Die Couch ist grau und zerschlissen. In ihrem früheren Leben war sie aus Cord. Die gerippte Oberfläche ist nur noch mit viel Phantasie zu erkennen, oder, wenn man eben weiß wonach man suchen muss. Ich kenne diese Couch. Ich habe schon vor 15 Jahren auf ihr gesessen als sie noch bei Ben’s Eltern im Keller stand. Jetzt steht sie hier in seiner nicht mehr so neuen, neuen Wohnung. Ich schaue auf den fleckigen, beigen Teppich auf dem meine Lieblings High Heels liegen. Auch sie sind nicht mehr die neusten, aber ich freue mit trotzdem jedes Mal wenn ich sie anschaue und daran denke, wie ich sie mir damals in der teuersten Boutique der Stadt geleistet habe, ohne sie mir leisten zu können. Ben liegt neben mir, den zur Decke umfunktionierten, alten Schlafsack bis fast unter die Nase gezogen. Er balanciert einen Aschenbecher auf seinem Bauch und nimmt immer mal wieder einen Zug aus seiner Zigarette. Ich schaue ihn aus dem Augenwinkel an, sein Blick ist scheinbar starr auf den Bildschirm vor uns gerichtet. Ein Fuß schaut unter der Decke hervor, sein Socken hat ein Loch. Der Sicherheitsabstand zwischen uns beträgt genau die Breite eines Sofakissens - ein Fortschritt, denn immerhin war er noch vor einer halben Stunde um ein ganzes Kissen größer. Das Fenster ist geöffnet, es ist bereits November aber mir ist heiß. Die Flasche Wein die vor uns steht verrät mir den Grund dafür. Ich schaue wieder auf den Bildschirm. Ben dreht sich zu mir nur um kaum merkbar den Kopf zu schütteln, als wolle er ein kleines unartiges Kind daran erinnern, dass es etwas nicht darf. Und im Grunde ist es ja auch genau das. Ich darf gar nicht hier sein. Das hier ist Vergangenheit und Nostalgie und eine 15 Jahre alte Couch, an der Erinnerungen und Gespräche zusammen mit süßem Likör und alten Chipskrümeln kleben. Ben schaut wieder weg, aber ich kann meinen Blick nicht abwenden von dem Mann, der sich so gar nicht verändert hat und den trotzdem mehr als ein Sofakissen von mir trennt. Im Grunde habe auch ich mich nicht verändert, wir haben schon damals nicht zueinander gepasst, aber trotzdem will mein Hirn auch 15 Jahre später nicht wahrhaben, dass alles beim Alten geblieben ist, alte Möbel inklusive. „Anna, bitte, schau mich nicht so an, du weißt, wie das ausgehen wird, wenn du so weiter machst.“ Ich weiß, was er sagen wird bevor er es tut und wie auf Kommando sagt er „Anna, schau mich nicht so an. Wir dürfen das nicht schon wieder tun.“ Und ich lächle. Auch er lächelt, denn auch er weiß, dass das eine leere Drohung ist. Wir rotieren seit Jahren umeinander wie auf einer unsichtbaren Umlaufbahn, aber in unterschiedlichen Richtungen. Manchmal treffen wir uns, heftig und kurz und wir glauben wir könnten ohne einander nicht existieren. Aber irgendwie schaffen wir es dann doch immer. Ich rücke ein Stück näher an Ben heran und ich spüre wie sein Atem schneller geht. „Anna, bitte lass es.“ Diesmal komme ich ihm zuvor und sage ihm was er denkt. Er lächelt wieder. „Es ist nur ein Kuss,“ sage ich und weiß, dass das nicht stimmt. Aber er tut als würde er mir glauben und zieht mich zu sich herüber, unter seine Decke und in seine Umlaufbahn, zum 15. Mal in meinem Leben.
