Eine Ewigkeit schien vergangen zu sein, als Garrett endlich in dem Himmelbett lag, das Dionysos gehörte. Es fühlte sich so weit entfernt und unwirklich an, jetzt seine nackten Zehen unter der Bettdecke zu bewegen.
Nur schemenhaft erinnerte er sich an die letzten Stunden. Sie waren in sein Zuhause zurückgekehrt – Garrett hatte sich gefürchtet, das Haus zu betreten – und nichts hatte mehr an das Blutbad im Wohnzimmer erinnert. Die besudelte Wand war geweißt worden, der Boden blitzblank, wie er es immer war. Es hatte leicht nach Farbe und Textilerfrischer gerochen, doch das eklige, süße Aroma des Blutes war vollkommen verschwunden.
Garrett war sich sogar sicher, dass selbst die Spurensicherung mit all ihren Chemikalien in dem Haus nichts finden würde – sofern sie Grund gehabt hätten, zu suchen.
Phil hatte an der Spüle gestanden, die Ärmel seines schwarzen Hemdes hochgerollt, das Beffchen blütenweiß, der Blick ernst und klar wie immer. Die anderen Vampire hatten draußen Stellung bezogen.
»Willst du es sehen? Damit du überzeugend aussagen kannst?«
Garrett wurde bleich. »Ich dachte, du redest?!«
Phil nickte. »Das tue ich. Es tut mir leid. Ich vergesse immer wieder, dass es nicht irgendeine Frau ist, sondern deine Mutter.«
Die Tränen stiegen wieder heiß in Garretts Augen und er wischte mit dem Ärmel über das Gesicht. Der Pfarrer blickte ihn mitfühlend an, was seine grauen Augen deutlich erwärmte. Sanft drückte er den Jungen auf den Stuhl und reichte ihm eine Tasse starken, schwarzen Tees.
»Setz dich, ich rufe die Polizei. Du sagst aus, dass du sie nicht gesehen hast. Du bist gerade heimgekommen, hast mich getroffen und ich habe sie gefunden. Jeder versteht, dass du nicht gewagt hast, sie anzusehen.«
Garrett starrte in die Tasse und lauschte Phils angenehmer Stimme, als dieser mit der Polizei sprach. Er konnte sich leicht vorstellen, dass er ein guter Pfarrer war, dessen Messen großen Anklang fanden.
15 Minuten später waren ein mickriger Inspektor und sein Constable erschienen, 30 Minuten später ein Krankenwagen, um Mrs. Pinkerton abzutransportieren – Garrett wagte noch immer nicht, hinzusehen – und eine Stunde später war alles erledigt. Phil hatte eine Aussage gemacht, Garrett geschildert, dass er den ganzen Tag campen war und die Polizisten haben alles dokumentiert.
Als sie fuhren und Garrett im Vorgarten nahe der Haustür stand, bemerkte er das neugierige Pack seiner Nachbarn hinter ihren Gardinen und Hecken. Wut flammte in ihm auf und am liebsten hätte er sie angebrüllt, wo sie waren, als seine Mum sich nachts zuvor die Seele aus dem Leib geschrien hatte. Aber er besann sich. Vermutlich hatten sie es durch einen Trick von Allisters Vampiren tatsächlich nicht gemerkt. Ihre Neugier reizte ihn dennoch.
»Garrett, mein Junge. Polizei bei euch? Krankenwagen? Ist alles in Ordnung?«, schnarrte Mr. Karovsky von schräg gegenüber quer über die Straße und versuchte, nicht neugierig zu klingen. Doch er war es. Sein langweiliges Vorruhestandsdasein ödete ihn an, er verlangte nach Tratsch.
»Nein, Mr. Karovsky, das ist es nicht. Ganz und gar nicht!« Garrett sah nicht ein, die Sensationslust des alten Geiers zu befriedigen, machte kehrt und schlug die Tür hinter sich zu, ohne den alten Mann aufzuklären. Morgen würden eh alle von Madelyn Pinkertons tödlichem Unfall wissen und sich das Maul zerreißen. Und sie würden Garrett bemitleiden. Doch er wollte kein Mitleid! Er wollte Rache.
