Am Horizont verfärbte sich der Himmel orange Rot, als die Sonne begann, den Mond von seiner Position zu vertreiben. Nicht mehr lange und der Alltag würde erneut zu entrichten sein. Für Klarich und Alna hingegen ein schmerzlicher neuer Morgen.
Auch wenn Lord Bestlin bedingt einer Täuschung Reputation abgetrotzt wurde und der Wunsch dem Wiederaufbau des Handelsweilers einen immensen Schritt näherzukommen, schnürte ihm das Herz. Sein Vetter, die Schattenjäger, seine Jungen und deren Flucht. Dieser Tag musste schon vor langer Zeit geplant worden sein und Alric, so entschied er, hatte sein Zutun geleistet.
Sich und seine Gefühle glaubte er stets im Griff und lernte bereits vor ungezählten Jahren, diese anderen vorzuenthalten. Bis zum gestrigen Tag vertraute er gar fest auf seine eigene gesponnene Lüge. Er hatte alle von Grund auf hintergangen. Nicht nur Alna und seine Söhne, dass schlimmste für ihn war die Erkenntnis, dass er sich selbst so tiefgründig belog, dass sein Innerstes sich vollends auf sein Lügengerüst stützte.
Fernab des Tores zu Bestlins Burg betrachteten er und Serfem die aufgehende Sonne.
Hinter den Hügeln begann das Gebiet, auf welchem er uneingeschränkten Einfluss genoss. Das gesamte Areal, das weithin fruchtbarste des Landes, könnte ein eigenes Königreich gewesen sein. Die Berengars hätten dazu lediglich die Unabhängigkeit erklären müssen. Gleichwohl entschieden sie sich einst, dies nicht zu tun und Agrea den beiden größten Adelsgeschlechtern zu überlassen. Es genügte ihnen die Fäden des Handels und einen ausreichenden Teil strategischer Militärführung in Händen zu halten. Der Bauer vermutete, dass sie über weit mehr Macht innerhalb der Landesführung verfügten als gemeinhin bekannt.
»Ich werde kommen und euch benachrichtigen, sobald mir Kunde über deine Jungen vorliegt«, entriss ihm der Thulene seiner Gedanken.
Klarich schwieg, sah dem Fremdling jedoch lange ins Gesicht. Wieso stand er überhaupt hier ... mit ihm und betrachtete den Sonnenaufgang?
Dieser Mann sollte der Feind sein, war es aber nicht.
Dieser Mann verkörperte all das Übel, welches die ›sieben Königsländer‹ je vergiftete und unterjochte. Dennoch verspürte er keinen Zorn.
Dieser Mann war der Fremde. Der Eindringling und gehörte alldem ungeachtet dazu.
Dieser Mann verhielt sich anders, als die vielen Übrigen seines Volkes oder jener, die mit ihnen kamen.
Sein Kiefer mahlte und seine Wangen zuckten, als er versuchte diesen Mann als Person, als Mensch einer ihm fremden Nation einzuschätzen.
Er hob den Kopf und bestieg das geschenkte Pferd. »Ich nehm dich beim Wort, auch wenn das bedeutet, mich mit dem Gedanken abfinden zu müssen, meine Vorurteile gegenüber deinesgleichen neu zu sortieren.«
»Geh zu deinem Eheweib und entrichte ihr Grüße. Sobald Bestlins Geheiß verfasst ist, werde ich persönlich dafür sorge tragen, dass Arbeiter und Material zu euch gelangen.«
Der Bauer nickte und schenkte dem Thulenen ein fragwürdiges Schmunzeln.
»Habe ich etwas Falsches gesagt?«
Das Lächeln auf Klarichs Zügen verstärkte sich und er verneinte. »Der Bastard hatte recht, du verfügst über eine gespaltene Zunge.« Er klatschte dem Pferd auf die Flanke und ritt in Richtung Sonnenaufgang.
***
Wärmende Sonnenstrahlen bahnten sich Weg zu ihnen herb und erhellten das nahe Umfeld mehr und mehr. Stetig kleiner wachsende Bäume deuteten darauf hin, dass sich der Waldesrand näherte. Der Tag versprach heiter und angenehm warm zu werden, zogen nur vereinzelt Wolken hoch oben am Firmament ihre Bahnen. Rondal war für Kaydens Geschmack unangebracht gelaunt, konnte es ihm jedoch kaum verdenken. Als der Mann von seiner eigenen Familie getrennt wurde, lag deutlich länger zurück als bei ihm und Veyed.
