Der Schrei zerfetzte die Nacht über dem Brandenburger Land. Nager klammerten sich in ihren Höhlen voller Angst an ihre Gefährten, Rehe fuhren aus dem Schlaf und selbst den Wölfen sträubten sich die Nackenhaare. Sie wussten, wer diese in einen einzigen Laut gepackte Mischung aus Hass, Wut und schierer Verzweiflung ausgestoßen hatte. Samira hatte zu ihnen gehört, bevor sie das Rudel verlassen und mit dem Einzelgänger Dahak eine neue Familie gegründet hatte.
Das Rudel hob die Schnauzen zum Mond und heulte seine Antwort hinaus in die Nacht. Es sandte der alten Wölfin sein Mitleid, sagte ihr, dass es die Trauer mit ihr teilte.
Viele Kilometer entfernt ringelte sich eine Straße aus einem Wald und hier kauerte Samira auf dem Asphalt. Bis vor ein paar Stunden war sie noch eine stolze Mutter mit zwei fröhlich bellenden Welpen und einem starken Gefährten an ihrer Seite gewesen. Die Schnauze mit der langen Narbe zwischen den Augen nach oben gereckt, heulte sie ihren Schmerz ins Dunkel und wie zähe Tropfen rannen die Laute aus ihrer Kehle, ohne Rhythmus und ohne jeden Sinn. Wäre sie ein Mensch gewesen, so wäre das Leid in einem salzigen Sturzbach aus ihr herausgeströmt. Aber sie war kein Mensch, sie war ein Wolf und Wölfe weinen nicht.
Zwei Dolche aus weißgelbem Licht stachen nach ihren Augen, Samira flüchtete in die Deckung der Bäume und fletschte in ohnmächtiger Wut die Zähne. Kaum war der Wagen vorbei, trottete sie wieder zu ihrem Platz auf der Straße. Wie oft sie das in den vergangenen Stunden getan hatte, wusste sie nicht. Etwas in ihr befahl ihr, hier auszuharren und so setzte sie sich auf die Hinterpfoten wieder neben den feuchten Fleck auf dem Asphalt und blickte auf das Land vor ihr, ohne es wirklich zu sehen. Nur dieser Fleck war von ihren Kindern und ihrem Gefährten geblieben, das süße Weh spitzer Zähnchen an ihren vollen Zitzen war Vergangenheit, genauso wie das Wohlbefinden, mit dem sie sich um die beiden Fellknäuel gerollt und sie vor der beißenden Nachtkälte geschützt hatte. Was hätte sie darum geben, es noch einmal erleben zu dürfen, aber ihr Instinkt sagte ihr, dass sie niemals wieder Kinder aufziehen würde.
Der Himmel graute im Osten und Samira schrie ein letztes Mal den Schmerz um ihre Kinder und ihren Hass auf die Menschen, die ihr das angetan hatten, in die Dämmerung hinaus. Auf die Antwort des Rudels, das sie um Dahaks willen verlassen hatte, hörte sie nicht mehr. Sie wendete sich nach Westen und der Wolfstrott, in den sie für ihre letzte Wanderung fiel, brachte sie fort von diesem Ort, an dem sie glücklich gewesen war.
*
„Gibt es hier Wölfe?“ Markus murmelte die Frage mit halbgeschlossenen Augen und Maria, die ihrem Sohn die Geschichte von der weißen Wölfin und ihrem Freund Lobo in Mexiko vorgelesen hatte, dachte über die Frage nach. Sie war versucht, ihm zu erzählen, dass es bis vor einigen Jahren hier in Stern Buchholz tatsächlich welche gegeben hatte. Diese Wölfe hatten Uniformen und Stiefel getragen und jeden Tag auf dem großen Übungsgelände hinter den Häusern den Krieg geprobt. Aber Markus hätte das noch nicht verstanden.
1990 war die Wende gekommen, die Wölfe hatten ihre Uniform ausgezogen, waren nach Westen ins gelobte Land gewandert und hatten die Schafe sich selbst überlassen. Doch eine fette Herde weckt Begehrlichkeiten und so waren neue Raubtiere auf der Bildfläche erschienen. Sie hatten sich nicht sehr von den vorherigen Herren unterschieden – nur das sie statt Stiefeln elegante Schuhe, und statt der Uniformen teure Anzüge getragen hatten. Ihre Macht hatten sie nicht mit Kalaschnikow und Parteibuch, sondern mit Geld und Rücksichtslosigkeit ausgeübt. Für Maria hatte das keinen Unterschied gemacht, denn für sie war das Ergebnis das Gleiche geblieben.
Sie seufzte. „Nein Markus. Es gibt keine Wölfe in Schwerin. In Brandenburg, das ist zweihundert Kilometer weg von hier, leben einige. Aber die kommen nicht bis hierher.“
Wie bei allen Kindern wurde auch bei Markus die Beantwortung einer Frage zur Geburtsstunde von zwei neuen. „Aber Mama, du hast mir doch erzählt, das vor kurzem da Wolfskinder überfahren wurden. Was, wenn die Mutter jetzt da wegläuft und hierher kommt?“
Sie schüttelte die kurzgeschnittenen Haare. „Wölfe haben ihr Revier und da laufen sie nicht so einfach weg“.
Markus überlegte und nickte dann. Das kannte er von Laika. Die lief auch nie weg. „Mama, wenn Bianca so eine kluge Wölfin war, warum hat sie dann nicht einfach den Strick durchgebissen und sich befreit?“
Maria ärgerte sich. „Wenn du doch in der Schule auch so viel fragen würdest!“, hätte sie ihrem Sohn am liebsten an den Kopf geworfen. Aber dann hätte er wieder mit ihr darüber diskutiert, dass Tiere viel interessanter waren als Mathematik und Schreiben. Entsprechend schlecht waren auch seine Schulzeugnisse.
Wenn es nur das gewesen wäre. Es verging keine Woche, in der Markus nicht irgendein Tier mit nach Hause brachte, das er im Wald gefunden hatte. Auch heute hatte er wieder einen Spatz mit einem gebrochenen Flügel angeschleppt. Sie hatte Markus vor die Wahl gestellt. Entweder er brachte das Vieh nach draußen oder sie würde es tun. Die Diskussion mit ihm war kurz gewesen und hatte mit einem toten Vogel, einer zuknallenden Stubentür und einem weinenden Kind geendet. Sie hatte sich nicht mehr anders zu helfen gewusst. Markus wurde immer trotziger, wenn es um seine Tiere ging und die Diskussionen mit dem Neunjährigen gingen über ihre Kräfte.