Ein Klopfen an der Tür riss den Jungen aus seinen Gedanken und Dionysos betrat mit einem Tablett das Zimmer.
»Geht's wieder?«
Garrett hatte sich nach der Rückkehr in die Hütte wortlos ins Schlafzimmer begeben. Er war so erschöpft und wollte einen Moment allein sein. Doch nun nickte er und lächelte. Der Vampir hatte ihm eine Schüssel von Anouks Eintopf mitgebracht.
»Ich wusste nicht, ob du auch ein Steak wolltest, also...«, murmelte er und reichte Garrett das Tablett.
Der lächelte und nahm einen Happen. »Nein, schon gut. Das Fleisch den Fleischfressern. Was jetzt? Wäre es nicht besser, ich bliebe unten, falls die Polizei nochmal kommt?«
Dionysos betrachtete den Jungen und schüttelte den Kopf.
»Nein, ich will dich hier haben. Hier bist du sicher und hast etwas Ablenkung. Niemand zweifelt, dass deine Mutter gestürzt ist. Sie ist schon beim Bestatter. Du kannst alles Phil überlassen, wenn du möchtest. Sie wird es gut haben...«
Bis auf den Umstand, dass sie tot ist, beendete Garrett den Satz in Gedanken, sagte aber nichts.
»Ich müsste Tante Imogen anrufen, aber es ist schon so spät. Und Dad...«
»Verschieb' es auf morgen.«
»Und eigentlich muss ich… in die Schule...«
Dionysos blickte sein Gegenüber amüsiert an und schob ihm eine Haarsträhne hinter das Ohr.
»Dummerchen. Niemand würde dir nach einem solchen Verlust übelnehmen, wenn du dir eine Auszeit nimmst.«
Garrett nickte und stellte das Geschirr zusammen. Er war müde und schlapp, sein Herz war schwer und doch fühlte er sich ruhelos.
»Schlaf etwas.«
»Bleibst du bei mir?«
Schweigend betrachtete der Vampir den Jungen einen Augenblick. Schließlich nickte er.
»Aber bleib' anständig«, schmunzelte er und legte die Bettdecke über sich und Garrett.
»Ich?! Wer hat denn im Zelt mit dem Unfug angefangen?«
Dionysos lachte leise. »Die Nacht davor warst du es, wir sind also quitt.«
Schnaubend starrte Garrett an die Decke. Als wäre es seine alleinige Schuld, dass diese unglaublich aufregende Sache bereits zum zweiten Mal passiert war. Als wäre er ein berechnender Verführer!
»Ich hab's genossen, Garrett«, hörte er Dionysos in der Dunkelheit murmeln und ein Lächeln schlich sich in sein Gesicht.
»Ich auch.«
»Keine Schmerzen?«
»Nur beim ersten Mal...«
»Keine Gewissensbisse?«
»Weswegen?«
»Ich bin ein Mann. Du auch. Deswegen.«
Garrett lachte leise in die Federn der Bettdecke. »Dafür ist es zu spät. Mich halten eh alle für schwul.«
»Ich weiß. Aber das bist du nicht, oder?«
Garrett bemerkte einen forschenden Unterton in der Stimme des Vampirs. Wünschte er sich das? Glaubte er, dass er, Garrett, das Interesse verlieren könnte, wenn er nicht auch homosexuell wäre?
»Ich weiß nicht. Ich weiß nur, dass ich mich bei einem Mädchen nie so gefühlt habe wie bei dir. Gut aufgehoben und geborgen.« Garrett spürte die unerträgliche Hitze in seinen Wangen.
»Was ist mit Anouk?« Dionysos' Stimme war leise geworden und Garrett blickte ihn durch die Dunkelheit hinweg an.
