführen und das wird sie wohl kaum tun.“
„Und wenn doch?“
„Werd nicht albern, sie wird ihre eigene Existenz niemals aufs Spiel setzten, dafür ist sie viel zu feige. Menschen bedeuten immer Gefahr und vor allem an versteckten Orten, die sie niemals betreten sollten.“
„Wenn du meinst. Ich kann mich eh nicht gegen eure Entscheidung wehren. Ich hoffe nur, dass du ihr nicht vertrauen wirst“, antwortete ich bedrückt und senkte den Kopf. Ich wollte, dass er ehrlich zu mir war. Er sollte mir ehrlich sagen, dass er ihr unter keinen Umständen vertrauen würde. Aber das konnte er nicht. Irgendwo vertraute er ihr immer. Er kam von ihr einfach nicht los, er vergab ihr alles und ich fing an mich zu fragen, ob er mir jemals so viel vergeben könnte. Würde er mir vergeben, wenn ich ihn betrügen würde?
„Kann ich denn dir vertrauen?“, fragte er stattdessen und suchte auffällig stark den Blickkontakt. Was war das für eine Frage? Natürlich konnte er mir vertrauen. Nie würde ich ihn etwas verschweigen, dass ihn so verletzten würde, wie es seine Lügen bei mir getan hatten.
„Natürlich kannst du mir vertrauen. Hab ich dich ein Mal betrogen?“, fragte ich ernst und versuchte zu verstehen, warum er zu zweifeln anfing.
„Nein, aber du hast mir Dinge verheimlicht und mich belogen.“
„Das hast du auch, hör bloß auf dich schon wieder als Heiliger hinstellen zu wollen. Du bist kein Stück besser, als ich. Du hast auch Fehler gemacht, große Fehler! Du hast mich betrogen, mehr als ein Mal und trotzdem versuche ich dir zu vertrauen.“
„Aber du vertraust mir nicht mehr. Sonst würdest du mir glauben, dass es in England sicherer für uns ist.“
„Natürlich vertraue ich dir nicht mehr so, wie am Anfang. Vertrauen muss man sich verdienen und du zerstörst meins zu dir, immer mehr.“
„Ich kann ja verstehen, dass du mir, was die Liebe angeht, nicht mehr so gut vertrauen kannst, aber kannst du das nicht mal mehr auf der freundschaftlichen Ebene?“, fragte er fast enttäuscht. Wunderte er sich wirklich, dass ich ihm kaum noch glauben konnte?
„Was soll das heißen? Willst du das Ganze auf eine Freundschaft reduzieren?“
„Nein, ich ähm...“
„Ich kann doch mein Vertrauen nicht in Freundschaft und Liebe unterteilen. Das gehört in einer Beziehung zusammen und ja, ehrlich gesagt kann ich dir nicht mehr vertrauen. Tut mir leid“, antwortete ich ehrlich und entfernte mich etwas von ihm. Zwischen uns war es wieder kalt geworden. Es war das alte, bekannte Gefühl, wenn es nicht lief und ich mich zu fragen anfing, ob das überhaupt noch Sinn machte. Ob wir zusammen Sinn machten. Mir war übel, aber ich war gelassener, als sonst.
„Verstehe“, sagte er knapp und sah so aus, als wolle er jede Sekunde aufspringen, um zu gehen. Eine Weile saßen wir schweigend nebeneinander und keiner sprach die Dinge aus, über die wir nachdachten. Bis er das Thema vorerst unter den Tisch kehrte und auf die alte, rätselhafte Problematik zurückkam:
„Wieso hast du dem Blut widerstehen können? Mir ist gestern noch eine Variante eingefallen, aber ich hoffe, dass du diesen Weg nicht eingeschlagen hast.“
„Wieso sollte ichs dir erzählen, wenn du mir sowieso eine Predigt halten wirst? Du hast Vorurteile dagegen und du hast keine Ahnung, warum ich es getan habe. Du würdest mich verachten und genau deswegen habe ich dir nie davon erzählt. Und deswegen möchte ich auch nicht darüber reden.“
„Ich verachte dich doch nicht. Ich sorge mich um dich. Und, wenn wir von der gleichen Variante sprechen, dann will ich dich nur vor den Konsequenzen bewahren. Du bist perfekt, so wie du nun mal bist und auf Dauer wird es dich verändern, so wie...“
„Dann sei doch einfach da für mich und hilf mir, anstatt mir jedes Mal mit Vorwürfen
gegenüberzutreten“, unterbrach ich ihn abrupt. Er tat immer so, als wollte er nur das Beste für mich. Aber ich konnte ihm diese Masche langsam nicht mehr glauben. Ich konnte ihm nichts mehr glauben. Immer wieder versprach er etwas und hielt es dann doch nicht.