„Mama!“
Sie schreckte aus ihren Gedanken auf. „Sie liebte Lobo über alles, und als er in seiner Falle erschossen wurde, wollte auch sie nicht mehr leben.“
„Das macht die Liebe?“ Markus zog die Bettdecke bis über das Kinn, als würde nach dieser Antwort seiner Mutter die Dezemberkälte im ungeheizten Schlafzimmer darunter kriechen. „Mama, dann will ich nie, nie, nie lieben und immer bei dir bleiben.“
Ein Lächeln glättete die Müdigkeitsfalten in Marias Gesicht und sie strich Markus über das blonde Haar. Sie wusste, dass die Liebe einen festen Platz in seinem Herzen hatte und wenn es nur die zu den Tieren im nahen Wald und zu seiner Mutter war. Sie zog ihm die Decke zurecht, stand vorsichtig auf, ging zur Schlafzimmertür und schloss sie leise hinter sich.
*
In der Nacht war viel Schnee gefallen und Markus musste sich anstrengen, um die Haustür zu öffnen. Noch immer rieselten Flocken aus den tief hängenden Wolken und bedeckten den Weg und die Sträucher mit glitzerndem Zuckerguss.
Er hatte keinen Blick für die Schönheit der Natur. Ohne eine Sekunde zu zögern, stapfte er an der Hauswand entlang durch den Schnee und hielt dabei nach Laika Ausschau. Er musste nicht lange suchen, denn zwei braune Knopfaugen und eine schwarze Hundeschnauze lugten bereits um die Ecke des Wohnblocks. Er blieb stehen, nahm seinen Ranzen vom Rücken, fischte darin nach seinem Schulbrot und wartete auf seine Freundin.
Seit der Morgendämmerung hatte die alte Schäferhündin auf Markus gewartet. Wie immer witterte sie nach allen Seiten und schlich erst, als sie keine weiteren Menschen in der Nähe roch, tief geduckt zu ihm. Sie musste sich dabei auf ihre Nase verlassen, denn mit ihren Augen sah sie nur verschwommene Umrisse und auch dann nur, wenn sie nahe genug waren. Seit ihrer Flucht aus dem Zwinger, in dem sie jeden Tag geprügelt worden war, lebte sie in den Wäldern hinter den vier Wohnblocks und mied Menschen, wann immer sie einen sah oder roch. Nur für Markus machte sie eine Ausnahme, schließlich war er ja noch kein richtiger Mensch, er schnupperte anders als die Großen, war immer freundlich und spielte mit ihr, wenn sie ihm im Wald begegnete.
Sie erreichte Markus und reckte noch einmal die Nase in den Wind, aber er trug ihr keine bedrohlichen Gerüche zu und so hob sie den Kopf und leckte mit ihrer nassen Zunge über seine Wange.
Markus schüttelte sich, stieß ein lautes „Brrr“ aus und fuhr sich lachend mit dem Jackenärmel übers Gesicht. „Guten Morgen Laika. Ich habe dir dein Frühstück mitgebracht.“
Er flüsterte, denn seine Mutter durfte nicht wissen, dass er Laika jeden Morgen sein Essen gab.
Sie setzte sich auf die Hinterpfoten, legte den Kopf schräg und ließ die Augen nicht von der rechten Hand des Jungen. Er ging vor ihr in die Knie, hielt ihr sein Butterbrot vor die Nase, und während ihre mächtigen Kiefer mahlten, schlang er seine Arme um sie und vergrub seinen Kopf in ihrem Nackenfell. Dann stand er auf, sagte „Komm!“ und stapfte mit der Schäferhündin an seiner Seite unter den Bäumen entlang zur Bushaltestelle an der Bundesstraße 106.
Wie jeden Morgen hatte Maria durch die Gardine vor dem Küchenfenster Markus und die neben ihm herhinkende Hündin mit einer Mischung aus Ärger und Freude beobachtet. Ein ausgewachsener, herrenloser Schäferhund war kein Spielzeug für ein kleines Kind. Doch dann dachte sie an die Worte von Markus gestern Abend und zog mit einem Schulterzucken die Gardine wieder vor das Küchenfenster. Die Hündin liebte ihn und er war glücklich mit ihr. Morgen würde sie für ihn wieder zwei Brote mehr schmieren.
Für Markus verging der Unterrichtstag gar nicht schnell genug. Sehnsüchtig wartete er auf das letzte Klingeln der großen Glocke im Schulflur und kaum hörte er den ersten Ton, spurtete er los, um den nächsten Bus noch zu erreichen. Der Sonnenrand berührte bereits die Wipfel der Fichten im Wald hinter den Häusern von Stern-Buchholz, als ihn der Schulbus endlich an der Haltestelle entließ. Er rannte nach Hause, so schnell ihn seine Füße trugen, warf seinen Schulranzen in den Flur und lief in den Wald.
Laika erwartete ihn meistens unter den ersten Bäumen hinter dem Wohnblock, die ihr gerade noch Deckung boten, aber heute kam sie auch auf seine Rufe nicht. Er zuckte die Schultern und stapfte alleine los. Sie würde ihn bestimmt bald einholen, schließlich waren sie ja Freunde.
Nach einer Weile, in der er, ohne darüber nachzudenken, einer frischen Spur im Schnee gefolgt war, hörte er Stimmen und nun war ihm klar, warum Laika nicht kam. Vor zwei Wochen war in den Wohnblock gegenüber eine neue Familie eingezogen und deren Sohn Dieter war ein Jahr älter als Markus. Dieter und sein Vater wurden jeden Morgen von einem großen schwarzen Auto abgeholt und die Mutter brachte Dieter nachmittags mit ihrem eigenen Auto wieder aus Schwerin zurück.
Schon das waren zwei Gründe für Markus, Dieter nicht zu mögen. Seine Mutter konnte sich kein Auto leisten und Dieters Eltern hatten gleich zwei davon. Noch schlimmer war, dass sie manchmal zwei Freunde von Dieter mitbrachte, die dann zu dritt im Wald auf Abenteuersuche gingen. Er fand das gemein. Der Wald war das Reich von ihm und seiner Laika. Dieter hatte ihm gesagt, dass er ihn verprügeln würde, wenn er ihn einmal allein im Wald erwischen würde. Aber Markus hatte immer Laika bei sich gewusst und Dieter ausgelacht. Jetzt war Laika nicht da und Dieter kam mit seinen Freunden auf ihn zu. Markus dachte mit klopfendem Herzen daran, was nun passieren würde.