»Was soll mit ihr sein?«
»Sie ist süß und in deinem Alter, also theoretisch. Ich dachte nur...« Der Vampir brach ab und schwieg. Die Hitze wich einem wohligen Gefühl in Garretts Brust.
Dionysos, der große, finstere, gefürchtete Dionysos machte sich Sorgen, dass ein unbedeutender, schwächlicher Teenager wie er es war, ein taffes Mädchen ihm vorziehen könnte.
»Ich glaube, Anouk sieht in mir weder einen Jungen noch einen Mann. Ich bin so ein kleines Maskottchen, das man mit sich rumträgt. Kein Typ fester Freund. Und schon gar kein Liebhaber. Ich glaub'… also ich denke, ich bin bei meinem eigenen Geschlecht besser aufgehoben. Du weißt schon. Wie Kyle gesagt hat… ein Typ, der sich bückt und bläst und so...«
Die Matratze vibrierte leicht, als der Vampir sich auf die Seite drehte.
»Du bist mehr als das. Leute, die keine Ahnung haben, stecken einen schwulen Mann gern in solche Schubladen, doch das ist Unsinn. Mal ehrlich… ein schwules Paar zu fragen, wer die Frau ist, ist genauso unsinnig, wie einen Chinesen zu fragen, welches seiner Essstäbchen die Gabel ist.«
Garrett lachte und Dionysos schmunzelte. Es tat gut, ihn lachen zu hören, nachdem er zwei Tage fast nur geweint hatte.
»Schon, aber hat nicht jeder Mann so seine Vorlieben? Ich… ich fand es ganz schön, unten zu liegen.«
Der Vampir erkannte durch die Dunkelheit, dass Garretts Wangen rot waren. Er lächelte und zupfte an einer seiner langen Haarsträhnen.
»Logisch. Aber deswegen bist du nicht ausschließlich ein Typ, der sich bückt und bläst. Du kannst alles tun, was du willst.« Er schwieg einen Moment und schien nachzudenken. »Erzähl' mir von Kyle. Gerade ist Zeit dazu.«
Garrett seufzte.
»Was soll ich da erzählen? Im Kindergarten waren wir Freunde, ab der Mittelstufe nicht mehr. So einfach.«
»Das erklärt nicht die Narben, die du trägst. Die sichtbaren und die, die man nicht sieht.«
»Früher waren wir fast direkte Nachbarn und jeden Tag zusammen. Dann hat sein Dad am anderen Ende des Tals ein Haus gebaut und Kyle ist weggezogen. Gatwick ist klein, aber für uns war die Entfernung anscheinend zu groß. Er hat dort neue Freunde gefunden, üble Burschen, und plötzlich war Spielen mit mir langweilig. Ich war schon immer ein bisschen schüchtern und anders als die anderen. Bis zu seinem Umzug hat Kyle das nicht gestört, doch plötzlich schon. Dann fingen die Hänseleien an, Dreck im Spind, kaputte Reifen am Fahrrad, üble Schimpfwörter. Als ich 12 war, stieß er mich die Treppe runter. Daher die Narbe.«
Garrett schwieg eine Weile und Dionysos ärgerte sich über den verzogenen Bengel, der einem Freund in den Rücken gefallen war.
»Damals im Wald… die Jungs sagten damals etwas von einer Lektion, die sie dir hatten erteilen wollen. Was war damit gemeint? Was ist der Grund für deine panische Angst damals gewesen? Abgesehen von der Prügel...«
Der Junge schluckte und schwieg weiterhin, bis der Vampir seine Hand nahm und an seine Brust drückte. Der sonderbar langsame Herzschlag beruhigte Garretts eigenen Puls und er atmete tief ein.
»Als ich 15 war, hat unser Sportlehrer uns mal ziemlich gescheucht. Ich schwitzte stark und wollte nach dem Unterricht duschen. Ich weiß nicht genau, mit was ich Kyle diesmal provoziert hatte...« Garretts Stimme war leise. Dionysos drückte seine Finger leicht.
