EINE LÜGE IN GOTTES OHR
Es war ein kühler, trister Spätsommertag. Meine getreue Nachbarin und ich saßen am Boden des modern eingerichteten Wohnbereichs (wo ich voller Reue meine erste und letzte Sünde begang) und waren höchst beschäftigt; Als wir vor nicht allzu langer Zeit voller Grauen zur Kenntnis nehmen mussten, dass unser Flugdrache, liebevoll "Gildi" genannt, nicht dazu im Stande war, einen erfolgreichen Segelflug durchzuführen, beschlossen wir, uns unseren eigenen zu kreieren. Aus Papier und etwas Garn. Sogleich begannen wir eifrig zu werken. Doch dann geschah etwas Unerwartetes...
Wir hatten gerade erst begonnen die widerspenstigen Wollfäden durch die, mit bloßem Auge kaum sichtbaren Löcher, die erst vor Kurzem voller Elan ins bunte Tonpapier gestochen worden waren zu fädeln, da bemerkten wir, dass wir nicht alleine waren...
Von der, in stilvollem Hellbraun lackierten Kommode aus, wurden wir von Michael dem Schrecklichen (unserem treuen, manchmal jedoch auch garstigen Stubentiger) skeptisch in Augenschein genommen. Er konnte ja nicht ahnen, dass ihm unsere Tat in keinerlei Hinsicht zu Schaden kommen würde. Er beobachtete uns weiterhin bei jedem noch so kleinen Arbeitsschritt, welcher bei uns im Handumdrehen gemeistert ward. Seine Pupillen waren stark erweitert und deuteten so großes Interesse an. Schließlich kam er etwas näher an unsere Werkstatt heran und beäugte unser, noch unvollendetes Werk, voller Neugierde. Zu diesem Zeitpunkt hegten wir noch keinerlei Vermutungen, welches Ereignis sich schon in wenigen Augenblicken begeben würde...
Gespannt wie ein Flitzebogen schenkte er jeder unserer Handbewegungen Aufmerksamkeit. Wir ergötzten uns sichtlich daran, einen Anhänger unserer Baukunst gefunden zu haben, und wären im Traum nicht auf die absurde Idee gekommen, dass er unserer liebevoll verrichteten Arbeit in irgendeiner Hinsicht Schaden zufügen wollte, als er plötzlich, beinahe aus dem Nichts, die Beherrschung über seinen beeindruckend schönen Katzenkörper verlor, und sich seine einst geschmeidigen, eleganten Bewegungen in einen wilden Tornado der Zerstörung verwandelten und ohne Rücksicht über unseren selbst erschaffenen Flugdrachen fegte, um einer der Schnüre nachzujagen, welche reglos von unserem Bauwerk hing. Mit Müh' und Not konnten wir die majestätische Gestalt eines Stubenkaters besänftigen, bis er wieder vornehm auf seinem Platz saß und unserem Werk dieselbe ununterbrochene und leidenschaftliche Aufmerksamkeit schenkte, wie vor seinem furchtbaren Wutausbruch. Doch schon nach wenigen Sekunden der ruhigen, konzentrierten Arbeit strapazierte ein weiterer dieser unvorhersehbaren Anfällen unsere Nerven. Beim dritten Mal musste ich ihn ermahnen;"Her jetzt auf, sonst steck i da an Stift in'd Oasch!" Diese Tat jedoch beeindruckte Sir Michael nicht im Geringsten. Dieser nämlich zeigte dasselbe wüste, gar barbarische Verhalten wie zuvor. Noch einige Male musste ich ihn auf diese Art und Weise verbal zurückhalten. Ohne Erfolg. Nach vielen dieser unangenehmen Zwischenfällen, kam mir die Erleuchtung: Vor Kurzem hatte ich einen kleinen Gummiball in der Nähe meiner Sammelstelle für Bleistifte und andere Schreibutensilien entdeckt. Zu diesem Zeitpunkt hatte ich ihm noch keine allzu große Beachtung geschenkt. Doch heute könnte er uns zu Erfolg bei unserem neuesten Projekt verhelfen... Also lief ich schnurstracks auf diese Stelle zu. Dort, wo sich zufälliger, wie dummer Weise, auch all meine Stifte befanden. Gerade, als ich mich zum Ergreifen des Zielobjekts bücken wollte, auf das wir Michaels ganze Aufmerksamkeit lenken wollten, um unsere Arbeit ungestört fortführen zu können, rief mir Mutter mit strenger Stimme zu: "Du steckst erm jetzt koan Stift in'd Oasch!!!" Diese Worte trafen mich zutiefst. Natürlich; es handelte sich nur um ein dummes Missverständnis. Niemals würde ich unserem geliebten Michael mit Absicht Leid zufügen, und vor allem würde ich, als begeisterte Schriftstellerin, kein, zum Schreiben brauchbares Werkzeug in seine Gesäßöffnung einführen wollen. Es sollte ihn nur abschrecken und vom Zerstören unseres Werkes abhalten. Nur unsinniges Geschwätz! Bluff! Ich war erschüttert. Erschüttert darüber, welche grausamen Dinge mir mein eigen Fleisch und Blut zutraute. Diese Frau hatte mir erst vor wenigen Tagen das elfte Gebot gelehrt, und mir somit eine Erleuchtung beschert! Und nun DAS! Das ist.. das ist... wie... eine Lüge in Gottes Ohr...