Dieter freute sich diebisch. Sein Vater hatte ihm immer wieder beigebracht, wie wichtig es wäre, sein Revier abzustecken und das auch jedem zu zeigen. Vom ersten Tag an hatte er diesen Wald hinter den Häusern zu seinem Reich erklärt. Doch jedes Mal, wenn er mit seinen Freunden hier gespielt hatte, war der blöde Schwächling Markus mit seinem Köter aufgetaucht und hatte ihnen den Spaß verdorben. Das würde sich heute ändern! Er blickte sich suchend um, aber der Hund war nirgends zu sehen. Er grinste seinen beiden Freunden zu und beschleunigte seine Schritte, bis er vor Markus stand. „Hau ab hier. Das ist mein Revier, du kleiner Scheißer!“
Sie waren zu dritt, alle größer als Markus und er dachte beklommen daran, wo Laika sein mochte. Aber sie zeigte sich nicht und so presste er die Lippen zusammen und blieb stocksteif stehen.
Dieter trat einen Schritt auf Markus zu und stieß ihn mit beiden Händen vor die Brust. „Hau ab hier, habe ich gesagt. Bist du taub?“ Seine beiden Freunde lachten.
Markus taumelte in den Schnee, rappelte sich aber schnell wieder auf. Er war kein Feigling und schrie Dieter wütend an: „Ich bin schon viel länger hier als du!“
Einer der Jungen stachelte Dieter an. „Lässt du dir von so einem Dorftrampel widersprechen? Hau der Kröte doch eine rein oder traust du dich nicht?“ Er lachte höhnisch, und Dieter machte noch einen Schritt und schlug Markus mit aller Kraft in die Magengrube.
Wilder Schmerz durchzuckte Markus und er schnappte nach Luft, aber er hatte jeden Tag im Wald verbracht und seine Muskeln waren vom Spielen mit Laika stark geworden. Der Schlag hatte ihn nicht umgeworfen, sondern nur wütend gemacht. Mit einem Wutschrei sprang er auf Dieter zu, aber einer von Dieters Freunden stellte ihm ein Bein, er stolperte, dann traf ihn ein heftiger Stoß in den Rücken und er stürzte bäuchlings zu Boden. Der andere Junge sprang auf ihn, drückte ihn in den Schnee und riss seinen Kopf an den Haaren nach oben.
Dieter kniete sich vor das Gesicht von Markus, ballte mit einem gemeinen Grinsen die rechte Hand zur Faust und schwang wie in Zeitlupe den Arm nach hinten.
Markus fühlte bereits den Schmerz, mit dem die Faust in seinem Gesicht landen würde, da barst das Unterholz zwischen den Bäumen auseinander, Laika flog mit einem bösartigem Knurren durch die Luft und schnappte nach Dieters Arm. Wie eine zuschnappende Stahlfalle schlossen sich ihre Kiefer um seinen Arm, dann riss sie ihn mit einem gewaltigen Ruck von den Füßen. Sie hatte Recht gehabt, die Menschen waren alle böse und wütend grub sie ihre Reißzähne immer tiefer in Dieters Arm.
„Laika!“
Mit einem wilden Knurren fuhr ihr Kopf zu Markus herum, ohne dabei Dieters Arm loszulassen.
Markus kämpfte sich aus dem Schnee und versuchte, die wütende Laika von Dieter herunter zu zerren. Er brauchte alle seine Kraft dazu, denn sie war nicht bereit, ihr Opfer so einfach loszulassen. Schließlich gab sie nach, weil sie Markus nicht verletzen wollte.
Mit einer Gesichtsfarbe, die der des Schnees glich, in den ihn die Pranken der Hündin geschleudert hatten, richtete Dieter sich auf. Blut tropfte von seinem zerbissenen Arm in den Schnee, er presste seine freie Hand auf die Wunde und blickte voller Angst Laika an. Seine Freunde hatten längst das Weite gesucht und er wusste nicht, was er tun sollte. Einfach weglaufen wollte er nicht, das verbot ihm sein Stolz, aber gegen die Hündin konnte er nichts tun, sie war viel stärker als er. „Das wirst du bereuen. Ich lass das Vieh abknallen und du kommst ins Heim!“, stöhnte er schließlich mit vor Schmerz und Wut verzerrtem Mund.
Laika knurrte, es kam tief aus ihrer Kehle, erneut spannten sich ihre Muskeln und Markus schrie: „Hau doch endlich ab! Ich kann sie nicht mehr lange halten!“
Er war zu wütend, um über die Worte Dieters nachzudenken. Der sollte endlich aus seinem Wald verschwinden und ihn und Laika in Ruhe lassen.
Dieter warf noch einen wütenden Blick auf die Hündin, dann drehte er sich um und rannte seinen Freunden hinterher.
Markus schlang seine Arme um Laikas Hals. Sie zitterte noch immer vor Wut und er flüsterte ihr mit Tränen in den Augen in die aufgestellten Ohren: „Ich hab‘ dich lieb.“ Ihm kam nicht in den Sinn, dass er seiner Mutter nur wenige Stunden zuvor gesagt hatte, nie jemanden lieben zu wollen.
Nach einer Weile richtete er sich wieder auf, steckte seinen Zeigefinger in den Mund und lutschte daran, ohne es zu bemerken. Was sollte er jetzt tun? Laika hatte Dieter gebissen und dessen Vater würde bestimmt zu Mama gehen und sich beschweren. Markus blickte erst Laika an und dann zur Wohnsiedlung, deren Lichter durch die Bäume schimmerten. Seine Mutter war sicher noch nicht zu Hause, sie kam immer erst spät am Abend, wenn sie mit dem Putzen für die reichen Leute fertig war. Und dann war sie müde und hatte meistens schlechte Laune. Außerdem hatte auch noch nicht mit Laika getobt und deswegen war er doch in den Wald gelaufen...