»Weiter.«
»Naja, einige Zeit vorher war Kyle der Meinung, entdeckt zu haben, dass ich auf Jungs stehe. Damals hätte ich ebenso gut auf Hunde stehen können, so wenig interessierte mich irgendwelcher Liebeskram, aber Kyle meinte halt, es besser zu wissen. Und das war in seinen Augen offenbar schlimmer als meine langen Haare oder meine lackierten Fingernägel. Von da an wurde 'Schwuchtel' zu seiner Anrede für mich. Ich hatte ab da an Angst, dass irgendwann mal was passiert...«
»Was geschah in der Dusche, Garrett?«
»Normal hatten wir mit einem älteren Jahrgang zusammen Sport und die Umkleide war nie ganz leer. Damals waren die aber auf Klassenfahrt und meine Mitschüler verließen nach und nach alle die Räume. Nicht dass mir einer von denen geholfen hätte, aber Kyle hätte das nie vor Zeugen gemacht...«
»Was hat er gemacht?«, grollte der Vampir finster. Garrett konnte das Rot seiner Augen sehen.
»Ich duschte also und trocknete mich gerade ab, als sie kamen… Kyle, Stephen und Neil. Und die Umkleide war leer. Sie lachten, als sie mich sahen, beleidigten mich als Bohnenstange, halbes Hemd und wurden komischerweise nicht müde, sich über… naja… meinen Penis auszulassen. Ich weiß nicht mehr, was ich gesagt habe, aber das hat ihnen nicht geschmeckt. Stephen hat mir ins Gesicht geschlagen und meine Lippe fing an zu bluten. Er und Neil hielten mich danach fest. Kyles Gesichtsausdruck habe ich bis heute nicht vergessen. Ich stand da mit nix an und er glotzte mich an wie… Ware auf einem Markt. Seine Augen glitzerten und er grinste fies. Als er sagte, vielleicht sollte er mir kleinen Schwuchtel eine Lektion erteilen, wusste ich sofort, was er meinte.«
Dionysos stieß ein fürchterliches Knurren aus und war bereits halb aus dem Bett, als Garrett ihn festhielt.
»Was wird das?«
»Ich bring' ihn um, das wird das!«, fauchte der Vampir gereizt, doch Garrett zog ihn ins Bett zurück.
»Dazu besteht kein Grund. Es ist nichts passiert. Bevor er auch nur irgendwas versuchen konnte, kam nämlich unser Sportlehrer rein. Er wollte duschen, weil die Lehrerdusche defekt war und dachte, wir wären alle schon weg. Er scheuchte Kyle und die anderen brüllend raus, weil sie Straßenschuhe anhatten und befahl mir, mich anzuziehen, bevor ich mir den Tod holen würde. Aber von dem Tag an...«
»Hast du Angst, dass es ihm irgendwann gelingt, dir wirklich Gewalt anzutun«, grollte Dionysos neben ihm und Garrett nickte.
»Das wird nicht passieren! Vorher kastriere ich den kleinen Scheißkerl und zwinge ihn, seinen Schwanz scheibchenweise aufzufressen, das schwöre ich dir!«
Garrett lächelte, doch etwas am Tonfall des Vampirs ließ ihn glauben, dass er das nicht nur so dahin sagte, weil er sauer war.
»Du meinst das ernst, nehme ich an?«
»Ich könnte es ihm auch in seinen eigenen Arsch stecken, damit er merkt, wie das ist, mit Gewalt genommen zu werden«, brummte der Vampir und Garrett betrachtete seinen dunklen Umriss.
Richtig, Dionysos wusste das. Wusste, wie es war, vergewaltigt zu werden. Kein Wunder, dass er da so gereizt reagierte.
Mit einem Gähnen streckte sich Garrett, bis sein Rücken knackte und drückte sich mit einem Grinsen in die Arme des Vampirs.
»Du bekommst sicher noch Gelegenheit, ihm so richtig Angst zu machen«, murmelte er und spürte die Vibration, als Dionysos lachte.