„Vielleicht hast du Recht“, sagte er unsicher und rückte etwas näher an mich heran. Fürsorglich griff er nach meiner Hand und verschränkte seine Finger mit Meinen. Es kam mir wie eine Ewigkeit vor, dass ich seine Nähe gespürt hatte. Gerade noch hatte ich geglaubt, dass ich sie erst einmal nicht spüren wollte. Ich dachte ich bräuchte Abstand von ihm, doch wenn er mir wieder so nah kam, dann verschwand diese Einstellung langsam. Er hörte auf mir egal zu sein. Ich war mir nur nicht sicher, ob ich das noch wollte.
„Hast du es denn nun so gemacht?“, fragte er vorsichtig. Ich seufzte. Warum interessierte ihn das so sehr? Wir hatten so viele andere Probleme. So Viele.
„Hast du Angst es auszusprechen? Ja, ich habe regelmäßig Blut getrunken und ich weiß nicht was daran so schlimm sein soll. Das ist nun mal unsere natürliche Nahrung und ich habe dafür keine Menschen getötet. Ich habe mich von Blutbeuteln ernährt und, wenn dir wirklich etwas an mir gelegen hätte, dann hättest du mir schon längst etwas davon erzählt. Du wusstest, wie fertig mich der Tod meiner Schwester gemacht hat. Und du wusstest, dass Blut mir helfen könnte. Den Schmerz zu verdrängen und sie ein Stück weit weniger zu vermissen.“
„Verdammt Alex, wo bist du da nur rein geraten?“
„Ich habe mich geschützt, vor meiner eigenen Schwäche, mehr nicht.“
„Wie viel hast du täglich getrunken?“, fragte er vorsichtig und drückte meine Hand etwas fester. Gebannt starrte er mich an und versuchte die Worte, die meine Lippen verließen, so schnell es ging zu verstehen.
„Unterschiedlich. Zu Beginn vielleicht so zehn Blutbeutel und jetzt bin bei zwei bis drei am Tag.“
„Wie lange?“, fragte er, als wäre ich beim Verhör. Ich diskutierte nicht mehr mit ihm. Die Zeit saß uns im Nacken und meine Mutter, die schon die ganze Zeit um uns rumwuselte, machte das gehetzte Gefühl nicht gerade besser. Er wusste es eh und er konnte sich bestimmt denken, wer mich auf diese Idee gebracht hatte.
„Keine Ahnung, seit ein paar Monaten.“
„Und wer hat dich auf diese Idee gebracht?“ Das war doch eigentlich völlig unwichtig oder? Es änderte doch an der Situation rein gar nichts.
„Lucas. Er hat mir geholfen, als es mir schlecht ging. Was du nicht getan hast, also wag es bloß nicht, auch nur ein schlechtes Wort über ihn zu verlieren!“, zischte ich warnend und stand auf. Angestrengt dachte er nach. Seine Augen funkelten vor Wut. Eigentlich wusste er nun alles von mir, aber das machte die Stimmung nicht gerade besser.
„Wenn ich den in die Finger kriege!“, fluchte er laut.
„Dann wirst du gar nichts mit ihm machen, verstanden?“, drohte ich mit strengen Worten und ging.
Schlecht gelaunt eilte ich in mein Zimmer und begann ein paar Sachen zusammenzupacken. Lucas schrieb ich, dass er vorbei kommen und Blut mitbringen sollte. Ich musste Charlotte besänftigen und war Lucas eine Erklärung schuldig. Vielleicht würde uns eine Ausrede einfallen, damit Melina und Maya nicht sauer auf mich wären.
Meine Sachen hatte ich schnell zusammengepackt und es fehlten nur noch ein paar Kleinigkeiten, als Lucas klingelte und damit den Zorn von Leandro auf sich zog.
„Lass uns kurz ein Stück in den Wald gehen“, schlug ich gehetzt vor und zog Lucas weg vom Haus. So weit, dass Leandro uns nicht mehr sehen konnte. Er hatte die ganze Zeit im Türrahmen gestanden und uns belauscht. Jetzt stand er am Wohnzimmerfenster und konnte nicht aufhören uns anzustarren.