Laika saß neben Markus und schaute zu ihm auf. Sie verstand ihn nicht. Er war doch hier, um mit ihr zu spielen und sie hatte seine Feinde vertrieben. Worauf wartete er denn noch? Sie drehte sich zu ihm und stupste ihn mit ihrer Nase. Markus fiel rücklings in den Schnee und sah sie überrascht an. Sie leckte ihm mit der Zunge über das Gesicht, sprang ein paar Schritte zur Seite, schaute ihn mit schräg gelegtem Kopf und wedelndem Schwanz an und schleudert ihm dann mit ihren Hinterpfoten Schnee ins Gesicht.
Das wollte Markus sich nicht gefallen lassen, er sprang auf, formte mit seinen Händen einen großen Schneeball und warf ihn nach ihr. Blitzschnell wich sie aus, drehte sich, sprang Markus an und drückte ihn wieder in den Schnee. Markus krabbelte unter ihr hervor und stupste sie dabei um. Beide kullerten jetzt durch die weiße Pracht und durch den Wald schallten Laikas fröhliches Gebell und das Lachen des glücklichen Markus.
*
Den ganzen Tag hatte Lothar Seidel seinen Wald nach Fallen abgesucht und war froh, endlich ins Warme zu kommen. Kaninchenfleisch war teuer in der Vorweihnachtszeit und es gab immer noch Leute, die auf diese Weise Geld sparen, oder noch schlimmer, Geld verdienen wollten.
Er klopfte den matschigen Schnee von den Filzstiefeln ab, die noch aus NVA-Beständen stammten, und hängte die nasse Wattekombi an eines der Rehgehörne, die ihm die Garderobenhaken im Flur ersetzten. Er musste seine zwei Meter klein machen, um durch die Wohnstubentür zu kommen, ohne sich den Kopf zu stoßen. Dreiundsechzig Lebensjahre hatten ihm zwar einen langen weißen Bart beschert, aber seinen breiten Rücken nicht beugen können.
Er suchte nach Streichhölzern, um Feuer im Kaminofen zu entzünden, da klingelte das Telefon. Mit zwei Schritten war er an seinem zerkratzten Schreibtisch und brummte „Seidel“ in den Hörer.
„Walter, Oberforstrat“, bellte am anderen Ende der Leitung eine wütende Stimme. Er sah erstaunt auf das verblichene Zifferblatt der alten Wanduhr – es war abends und nach acht. Er wollte gerade etwas sagen, da fuhr der Oberforstrat schon fort: „Ich bin soeben von sehr hoher Stelle angerufen und darüber informiert worden, dass in Ihrem Revier ein freilaufender Hund ein Kind angefallen hat. Stimmt das?“
Lothar Seidel zog die Stirn kraus. Ihm schwante nichts Gutes. „Ich denke, da muss ein Irrtum vorliegen. Hier …“
Der Oberforstrat fiel ihm ins Wort. „Es liegt ganz sicher kein Irrtum vor, wenn die Eltern einen Krankenwagen nach Stern Buchholz rufen, das Kind angibt, mit zwei Freunden im Wald gespielt zu haben und dabei von einem Hund, den es hier noch nie gesehen hat, gebissen worden zu sein. Übrigens hat auch der Notarzt die tiefe Bisswunde als von einem großen Hund stammend identifiziert!“
Lothar Seidel schwieg. Was hätte er auch sagen sollen? Er war nicht für jeden Hundebesitzer in der Gegend verantwortlich, der auf sein Tier nicht aufpassen konnte. Das wusste der Leiter der Forstbehörde am anderen Ende der Leitung auch. Warum machte er also so ein Brimborium darum?
Der Oberforstrat unterbrach die Gedanken Lothar Seidels: „Außerdem sind mir Informationen zugegangen, dass es sich dabei um einen herrenlosen Hund handelt, der seit einiger Zeit in Ihrem Revier herumstreunt, ohne dass Sie etwas dagegen unternommen haben. Haben Sie dafür eine Erklärung?“
In Lothar Seidels Hals machte sich ein dicker Kloß breit. Das konnte nur Laika gewesen sein und wenn sie tatsächlich ...
Die Stimme im Telefonhörer wurde gefährlich leise. „Nach meinen Unterlagen und bei Ihrer Vergangenheit als linientreuer Förster unter dem alten Regime hätten wir Sie nach der Wende gar nicht übernehmen dürfen. Wir haben da wohl einen Fehler gemacht. Möglicherweise ist Ihnen nicht klar, dass ein freilaufender, bissiger Hund ganz schlechte Publicity für unsere schönen, friedlichen Wälder ist. Schlechte Publicity verscheucht Investoren und Käufer. Das bedeutet, kein Geld für die Stadt und damit auch nicht für Ihren Arbeitsplatz.“
Er brüllte: „Morgen um acht will ich von Ihnen hören, dass das Problem erledigt ist, und zwar endgültig! Schaffen Sie Ordnung in ihrem Revier, sonst beseitige ich selbst den Müll – und Sie gleich mit!“
Lothar Seidel sank auf den klapprigen Stuhl vor seinem Schreibtisch und stützte den Kopf in die Hände. Wann war er das letzte Mal so rund gemacht worden? Es musste Ewigkeiten her sein, noch in seiner Armeezeit und eigentlich hatte er gedacht, dass es so etwas heute nicht mehr gab. In seinem Kopf drehte sich alles. Was sollte er jetzt tun? Welcher Hund hatte wen angefallen? War es tatsächlich Laika gewesen? War Markus etwas passiert?
Wie damals enthielt auch dieser Anschiss ein Höchstmaß an Drohung, aber nur ein Minimum an verwertbarer Information und er erinnerte sich, dass genau das der Zweck eines solchen Gebrülls war.
Er versuchte, seine Gedanken zu ordnen und griff mit zitternden Händen nach Tabak und Pfeife. Seit fast dreißig Jahren wachte er über den Wald zwischen Stern Buchholz, Boldela und Hasenhäge und hatte in dieser Zeit gelernt, die Bäume und Tiere darin mehr zu lieben als die Menschen.
Die neuen Herren hatten ihm beigebracht, dass er nicht mehr über Wald und Flur, sondern über eine ökonomische Größe, die in Hektar und D-Mark gemessen wurde, wachte. Sie diente als billiges Bauland für Unternehmen oder wurde ein profitabler, umzäunter Privatwald – und alles, was darin und darauf war, hatte zu funktionieren, keinen Ärger zu machen und Geld zu erbringen. War es früher die Höhe der Position im Parteiapparat, die in seinem Revier diktierte, war es heute die Dicke des Geldbeutels. Mehr als einmal hatte er erleben müssen, dass ein Gesetz oder eine Bestimmung einer „ökonomischen Notwendigkeit“ im Weg gestanden hatte und dann verlor immer das Gesetz. Und damit der Wald, die Tiere und die Menschen, die hier lebten.