»Ich glaube, Kyle ist schwuler als du es bist.«
»Warum?«
»Die meisten Menschen, die sich so über andere aufregen, versuchen nur, etwas an sich selbst zu verbergen. So schimpft ein unentschlossener Hetero eben über die 'schlimmen Schwulen'. Und später sind es diese Leute, die beim Sex mit einem männlichen Stricher erwischt werden.«
»Na mir ist egal, auf was Kyle so steht, solange er mich in Ruhe lässt.«
»Vielleicht ist er deswegen so pissig zu dir, weil er insgeheim auf dich steht, das nicht wahrhaben will und dich für seine Verwirrung bestraft. Wäre nicht das erste Mal...« Dionysos' Stimme grollte wieder etwas.
»Ah, was soll ich denn mit Kyle…?« 'Wenn ich dich haben kann!', ergänzte Garrett den Satz im Gedanken und grinste.
»Was du brauchst, ist Schlaf. Also Augen zu jetzt!«
Garrett fühlte Dionysos' kühle Lippen auf seiner Stirn.
»Henry?«
»Hm?«
»Gute Nacht.«
Zum ersten Mal, seit Garrett in der Hütte schlief, erwachte er vor Dionysos. Eine Weile betrachtete er den schlafenden Mann, die langen dichten Wimpern und die hauchzarte Rosafärbung seiner Wangen trotz seiner blassen Alabasterhaut.
Fast vergnügt erhob er sich und verließ leise das Zimmer. Es war still in der Hütte. Nikodemus schlief – trotz Dionysos' Warnung, ihn zu essen – auf dem Küchentisch und niemand war da. Waren sie auf Patrouille?
Es war 5 Uhr morgens laut Küchenuhr und Garrett wusste nicht einmal, wo die Vampire schliefen, wenn sie schliefen. Auf dem Sofa im Wohnzimmer schlief schon mal niemand, das war selbst für Anouk zu kurz.
Ein komisches, kullerndes Geräusch vom Dach ließ Garrett aufhorchen. Trieben sich hier Ghoule rum?
Er sah seinen Baseballschläger neben der Tür stehen, nahm ihn und schob sich langsam aus der Hütte in das fahle, morgendliche Sonnenlicht.
Als er eine Bewegung hinter sich vernahm, wandte er sich um, den Schläger voran.
»Haha. Zu früh für Frühsport, Kumpel.« Der Texaner mit dem Cowboyhut, Jack, lachte ihm ins Gesicht und umklammerte Garretts Waffe mit den Fingern.
»Sorry, ich dachte… da wären vielleicht Ghoule.«
»Ghoule vertragen kein Tageslicht. Es bin nur ich. Ich hab Schwierigkeiten mit der Zeitverschiebung. Texas liegt 6 Stunden hinter uns, da wird es gerade jetzt erst richtig dunkel im Sommer. Und ich würde zu Abend essen.«
»Soll heißen, du hast Hunger?« Garrett hob die Augenbrauen und Jack grinste fangzahnblitzend.
»Tierischen Kohldampf, ja. Aber erstens ist Will eigen mit seinem Wildbestand, sodass ich ohne seine Zustimmung nicht jagen gehe. In die Stadt gehe ich deinetwegen nicht und vom Kühlschrank halte ich mich lieber auch fern, sonst ist er leer.«
»Und wenn ich uns was mache? Henry schläft noch und die anderen…«
»Schlafen auch. Im Keller. Du nennst ihn Henry?«
»N-nein, ich glaube, das mag er nicht… aber ich kenne den Namen. Allister hat ihn ausgeplaudert. Warum nennst du ihn Will?«
»Als ich ihn kennenlernte, stellte er sich so vor. Als William. Ich hielt ihn damals für einen Menschen, ich war ja selbst einer. Da wäre 'Dionysos' sicher nicht so passend gewesen.«
»Hieß sein Vater William?«
Jack nickte und erhob sich von der Bank.