Er rang mit sich und versuchte Haltung und Fassung zu wahren. Die Muskulatur seines Kinns verzog sich und lies es tanzen, Tränen sammelten sich in seinen Augen.
»Wir sind da. Dort, schau.« Rondal beugte sich zu ihm herüber und zeigte mit ausgestrecktem Arm nach vorn.
Was er sah, bekam er eigentlich überall zu sehen. Weite ausdehnende Wiesen- und Getreideflächen. Freilaufende Kühe, die munter frisches Grün zupften und genussvoll kauten. Hm, von wegen Genuss. Gras schmeckte schlicht und ergreifend grauenvoll, das konnte er aus eigenen Erfahrungen beurteilen.
Er schaute zurück zu Veyed, der nach wie vor ohne Bewusstsein auf der Bahre ruhte. Er musste trotz der widrigen Umstände schmunzeln, hatte sich sein Bruder vor Lachen den Bauch halten müssen, als sie es Ma' und Pa' beichteten. Hoch am Himmel bemerkte er aus dem Augenwinkel sich abwärts windende Bewegungen. Es waren Vögel von derlei Art, wie er sie noch nie zu sehen bekam. Onkel Alric erzählte einst von diesen und erklärte, dass diese in ihrem Heimatland ausgerottet seien.
Er verfolgte ihren Flug und sein Blick heftete sich an eine Mühle. Deren ausladenden Flügel drehten sich gemächlich im fahlen Wind und die beiden Vögel ließen sich auf dessen Dach nieder. Eisige Nadeln bohrten sich in seinen Rücken.
Es war ihm, als entschwinde sein Geist und er begann, im Sattel, zu wanken. Er spürte, wie ihm zusehn unwohl wurde und sein Blick verrückte.
Das Gebäude, diese Mühle, vergrößerte sich ... raste sozusagen auf ihn zu, ohne dass er sich dieser auch nur einen Schritt nährte. Argwöhnisch weiteten sich seine Lider und ihm schien, als könne er die Tiere mit ausgestreckten Fingern berühren, so nah fühlte er sich ihnen. Das Größere der beiden, unverkennbar ein Adler, beobachtete ihn aus eisblauen Augen. Er erhob sich, spreizte die Flügel und nickte.
Kayden wollte es nicht beschwören, aber er schätzte dessen Spannweite auf nahezu drei Ellen. Sein kleinerer Begleiter schien ein Falke zu sein, das einst auf Wappen geführte Leittier der sieben Königreiche.
Es war ein schönes Tier, ein stolzes dazu und er fand es auf unbeschreibliche Art imposanter als den Adler. Er dachte den Gedanken nicht einmal zu Ende, als sich eben jener in die Lüfte erhob und laut krächzte. Er nickte und nuschelte vor sich hin, ohne das Rondal, der neben ihm stand, etwas verstand. »Dasselbe Geräusch wie im Rabengehölz.«
»Was sagst du?«
Er erhielt keine Antwort und sah in die gleiche Richtung wie ihr jüngster Begleiter. »Ein Adler und ein Falke. Sie kommen, um euch willkommen zu heißen.«
Kayden hörte jedoch nicht hin und hatte nur Augen für die gefiederte Schönheit. Mit einem nahezu schneeweißen Federkleid saß es thronend auf dem Dach und dessen Kopf verfolgte den Flug seines viel größeren Begleiters. Unterbrochen wurde sein silbrig weiß schimmerndes Wesen lediglich auf der Brust. Bräunliche Punkte standen im Kontrast zu dem ansonsten erhabenen Aussehen.
Rondal betrachtete ihn verwundert und stupste ihn die Schulter. »Hey Junge. Aufwachen. Nicht mehr lange und du kannst dich in einem gemütlichen Bett ausruhen.«
Sein gegenwärtiger Fernblick entschwand ihm und er kniff die Augen zusammen. Er schüttelte den Kopf und grinste. »Verzeihung.«