Er war verbittert geworden, hatte sich immer mehr von den Menschen zurückgezogen und seine Zeit lieber im Wald verbracht. Dann hatte er eines Tages auf einem seiner Kontrollgänge in der Nähe von Stern Buchholz gesehen, wie der kleinen Markus zwischen den Kiefern mit Laika gespielt hatte, und auch wenn er ihnen nicht nahegekommen war, so hatte er die beiden doch aufmerksam beobachtet. Er mochte den Jungen, der nicht wie die anderen Kinder war und lieber im Wald als mit Computern spielte. Auch hätte er nicht erwartet, dass sich die alte Schäferhündin, die er hätte schon längst erschießen müssen, noch einmal einem Menschen anschließen würde. Der Leidensweg der Hündin war lang gewesen. Eingesperrt, geschlagen, verkrüppelt - und er hatte nichts dagegen tun können. Ihr Besitzer hatte sie einfach zurückgelassen, als er fortgezogen war. Bevor Lothar Seidel sie ins Tierheim, und damit wieder hinter Gitter bringen konnte, war Laika geflohen und er hatte gehofft, sie irgendwann friedlich eingeschlafen im Wald zu finden, damit er sie nicht erschießen musste. Bis dahin wollte er sie noch die Freiheit genießen lassen, von der sie ihr ganzes Leben durch die rostigen Eisenstäbe eines Hundezwingers getrennt gewesen war. Doch dann hatte sie sich dem kleinen Jungen angeschlossen und er hatte es nicht übers Herz gebracht, sie zu töten. Mehr noch, er hatte für die Hündin sogar Futter ausgelegt, damit sie in der kalten Jahreszeit nicht verhungerte.
Und jetzt hatte sie Markus angefallen. Wütend schlug er mit der Faust auf die Tischplatte. Seine Gutmütigkeit war schuld, dass der Hund das Kind schwer verletzt hatte. Er stand auf, ging zum Waffenschrank und nahm das großkalibrige Gewehr heraus. Er hatte einen Hund zu töten, der zur Bestie geworden war.
Missmutig schlurfte er zur Tür und zog die noch immer nasse Kombi über, da klingelte erneut sein Telefon. Ein Anschiss am Tag war genug, fand er, und er hatte keine Lust, sich noch einen abzuholen. Doch dann siegte sein Pflichtgefühl, er ging zurück in die Stube und nahm den Hörer ab.
Am anderen Ende der Leitung sprudelte eine aufgeregte Frauenstimme: „Hier ist Maria Müller. Herr Seidel, Markus ist mal wieder nicht nach Hause gekommen und die Hündin hat den Sohn vom Nachbarn gebissen. Ich mache mir solche Sorgen!“
Er setzte sich so vorsichtig auf den Stuhl, als hätte er Angst, dass der unter seinem Gewicht zusammenbrechen könnte. „Sagen Sie das nochmal …“
Maria schluchzte:: „Markus ist nicht nach …“
Er unterbrach sie: „Nein, das meinte ich nicht. Der Hund hat nicht Markus verletzt?“
„Nein, er hat den Sohn des Nachbarn in den Arm gebissen.“ Sie weinte hemmungslos. „Wenn er Markus auch angegriffen hat? Vielleicht liegt er jetzt irgendwo im Wald …“
„Nun beruhigen Sie sich mal. Ich werde ihn schon finden, aber Sie müssen mir genau erzählen, was passiert ist!“
„Markus hat wie immer seinen Ranzen nur ins Zimmer geworfen und ist in den Wald gelaufen. Als ich nach Hause gekommen bin, hat mir der neue Nachbar fast die Wohnungstür eingeschlagen und mich angeschrien, dass der räudige Köter von Markus seinen Sohn beim Spielen im Wald fast umgebracht hat.“
„War Markus dabei?“
„Nein, sein Sohn sei mit zwei Freunden unterwegs gewesen, als der Hund sie einfach so angriff und Markus hätten sie nirgendwo gesehen.“ Maria sprach nicht mehr weiter, immer wieder wurde sie von heftigem Schluchzen geschüttelt.
Er riss sich zusammen und legte in die nächsten Sätze seine ganze Überzeugungskraft. „Laika würde Markus nie etwas tun. Sie liebt ihn und würde ihn bis zum Allerletzten verteidigen. Sie würde sogar für ihn sterben, so sind Hunde. Wahrscheinlich steckt der Junge in irgendeiner Schneehöhle und hat mal wieder total die Zeit vergessen!“
„Meinen Sie wirklich?“
Er antwortete ruhig und sicher: „Aber natürlich. Sie kennen ihn doch. Ich werde losgehen, ihn suchen und wieder nach Hause bringen.“ Mit Gewalt zwang er ein Lächeln in seine Stimme. „Es wäre ja nicht das erste Mal, oder?“
Maria schniefte noch ein paar Mal, aber dann kam ihr „Danke!“
Er legte den Hörer so vorsichtig, als wäre er ein rohes Ei, zurück auf die Gabel. Was hatte das zu bedeuten? Laika hielt sich von Menschen fern und der einzige, dem sie sich näherte, war Markus. Sie würde nie ohne Grund jemanden anfallen, es sei denn, sie hätte die Tollwut. Doch die gab es in seinem Revier nicht. Oder doch? Ein einziger kranker Fuchs genügte und Laika war niemals geimpft worden.
Wieder begannen seine Hände zu zittern, denn wenn er die Hündin schon nicht ins Tierheim gebracht hatte, hätte er sich wenigstens darum kümmern müssen. Wenn Laika infiziert war, würde sie jeden Menschen an sich herankommen lassen und dann über ihn herfallen.
Er sprang auf, rannte zum Flur und riss das Gewehr an sich. Siedendheiß rannen ihm Schauer den Rücken hinab. Markus war da draußen im Wald, alleine. Ein kleiner Junge mit einer großen, tollwütigen Hündin.