„Wo zur Hölle warst du gestern? Ich habe mir Sorgen gemacht.“
„Ich habe keine Zeit, ich kann dir jetzt nichts erklären, ich habe dir nur geschrieben, um mich zu verabschieden“, antwortete ich schnell und warf ihm einen trostlosen Blick zu.
„Was? Du verschwindest den ganzen Tag, ohne dich zu melden. Du tauchst plötzlich in den Medien auf und wirst als Mörderin verdächtigt und jetzt willst du verschwinden, ohne mir auch nur irgendetwas zu erklären?“
„Glaub mir, ich hab mir das nicht ausgesucht. Ich würde dir gerne alles erklären, aber die Polizei wird bald vor unserer Tür stehen und auch in England braut sich etwas zusammen.“
„Wieso England?“
„In den Herbstferien, noch lange bevor ich auf diese Schule gewechselt habe, war ich in England. Sollte dort Urlaub machen. An diesem Ort habe ich Leandro kennengelernt und zusammen haben wir dort jemand ziemlich Wichtiges umgebracht. Nur ist der leider wieder von den Toten auferstanden. Wir müssen los, außerdem ist es viel zu gefährlich, wenn ich draußen gesehen werde.“
„Ich versteh kein Wort von dem was du sagst. Ihr habt dort jemanden getötet? Warum hast du mir nie etwas davon erzählt?“
„Ich weiß nicht, ich...ach keine Ahnung. Ist jetzt auch wirklich egal. Ich wollte mich wirklich nur verabschieden und ich brauche etwas Blut für unseren Hausgeist.“
„Es ist egal? Ich komme mit! Ich kann euch helfen.“
„Lucas, das ist wirklich unheimlich süß, aber ich will diese Verantwortung nicht tragen. Sie suchen uns, nicht nur die Polizei. Er wird uns auch suchen, ich will dich da wirklich nicht mit reinziehen. Bleib lieber hier bei deiner Schwester und leg bei Maya und Melina ein gutes Wort für mich ein“, entgegnete ich schnell und schloss ihn kraftvoll in meine Arme. Er erwiderte meine Umarmung jedoch nicht und schob mich weg von sich, damit er mich mit weiteren Fragen löchern konnte.
„Vielleicht will ich mich aber mit reinziehen lassen? Du brauchst einen Freund an deiner Seite, einer der dich nicht betrügt“, sagte er hasserfüllt und sah zu Leandro, der immer noch am Fenster stand. Leandro und er würden sich doch die Köpfe einrennen, wenn sie nur zusammen in einem Raum wären. Das würde die reinste Katastrophe werden. So gerne ich Lucas mitnehmen würde, es wäre viel zu gefährlich.
„Das ist echt lieb gemeint, aber ich kann das nicht verantworten. Du hast keine Ahnung was dort abgeht. Außerdem, was soll mit deiner Schwester passieren?“
„Sie kommt damit schon klar, seitdem sie einen Freund hat, bin ich doch eh abgeschrieben. Es ist meine Entscheidung und ich werde mitkommen!“, sagte er mit Nachdruck.
Lucas hatte es längst entschieden. Er war von seinem Vorhaben nicht abzubringen und langsam begann ich sogar diese Entscheidung zu mögen. Lucas war irgendwie etwas Konstantes in meinem Leben geworden und ich wollte ihn nicht verlieren. Außerdem hatte er wohl Recht, es war seine Entscheidung.
„Von mir aus, pack deine Sachen und komm wieder her, wir werden gleich aufbrechen“, erklärte ich schließlich und nahm seinen Rucksack entgegen, der mit tausend Blutbeuteln gefüllt war. Lucas verschwand so schnell, wie er gekommen war.
„Was fällt dir ein? Du kannst ihn nicht mitnehmen!“, zischte Leandro empört und stellte sich mit verschränkten Armen vor mich. Unbemerkt hatte er sich zu uns geschlichen und gelauscht. Aber auch er könnte an unserer Entscheidung nichts mehr ändern.