Wir liegen da, auf seinem schäbigen, ausgeblichenen Schlafsack. Seine Nase glänzt vom Schweiß und ich habe eine Gänsehaut, auch wenn ich von innen glühe. Ben scheint auch nicht mehr kalt zu sein. Wir reden nicht darüber, was gerade passiert ist. Den Geschmack des anderen noch im Mund, bleiben wir stumm. Ich löse mich aus seiner Umarmung und schaue ihn an. Ich will etwas sagen, etwas Bedeutendes, irgendetwas was uns den nächsten Schritt gehen lässt. Ich will, dass es nicht immer bei einer Nacht bleibt sondern wir uns endlich trauen zu sehen was aus uns werden könnte. Aber mir fällt nichts ein, was ihn überzeugen würde. Ich weiß nicht einmal ob ich etwas finden würde, dass mich überzeugt. Und so ziehe ich mich langsam an. Ben’s Blick ruht auf mir und er zündet sich eine neue Zigarette an. „Wie schön du immer bist, Anna.“ sagt er. Ich kann nicht anders, aber auf einmal schnürt sich meine Kehle zu und ich muss mich von ihm abwenden, damit er die Tränen nicht sieht, die heiß und feucht meine Wangen hinunter strömen. Ich verbringe etwas länger damit meine Stiefel anzuziehen und meine Hose in ihnen zu verstauen. Als ich fertig bin, kann ich wieder lachen. „Bis bald Ben,“ ich küsse ihn zum Abschied auf die Wange, niemals auf den Mund. „Lass uns nicht wieder ein Jahr warten.“ ruft er mir nach, als ich aus der Tür gehe.
„Hast du es ihr gesagt?“ Ich breche unsere heilige Regel und schreibe Ben am nächsten Tag. Ich stelle mir kurz vor, wie sie meine Nachricht liest, denn ich weiß, dass sie in großen weißen Buchstaben in deiner Textblase auf deinem Display zu sehen ist. Ich stelle mir vor, wie sie sich durch ihre raspelkurzen Haare fährt und ihren wunderschönen Mund zu einem Schmollen verzieht um ihm sein Handy dann an den Kopf zu werfen. Aber sie wird es nicht lesen, das weiss ich, denn sie ist selten bei ihm. Ich lege das Handy weg. Es gibt bei Ben keine verräterischen blauen Häkchen, die mir sagen wann er die Nachricht gelesen hat. Er will andere nicht kontrollieren und auch selbst nicht kontrolliert werden. Sarah ist noch nicht zu Hause, sie wollte eigentlich mittags wieder da sein, aber ich gehe davon aus, dass sie noch jemanden getroffen hat. Sie weiß, dass ich nach meinen Treffen mit Ben selten zu etwas zu gebrauchen bin. Ich schreibe ihr, dass ich noch mal raus gehe aber bald wieder da bin. Es ist schon dunkel draussen und ich ziehe meinen warmen Mantel an. Mein Handy stecke ich in die Tasche und halte es fest, sollte Ben schreiben will ich es wissen. Ich brauche 10 Minuten von Sarah’s Wohnung zu seiner. Mein Atem macht kleine weiße Wölkchen und ich mache den Reißverschluss meines Mantels zu. Ich laufe langsam, höre bewusst meine Absätze auf dem Kopfsteinpflaster klicken und versuche mich auf die wunderschöne Stadt zu konzentrieren. Es ist eine Weile her, dass ich zu Hause gewesen bin. Die Straßen und Gassen sind schon weihnachtlich dekoriert. Hier nimmt man sich noch Zeit für diese Dinge. Hier hat man keine Angst, dass die bunten Kugeln und Lichterketten geklaut werden könnten. Als ich vor Ben’s Wohnung stehe sehe ich Licht brennen und, dass das Fenster auf ist. In dem Moment fühle ich, wie einen kleinen Pupser in meiner Tasche. „Natürlich nicht. Das weißt du doch.