*
Für Markus verging die Zeit wie im Flug. Er tobte mit Laika durch den Wald, warf mit Schneebhällen, denen sie immer geschickt auszuweichen wusste, nach ihr und entfernte sich dabei immer weiter von der Wohnsiedlung. Es kümmerte ihn nicht, schließlich war er nicht zum ersten Mal so weit weg und mit seiner Laika konnte ihm sowieso nichts passieren. Er kraxelte zu seinem Lieblingsaussichtsplatz hinauf, einem kleinen Hügel am südlichen Ende einer großen Fläche, auf der früher - so hatte seine Mutter es ihm erzählt - Männer in Uniformen Schießen geübt hatten. Laika stupste ihn mit der Nase in die Kniekehle, er ließ sich in den Pulverschnee sinken und schaute gemeinsam mit ihr in die Zauberwelt unter ihm. Der Mond leuchtete hell, der Wind ließ lustige Schneekobolde über die Ebene tanzen und das alles nur für ihn und seine Freundin.
Laika legte sich neben Markus, zog die Beine unter ihren Körper und hechelte ihren Atem als weißen Dampf in die Nachtluft. Auch sie war müde.
Nach einigen Minuten erstarb der Wind und die Schneegeister sanken in sich zusammen. Laika hörte auf, zu hecheln und kuschelte ihren Kopf in den Schoß von Markus.
„Gefällt es dir auch so hier?“, fragte er flüsternd seine Freundin. Er wollte nicht laut sprechen, es war so schön friedlich hier.
Sie hob den Kopf, warf einen Blick in die Runde und schnaufte durch die Nase, als wollte sie sagen: „Ja.“
Er schlang die Arme um sie, vergrub den Kopf in ihrem dichten Nackenfell und wäre am liebsten so eingeschlafen. Doch die Gedanken an sein Zuhause ließen ihm keine Ruhe. Wahrscheinlich sollte er lieber zurückgehen, sonst würde seine Mutter wirklich böse werden. Aber es war doch so schön friedlich hier …
Irgendwo knackte ein Ast. Laika spannte die Muskeln, reckte die Nase in den gerade wieder aufgekommenen Wind und nahm Witterung auf. Markus löste sich von ihr und schaute zum Wald, aber da war nichts. „Das war bestimmt ein Reh“, flüsterte er, doch das beruhigte sie nicht. Sie schüttelte seine Arme ab und richtete sich auf.
Da bewegte sich etwas zwischen den Bäumen, Laika stieß ein tiefes Knurren aus, warf noch einen Blick auf Markus, dann sprang sie mit einem Satz den Hügel hinunter und hetzte davon.
Mit dem Gewehr im Arm trat Lothar Seidel unter den Bäumen hervor, blickte Laika hinterher, drehte sich dann um und stieg den Hügel zu Markus hinauf. Markus fröstelte und das kam nicht nur von der Kälte. Er hatte Angst, obwohl er den Förster an seinem langen weißen Bart erkannt hatte. Der war ihm schon immer unheimlich gewesen und er mochte ihn nicht. Jedes Mal, wenn er ihn im Wald gesehen hatte, hatte er einen anderen Weg eingeschlagen, um ihm nicht begegnen zu müssen.
Lothar Seidel blieb vor Markus stehen und brummte: „Guten Abend, Markus. Deine Mutter macht sich Sorgen um dich!“ Seine Stimme hatte nicht laut geklungen, aber sie grollte wie das Knurren eines großen Hundes. Markus gab keine Antwort und zitterte am ganzen Körper.
Lothar Seidel zuckte die Schultern, sagte nur: „Komm!“, und drehte sich um. Ohne sich umzusehen, stampfte er den Hügel hinunter. Er hatte auf den ersten Blick erkannt, dass Markus am Ende seiner Kräfte und durchgeschwitzt war. Er würde sich garantiert eine Erkältung eingefangen haben. Doch Lothar Seidel war wütend und so baute er Markus keine Brücke. Der musste lernen, dass er nicht einfach davonlaufen konnte, schließlich gab es Pflichten und diese gingen auch an einem Kind nicht vorbei. Seine Mutter hatte es auch ohne seine ständigen Ausflüge weiß Gott schwer genug.
So schritt er stumm vor Markus her und schaute sich nur ab und zu um, ob der ihm auch folgte. Dass er mit seinen großen Stiefeln den tiefen Schnee weiter zur Seite schob, als er musste, sodass Markus es leichter hatte, ihm zu folgen, bemerkte er nicht. Dabei konzentrierte er sich mehr auf den Weg vor ihm als auf Markus, denn er musste den Spuren nachgehen, die das Kind und der Hund hinterlassen hatten.
Er dachte dabei an das Telefongespräch mit Maria. Zwar hatte er Markus gefunden und zum Glück unverletzt, aber deswegen war ihm noch lange nicht klar, was wirklich passiert war. Markus zu fragen, würde wenig Sinn machen. Der Junge mochte ihn nicht und wahrscheinlich würde er gar nicht oder nur ausweichend antworten, wenn er ihn nach der Geschichte mit Laika und Dieter fragte und so verzichtete Lothar Seidel darauf.
Ein Geräusch hinter ihm riss ihn aus seinen Gedanken und er drehte sich um. Markus war in den Schnee gesunken. Mit zwei Schritten war er bei ihm und setzte ihn mit dem Rücken gegen einen Baum. Er überzeugte sich, dass Markus nur müde war und ihm nichts weiter fehlte, dann brummte er „Warte hier!“
Er schaltete seine Taschenlampe ein und folgte den Spuren von Markus und Laika im Schnee. Nach wenigen Minuten fand er den Platz, an dem Markus und Laika mit Dieter und seinen Spießgesellen gekämpft hatten. Aufmerksam sah er sich jeden Eindruck im Schnee an und neben der Stelle, an der Markus niedergestoßen worden war, kniete er sich sogar hin.
Als er sich wieder aufrichtete, stand die gleiche Nachdenklichkeit in seinem Gesicht wie nach dem Telefongespräch mit Maria. Dieter hatte gelogen, er war Markus sehr wohl begegnet, und wie es aussah, hatte Laika eingegriffen, Markus verteidigt und dabei Dieter gebissen. Das war gar nicht gut.
Mit schnellen Schritten eilte er zurück und fand Markus schlafend am Baumstamm zusammengesunken. Er zog ihn aus dem Schnee und trug ihn auf seinen Armen nach Hause.