„Natürlich kann er mitkommen. Ich weiß nicht wo da das Problem sein soll.“
„Er ist mein Problem, er hat dich da rein gezogen und...“
„Falsch, du warst es. Du warst es, der mich überhaupt in diese Situation gebracht hat. Lucas hat damit gar nichts zu tun, er hat mir nur geholfen“ unterbrach ich ihn zynisch und machte einen Schritt auf ihn zu. Bedrohlich starrte ich in seine kalten, besorgten Augen und versuchte ihn einzuschüchtern. Was hatte er nur für ein Problem mit Lucas? War es die Eifersucht, die zwischen ihnen stand? War Leandro eifersüchtig auf ihn, weil er in meiner schweren Zeit für mich da gewesen war? Was auch immer es war, jetzt mussten sie darüber hinwegsehen.
„Geholfen? Er hat es verschlimmert. Das hat dein ach so toller Lucas!“
„Bist du eifersüchtig?“
„Schwachsinn! Er hat dich in große Gefahr gebracht und das werd ich ihm nie verzeihen, egal für wie edel und aufrichtig du ihn auch halten magst.“
„Du musst ja nicht sein bester Kumpel werden, aber für das, was uns noch bevorsteht, brauchen wir einen klaren Kopf, also verlegt eure Streitigkeiten bitte nach hinten.“
„Was vor uns liegt? Wo von sprichst du?“, fragte er verwirrt und kniff die Augen zögernd zusammen.
„Ich will es gar nicht aussprechen, aber...“
„Rück raus mit der Sprache!“, befahl er mir, als ich einen Augenblick zu lange überlegte.
„Ich glaube der Graf ist zurück“, antwortete ich heiser.
„Und das erzählst du mir erst jetzt? Bist du wahnsinnig?“
„Er hat mich in der vergangenen Nacht in meinen Träumen besucht. Er will, dass ich von seiner Rückkehr weiß. Leandro, ich glaube er will mich töten“, flüsterte ich ängstlich.
„Verdammte Scheiße!“, schrie er wütend. Fassungslos griff er sich an den Kopf und starrte für einen Moment in die Leere. Dann machte er plötzlich einen Schritt auf mich zu und küsste mich. Überrumpelt blieb ich wie angewurzelt stehen und erwiderte den Kuss. Wir küssten uns nur kurz und sanft, aber für diesen einen Augenblick vergaß ich meine Probleme. Gott, wie sehr ich diesen verdammten Idioten liebte!
„Er wird uns suchen. Wir sollten ihn also zuerst finden. Ich glaube nicht, dass er dich umbringen will. Bei unserer letzten Begegnung wirkte es fast so, als würde ihm irgendetwas an dir liegen.“
„Ich hoffe, dass er mich nicht umbringen wird.“
„Das wird er nicht, dafür werde ich sorgen“, flüsterte er sanft und drückte mich immer enger an sich. Seine Umarmung genoss ich viel zu lange und vergaß, was ich gesehen hatte.
„Du hast Recht, es ist besser, wenn Lucas mit uns kommt“, stimmte er mir plötzlich versöhnend zu und verschwand im Haus, als Lucas auf einmal mit gepackten Koffern vor uns stand.
„Du willst mir doch wohl nicht erzählen, dass du weiterhin mit ihm zusammen bist oder?“, fragte Lucas erstaunt und stellte seine schweren Koffer ab.
„Doch, das bin ich ganz offensichtlich. Du musst es nicht verstehen und wenn wir die Zeit dazu finden, werde ich versuchen es dir zu erklären, aber...“
„Da gibt es nichts zu erklären! Was wir gesehen haben, ist nicht zu entschuldigen, wie kannst du ihm das nur verzeihen?“
„Lass das mal meine Sorge sein. Warte einfach hier, ich hole die anderen.“
„Aber...“, rief mir Lucas hinterher.
Meine Mum war fast fertig mit dem Packen. In Windeseile half ich ihr noch bei ein paar Sachen, bis ich schließlich alle nach draußen schickte, um Charlotte ein letztes Mal gegenüberzutreten. Ich hatte zu viele Probleme, als dass ich mich um Charlotte hätte kümmern können. Also packte ich rasant noch ein paar meiner Sachen zusammen und legte das Blut einfach in mein Zimmer, ohne mich von ihr zu verabschieden. Sie würde mich nicht gehen lassen, sie würde diskutieren, mich bedrohen und dafür hatte ich keine Zeit.
Also verschwand auch ich mit gepackten Sachen aus dem Haus und versuchte von diesem, fast vertrauten, Ort, Abschied zu nehmen. Von diesem Ort und meinen Freunden, die jetzt wahrscheinlich dachten, ich wäre eine Mörderin. Seufzend schaltete ich das Licht aus und flüchtete aus der nächsten Stadt.