Es wurde dunkel, und die Grillen zirpten, als der letzte rote Schleier der Dämmerung verblasste. Die Eine Präsenz war da, schützend und liebevoll lag sie wie ein Mantel um die Schultern des Menschenkindes und schien zu flüstern: Hab keine Angst, ich bin da und ich wache.
Fichten und Kiefern standen stumm und beinahe reglos in einer kaum spürbaren Brise, die nur das Sommergras erzittern ließ. Ein Moment, ein magischer Moment und es war, als hielte die Welt den Atem an. Schließlich, irgendwann, nach einem Augenblick, der genauso gut hätte Jahre währen können, verblasste er, schleichend still, wurde eins mit der Dämmerung, versank. Kupferweiß blickte der Mond wie durch eine Mattscheibe.
Nur eine Sehnsucht blieb.
Es war dunkel, und die Grillen zirpten. Das Menschenkind saß auf einem moosigen Baumstumpf, der von versehrter Natur und zerrissenen Träumen kündete. Etwas Wärme, danach verlangte es das Menschenkind – ›nur ein wenig, ein wenig nur, nicht viel‹. Doch die Eine Präsenz widersprach. Nein, lass das Licht ruhen. Die Nacht ist nun dein, erwecke sie nicht.
Es gehorchte, vergaß für kurze Zeit die lockende Vision von knisternder Wärme und tröstenden roten Flammen auf ihrem glühenden Bett. Doch das verführerische Bild war nicht entschwunden, nur verschoben; und so kam es wieder, das Gesicht, irgendwann, als Zweifel in ihr Herz einzogen und es zusammenzupressen begannen. Fichten und Kiefern standen in stummer Eintracht und nahezu reglos, der Wald war groß und dunkel. Kein Feuer, mach kein Feuer.
Doch die Sehnsucht blieb.
›Aber ein wenig Licht, ein wenig nur, nicht viel …‹
Die Sehnsucht blickte gen Himmel, streckte sich den Sternen entgegen. Die Eine Präsenz erzitterte in einem schweren Seufzer.
Kein Feuer, mach keins.
›Die Nacht ist gefährlich. Der Wald ist groß und dunkel.‹
Argumentieren. Verzweiflung. Einsamkeit.
Kein Feuer, mach keins.
Verzweiflung. Einsamkeit.
Du bist nicht allein.
Es war dunkel, und es war still. Befangenes Schweigen wälzte sich zwischen den gedrungenen Nadelbäumen, raschelte im Unterholz und seufzte in der Brise einer jungen Abendkühle. Schatten huschten von Stamm zu Stamm. Plötzlich fehlte etwas. Der Mond, wo war der Mond?
›Ein Feuer, nur ein kleines Feuer.
Ein wenig nur, nicht viel.‹
Die Eine Präsenz schwieg. Niemand würde seine Meinung ändern; es war ein starrer Zeitpunkt der Atemlosigkeit.
Wolken zogen auf, durchbrachen das Fischernetz winziger blinzelnder Lichter und unterbanden seinen Versuch, die Nacht im All auszusperren.
Doch die Sehnsucht blieb.
Und auf einmal öffnete sich da ein Raum, ein Wimpernschlag eines Moments, ein sanfter Kuss der Zeit; und es blitzte aus den Sternen.
… Ausatmen … ein schwacher Luftzug, keine Konkurrenz für die traurig durchs Gras wandernde Brise …
… Einatmen … schwer und ölig, und es schwappte ein in Hals und Lunge …
Und dann, kurz bevor es wieder vorüber war – nutzte »Etwas« seine Gelegenheit. Wanderte im Atem. Wanderte, erkundete. Erkundete Fleisch und Blut, legte sich um Niere und Herz. Das Dunkel sang.
Entzückt und gleichwohl erschrocken verschluckte sich das Menschenkind an einem Gedanken, der nicht der seine war.
Und der Gedanke atmete weiter. Dem Menschenkind gefiel, was es dachte.
Kaum wahrnehmbar nur – beinahe zu leise, um es vom Wind zu unterscheiden – schwebte es zwischen den Kiefern: ›Ein Feuer, mach ein Feuer.‹
Verlockend. Gefährlich. Süßes Verlangen.
Die Sehnsucht wuchs.