Es war fast elf Uhr in der Nacht, als er in seinen alten Lada Niwa stieg und mit dem Zündschlüssel den Motor aus dem Tiefschlaf weckte. Auf dem Weg zurück zum Forsthaus in Hasenhäge gingen ihm viele Gedanken durch den Kopf. Markus hatte seiner in Tränen aufgelösten Mutter alles erzählt und es deckte sich im Wesentlichen mit dem, was Lothar Seidel aus den Spuren im Schnee gelesen hatte. Er hatte auch noch gehört, wie Markus im Schlaf nach Laika gerufen hatte, und voller Frust schlug er auf das Lenkrad.
Laika hatte einen Menschen angefallen und niemand würde bei einer alten herumstreunenden Hündin wie ihr genauer nach dem „Warum“ fragen. Dieters Lüge würde nie ans Tageslicht kommen.
Er, Lothar Seidel, würde Laika jagen und erschießen müssen. Daran hing seine Arbeit und sie war sein Leben. Er hatte nichts anderes mehr. Markus würde ein paar Tage heulen, aber irgendwann würde er es vergessen haben. Die Welt, in der Markus leben musste, war eine Erwachsenenwelt, in der Kinder jeden Tag weinten. Wen störten da ein paar Tränen mehr oder weniger. Wen störte da, dass wieder ein Traum in dieser Welt starb. Oder das ein Junge, dessen Mutter nur Aushilfsputze war, ungerecht behandelt wurde? Gehört wurde immer nur die Stimme, die zählt.
*
Maria machte Frühstück für Markus und kochte sich dabei einen Kaffee, türkisch und stark. Es war ihr dritter in den letzten Stunden und wie auch die beiden zuvor, half er ihr nicht, eine Lösung für ihre Probleme zu finden. Es war kurz nach acht und sie musste eine Entscheidung treffen. Markus hatte die ganze Nacht tief und fest geschlafen, sie hatte mehrmals nach ihm gesehen und außer leichtem Fieber zeigte er keine Zeichen einer ernsthaften Erkältung. Aber sie kannte ihn gut genug, um zu wissen, was er tun würde, wenn sie am Nachmittag zur Arbeit ging und ihn allein ließ. Sie griff zum Telefon und rief in seiner Schule an.
„Nils-Holgerson-Grundschule, Frau Sawetzki. Was kann ich für Sie tun?“ meldete sich eine fröhliche Stimme.
„Maria Müller. Frau Sawetzki, Markus hat ein wenig Fieber und ich würde ihn gern heute zu Hause behalten.“
„Natürlich. Markus war in der dritten Klasse, nicht war? ... Hallo, Frau Müller?“
Sie zuckte zusammen, sie war mit ihren Gedanken schon bei dem Anruf gewesen, den sie danach noch machen musste. „Ja, natürlich. Danke.“
„Ist bei ihnen alles in Ordnung?“
„Ja sicher, ich bin nur ein wenig müde. Auf Wiederhören.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, legte sie auf. Sie zögerte, dann wählte sie erneut und es war die Nummer eines Mobiltelefons, die sie jetzt anrief.
„Wiesenhoff!“ Die Stimme war kalt und hart.
Sie holte tief Luft. Nicht nur die Stimme, der ganze Mann machte ihr Angst. „Herr Wiesenhoff, ich kann heute Abend leider nicht kommen. Mein Markus ist krank.“
Scharf antwortete er: „Wie bitte?!“
„Es geht wirklich nicht. Wenn ...“
„Was bildest du dir eigentlich ein? Ich gebe dir die Möglichkeit, Kohle am Sozialamt vorbei zu verdienen und dann lässt du mich hängen? Was soll mein Kunde denken, wenn ich ihm schon wieder eine Neue schicke, um seinen Mist sauber zu machen?“
„Herr Wiesenhoff, ich ...“
„Nichts Herr Wiesenhoff! Entweder du bewegst deinen faulen Hintern heute Abend zum Putzen oder du musst ihn überhaupt nicht mehr bewegen. Ich habe euch arbeitsscheues Pack so satt!“
Sie wurde blass. Es war nicht der Ton gewesen, der ihr Angst gemacht hatte. Sie kannte ihn längst, der Chef ging mit allen seinen Hilfskräften so um und sie hatte es sich gefallen lassen, denn er zahlte immer bar auf die Hand. Nicht viel, aber jeder Cent zählte für sie. Es war zwei Tage vor Weihnachten und sie hatte noch kein Geschenk für Markus. Das Geld von heute und morgen hätte sie dringend gebraucht, ganz im Gegensatz zu den Kopfschmerzen, die sie seit ein paar Stunden quälten und jetzt richtig schlimm wurden. Sie griff nach dem Tablett und brachte Markus sein Frühstück ins Schlafzimmer.
Während er aß, lief sie zum Kiosk, um Brot und Margarine einzukaufen. Sie kam gerade noch rechtzeitig zurück. Markus zog im Flur seine Winterstiefel an. „Wo willst du denn hin?“, fuhr sie ihn an.
„Mama, ich muss nach Laika sehen!“
„Nichts da. Ich habe gesagt, du bleibst im Bett, da gehörst du hin und basta!“
„Mama, aber wenn Laika etwas passiert ist gestern?“
Ihm standen Tränen in den Augen, aber wenn hier jemand ein Recht auf Weinen hatte, dann war sie es. Erst der Rauswurf bei der Arbeit und jetzt musste sie sich auch noch mit dem Bengel herumärgern. Für wen tat sie das eigentlich alles? „Nein! Du bleibst hier, habe ich gesagt!“
Markus stampfte mit dem Fuß auf. „Mama ...“
Zorn kochte in ihr hoch, und ehe sie sich beherrschen konnte, traf ihre Hand Markus im Gesicht. Sie hatte nicht hart zugeschlagen, und es konnte ihm auch nicht wehgetan haben, doch sein Gesicht wurde zu Stein. Er rannte ins Schlafzimmer und knallte die Tür hinter sich zu.
Entsetzen packte sie. Noch nie hatte sie ihn geschlagen. Sie wankte in die Wohnstube und ließ sich auf die Couch fallen. Alles in ihr war wie Eis, sie sah nur noch Wände um sich, die immer näher rückten und sie begann zu weinen.