“ Ich schreibe mit zittrigen Fingern. Weil ich meine Handschuhe vergessen habe, rede ich mir ein. „Kann ich kurz vorbei kommen.“ Der Vermerk „schreibt“ in Kursivbuchstaben scheint eine Ewigkeit unter seinem Namen zu stehen. „Ok, komm rum“ schreibt er. „Komm rum.“ Ich kenne seine Art zu schreiben, ich weiß, dass er keine Emotionen raus lässt und schon gar nicht in einer WhatsApp Nachricht. „Kopf in den Sand“ Technik hat er das mal genannt. Wenn ihm etwas zu kompliziert wird, dann blockt er einfach ab. Wieder überlege ich ob ich überhaupt noch mal seine Freundin sein möchte. Ich gehe ein Stück weiter und stelle mich in den Hauseingang, er muss ja nicht wissen, dass ich bereits losgegangen bin. Nach genau 10 Minuten drücke ich auf die Klingel. Ich weiß, wie er jetzt auf Socken durch seine, dick mit Teppich ausgelegte Wohnung schlurft, sich wahrscheinlich noch einmal durch die strähnigen Haare fährt und dann widerwillig den Türöffner drücken wird. Nicht, weil er mich nicht sehen will. Ben will mich immer sehen, seit dem Tag, an dem wir uns kennengelernt haben. Er will mich haben, er will alles von mir wissen, seinen Körper an meinen schmiegen, weil er weiß, dass er dort hin gehört. Aber er will den Rest nicht. Das Komplizierte, das Schwierige. Dafür ist er nicht gemacht. „Du bist aber schnell.“ begrüßt er mich an der Tür. Er hat eine Jogginghose an und die Zigarette noch im Mundwinkel. Ich hauche ihm einen Kuss auf die Wange und gehe an ihm vorbei, direkt auf die altbekannte Couch zu. „Was gibt’s Anna? Zwei mal bei einem Besuch? Das ist ja noch nie passiert“. Er lacht verlegen. Er hat Recht, normalerweise sehe ich ihn maximal einmal im Jahr für einen Abend, selten auch mal eine Nacht und dann melde ich mich erst, wenn ich wieder in Sicherheit bin, zu Hause. Er setzt sich auf die Ecke der Couch und mustert mich und ich sehe, was er sieht. Den teuren Mantel mit dem falschen Pelzkragen an der Kapuze, die hohen Schuhe, den rot geschminkten Mund. Auf einmal wünschte ich, ich würde nackt vor ihm stehen, um ihm zu zeigen, dass nichts von dem wichtig ist, nichts davon zwischen uns stehen sollte. Auf einmal weiß ich nicht, was ich eigentlich bei ihm will. „Ben, ich..“ Ich höre auf zu sprechen und schaue auf den Boden. „Anna, du weißt, dass ich es ihr nicht sagen kann.“ Ich antworte wie ein Roboter, denn ich weiß es. Er wird es ihr nicht sagen, weil er es ihr nicht sagen will. Sie ist unkompliziert, uninteressiert und er hat es leicht mit ihr. Sie ist genau wie er, und er liebt all das an ihr, was er an sich selbst am meisten liebt. „Ich wünschte, es wäre einfacher.“ Sage ich kleinlaut. „Ja, das wäre schön.“ Ben drückt seine Zigarette aus und reibt sich die Augen. „Aber was bringt es, darüber zu diskutieren was sein könnte. Ich kann nichts daran ändern, wie es damals gelaufen ist. Und jetzt sind die Dinge nun mal, wie sie sind. Wir sollten nicht alles zerreden.“ Normalerweise ist das mein Spruch. „Nicht zerreden, einfach machen.“ Und normalerweise würde ich ihn jetzt küssen, ihn an mich ziehen. Meinen Lippenstift vorher unbemerkt mit dem Handrücken abwischen, den Mantel abschütteln und mich ihm hingeben, so wie er mich haben will, so wie ich ihn haben will. Ich denke einen Moment nach während Ben mit seinem Handy spielt. Will ich wirklich wissen, ob wir mehr sein könnten als das hier?