»Er hat einen Groll auf seinen Vater wie ich auf meinen. Vielleicht kümmert es ihn deswegen so wenig, wenn die Leute ihn unter diesem Namen kennen. Solange nur niemand seinen eigenen Vornamen beschmutzt.«
»Das versteh' einer...«, murmelte Garrett und folgte dem Amerikaner in die Küche.
»Heute sind Menschen nicht mehr so heikel damit, aber es gab eine Zeit, da sprach man Namen magische Kräfte zu. Unser Dionysos stammt aus dieser Zeit, wo hier und da trotz des allmächtigen Christentums noch heidnische Bräuche durchkamen. Lassen wir ihm seinen Willen, es gibt Schlimmeres. Spiegeleier?«
Garrett nickte und nahm die Eierschachtel entgegen. Er briet zügig das Dutzend Eier und ließ es sich dann mit Jack schmecken.
»Du, sag mal, Jack?«
»Ja?«
»Du kannst doch sicher… also, du kannst doch sicher kämpfen, oder?«
»In erster Linie kann ich schießen, aber wenn ich kein Gewehr habe, weiß ich mich schon zu verteidigen. Da reicht dann auch ein Stock – oder ein Baseballschläger. Warum fragst du?«
»Kannst du es mir beibringen? Kämpfen? Schneller und stärker zu werden? Vielleicht sogar schießen?«
Jack lächelte und leckte sich die Finger ab. »Warum fragst du nicht Will?«
»Ich… ich falle ihm schon genug zur Last«, murmelte Garrett und schob dem Kater etwas Ei zu.
»Also hast du beschlossen, lieber mir zur Last zu fallen?«
Garrett sah den blonden Texaner betroffen an und presste dann die Lippen zusammen. Jack lachte und sah ihn nachdenklich an.
»Ich helf' dir gern. Wills Freunde sind meine Freunde. Das erste, woran du arbeiten musst, ist dein Selbstbewusstsein. Und an deinem Vertrauen zu uns. Will hat uns hergerufen, weil er die Stadt für dich beschützen will. Wir bleiben aus Loyalität zu ihm und zu dir. Und weil wir alle diesen Scheißkerl Allister hassen. Du fragst dich vielleicht, warum Will das alles macht, wo er doch so ein großer Menschenhasser ist. Weil er eben keiner ist und Vampire nicht immer abgrundtief böse sind. Es kommt nur darauf an, für welche Seite man sich entscheidet. Sein Ruf und seine Vergangenheit sind eine Tatsache, doch im Moment kämpft er nur für dich. Und du hast viel mehr auf dem Kasten, als du dir selbst zutraust. Dein Schlag neulich war nicht von schlechten Eltern und du hast ein gutes Auge für Entfernungen. Will hat erzählt, du fotografierst?«
Garrett nickte.
»Dann lass uns noch etwas essen und wir fangen an. Damit du bald mit deiner Kamera deine Schlachtenerfolge festhalten kannst.« Jack schaufelte noch mehr Ei auf seinen Teller.
»Wie willst du anfangen?«, fragte Garrett misstrauisch. Auf Dauerlauf durch den Wald hatte er keine Lust.
»Schnell genug bist du, das hat dein kleiner Lauf neulich bewiesen. Deine Reflexe könnten sensibler sein und natürlich die Schlagkraft. Nichts, was sich nicht mit etwas Krafttraining erzielen ließe. Verdammt, diese Eier sind der Wahnsinn.«
Jack kaute mit vollen Backen und seine Augen blitzten vergnügt und zufrieden.
Garrett fragte sich, ob es so gut war, den resoluten Texaner um Hilfe zu bitten. Allerdings wären die anderen sicher ebenso energische Lehrmeister, dessen war sich der Junge sicher. Aber alles war recht, wenn er nur lernte, sich etwas besser selbst verteidigen zu können. Dionysos konnte nicht immer den Aufpasser spielen.
»Und was genau wäre deine erste Trainingsdisziplin?«
Jack grinste mit jugendlicher Unschuldsmiene. »Och, ich denke, für den Anfang tun es ein paar Stockschläge.«