Die Eine Präsenz regte sich unruhig. Plötzlich saß sie dort, still, auf einem verwitterten Stein, dem Menschenkind gegenüber, während diesem nun aber die Kälte in die Knochen fuhr. Während die Nacht atmete, aber der Mond nicht schien – wollte er nicht scheinen? –, während Schatten von Stamm zu Stamm huschten, bewegten sich seine Finger, instinktiv, von nagendem Wunsch getrieben. In den Händen hielt es etwas und plötzlich sprang ein Funke zu Boden und entzündete trockenes, aufgeschichtetes Holz zwischen drapierten Randsteinen. Flammen schossen hervor, und ein Feuer begann wie von selbst daraus hervorzuwachsen.
Wärme. Licht. Geborgenheit.
Es war nicht mehr dunkel, und es war nicht mehr leer.
Leises Seufzen wehte im Dunkeln, melancholisch zuerst, doch mit einem Hauch von Eis. Die Brise frischte auf und gewann an Kraft. Die Eine Präsenz berührte seine Schultern. Gleichzeitig zwei funkelnde Augen, schwärzer als die Schatten, im Dunkel des Waldes. Starrten.
Das Menschenkind schoss in die Höhe, von plötzlich erwachender Panik ergriffen, begriff. Ein Fehler, zwei Fehler: Kein Licht, wenn sie nicht erwachen soll – sie, die Nacht.
Es kam zwischen den Bäumen hervor. Schwarze Augen näherten sich ihm, rote Flammen spiegelten sich in ihnen und die Brise war kalt, eiskalt. Die Brise wurde zu Wind. Der Wind begann zu stürmen.
›Oh verzeih mir meinen Fehler‹, flehte das Menschenkind, dem die Erkenntnis im Blut gerann, vor Angst halb von Sinnen, ›Ich konnte nicht widerstehen, konnte es nicht. Bitte, hilf mir!‹
Ich bin da, antwortete die Eine Präsenz. Warum hörst du mir nicht zu? Ich bin immer da.
Etwas schälte sich aus den Schatten, langsam trottete das Etwas auf das Feuer zu. Heiseres Wispern drang an seine Ohren. Wispern, zwischen Kiefern.
›So hilf mir doch!‹
Ich bin da. Ich gebe Ratschläge, wenn sie nötig sind. Nur, wenn sie wirklich nötig sind. Aber willst du sie? Brauchst du sie?
Kalte, schwarze Augen, hinterlistig, fast dämonisch funkelnd.
›Aber natürlich, natürlich will ich!‹
Mach kein Feuer, erwecke nicht die Nacht. Mach keins.
Ein zweites Wispern. Verlockend. Gefühlloser Reif auf schwarzem Glas. Flammen und Sterne, sie tanzten umeinander.
Du aber hast ein Feuer entfacht.
Kalte, schwarze Augen. Näher schon. Zu nah!
›Bitte‹, flehte es. ›Nur eine Chance, nur eine noch, einzig doch.‹
Der Wind flüsterte eine golddunkle Legende. Die Eine Präsenz erhob sich. Blickte das Menschenkind an. In es hinein. Es blickte zurück, wartend, hoffend. Sie suchte nach Lüge, nach Selbstverleugnung. Fand sie. Doch die Angst überwog und die Angst war ehrlich. Wallte dort wie eine die Sicht verdunkelnde, in den Lungen kratzende Wolke und alles in ihm schrie, schrie, denn diese Furcht erstickte das Licht – und das Feuer erlosch.
Etwas veränderte sich, in der Luft, im Atem. Auf donnernden Hufen raste das Herz.
Lauf!, zischte die Eine Präsenz. Lauf so schnell du kannst, und sieh nicht zurück! Der Wind der Veränderung weht. Du musst mit ihm fliegen. Du hast das Feuer entfacht, und es wird sich im Land verteilen, unaufhaltsam, denn es wird dem Wind nachfolgen!
Das Menschenkind rannte los, hinein in die Dunkelheit des Waldes, in dem Versuch, ebendieser zu entfliehen …
•••
Im Vakuum unwirklicher Stille wisperte das Dunkel weiter.
Stunden waren es, vielleicht gar nahe dem Ende des dunklen Tageszyklus, als die Reste des Feuers zu schwelen aufhörten.
Die Nacht, oder das Etwas darin, vollkommen versunken in Selbstreflexion, summte vor sich hin. Schatten lang erloschener Flammen tanzten in ihren Augen. Sterne krönten ein Gesicht, von Raureif umrahmt.
Sie summte das Lied, in sich selbst komponiert, voll zuckender Ängste im Stundenglas, erinnernd im Spiegel der Vergangenheit.
Und die Sehnsucht blieb.