Stunden später riss das Klingeln des Telefons sie aus ihrer Lethargie. Lothar Seidel wollte wissen, wie es Markus ging. Sie erzählte dem Förster, dass sie Markus wegen seinem Fieber heute nicht in die Schule geschickt hatte. Noch immer waren die Tränen in ihrer Stimme und vielleicht darum stellte Lothar Seidel die gleiche Frage, die ihr auch die Schulsekretärin gestellt hatte. „Frau Müller? Ist sonst bei Ihnen alles in Ordnung?“
War es der Ton, in dem er die Frage gestellt hatte oder einfach nur der Wunsch, sich alles von der Seele reden zu können - auf einmal sprudelte sie alles heraus, was ihr auf dem Herzen lag. Es dunkelte bereits wieder, als sie sich von ihm, irgendwie erleichtert, verabschiedete. Dann ging sie zu Markus ins Schlafzimmer.
Er war wach. „Mama, es tut mir leid. Ich war böse.“
„Ist schon gut Markus. Ich verstehe dich.“ Mit gebeugtem Rücken setzte sie sich auf die Bettkante. Zu klein ist er für sein Alter, dachte sie und schaute in sein schmales Gesicht.
Seine blauen Augen trafen ihre - und dann streckte er die Arme nach ihr aus. „Mama, ich hab‘ dich lieb!“, flüsterte er.
Wieder war Maria den Tränen nah, und bevor sie fließen konnten, sprach sie weiter: „Markus, wegen Laika brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Sie war bestimmt genauso müde wie du und hat sicher den ganzen Tag in einer warmen Schneehöhle geschlafen.“
„Bist du sicher?“
Sie nickte und hoffte, dass er nicht weiter fragte.
„Kann ich morgen wieder mit ihr spielen?“
„Wenn du wieder gesund bist. Und damit du das wirst, musst du jetzt brav deine Medizin nehmen und schlafen.“ Noch nie hatte sie ihren Sohn belogen, aber es gab immer ein erstes Mal. Sie hatte Markus auch noch nie zuvor geschlagen.
*
Am nächsten Morgen, es war der dreiundzwanzigste Dezember, bummelte Markus zum Bus. Laika war nicht an der Tür gewesen und ihre liebevolle Begrüßung fehlte ihm. Ein großes, schwarzes Auto fuhr an ihm vorbei, Dieter streckte seinen Kopf aus dem Fenster, zeigte Markus seinen dick verbundenen Arm und brüllte mit einem schadenfrohen Grinsen: „Das Vieh hat geblutet wie ein Schwein und bestimmt noch eine halbe Stunde gejault, als der Förster es abgeknallt hat!“
Der Bus fuhr ab und Markus stand immer noch an der Straße. Etwas brannte in seinen Augen, aber er weinte nicht. Achtlos ließ er den Ranzen von seiner Schulter gleiten, rannte in den Wald und lief und lief und lief.
Er stolperte über Wurzeln, verhaspelte sich im Gestrüpp und fiel immer wieder in den Schnee, doch nichts davon spürte er. Nichts hatte er im Kopf außer dem Bild seiner Laika, wie die Kugel des bösen alten Mannes sie getroffen hatte und wie sie sich wimmernd im Schnee gewälzt hatte, bis er blutrot gewesen war. Und er sah das Gesicht seiner Mutter, die ihn geschlagen und angelogen hatte.
Obwohl ihn die Kräfte verließen, lief er weiter und mit dem Instinkt eines wilden Tieres stolperte er einem Ort entgegen, den nur er kannte. Dort, wo das Ausbildungsgelände im Osten an den Sprengplatz und im Süden an den Wald nach Hasenhäge grenzte, verbargen sich alte Bunker. Hier würde ihn niemand finden.
Der Wind mauserte sich zum Sturm und peitschte ihm nassen Schnee ins Gesicht, aber auch davon ließ sich er nicht aufhalten. Er hatte es nicht mehr weit und verbissen kämpfte er sich voran, bis er fast in den ersten Unterstand fiel.
Nichts schien sich verändert zu haben seit seinem letzten Besuch. Die Birkenäste, die er im Sommer hereingeschleppt hatte, lagen unberührt auf dem Boden und der Sand daneben hatte noch den Abdruck von Laikas Körper bewahrt.
Bei den Gedanken an sie und daran, wie der Förster sie erschossen hatte, flossen die Tränen, die er zuvor nicht hatte weinen können. Mit einer wilden Kopfbewegung schüttelte er sie fort, ließ sich auf das Lager fallen, rollte sich zu einer Kugel zusammen und schloss die Augen.
Draußen erreichte der Sturm Orkanstärke. An einer Stelle riss er den Schnee fort, nur, um ihn woanders wieder zu großen Hügeln aufzutürmen. Weiß bedeckte den Boden wie ein riesiges Leichentuch und den Eingang des Bunkers, in dem Markus Zuflucht gesucht hatte, versperrte eine riesige Schneewehe. Nichts verriet mehr, dass sich hier ein kleiner Junge vor den Menschen versteckte.
*
Gegen elf Uhr des gleichen Tages klingelte das Telefon Maria aus dem Schlaf. Sie hatte am Morgen Markus losgeschickt und sich danach noch einmal hingelegt.
Frau Sawetzki rief aus dem Sekretariat der Nils-Holgerson-Grundschule an: „Frau Müller, ist Ihr Sohn noch krank? Er ist nicht in der Schule.“
Maria glaubte, sich verhört zu haben: „Das kann nicht sein. Ich habe ihn heute Morgen zum Bus geschickt!“
„Er ist aber nicht hier.“ Aus der Antwort der Schulsekretärin klang Beunruhigung.
Maria fiel die Auseinandersetzung mit Markus gestern Abend ein und ihr wurde heiß. „Ist Markus denn mit den anderen im Schulbus angekommen?“
Frau Sawetzki bat sie um einen Moment Geduld und Maria erinnerte sich, wie sehnsüchtig Markus heute Morgen auf seine Laika gewartet hatte und, als sie nicht gekommen war, wie traurig er zum Bus getrottet war.
Frau Sawetzki meldete sich wieder: „Ich habe in der Klasse von Markus herumgefragt. Er ist zwar der Einzige, der in Stern Buchholz einsteigt, aber die anderen Kinder sagen, dass er nicht im Bus gewesen sei, als sie zugestiegen sind. Wissen Sie denn nicht, wo Markus ist, Frau Müller?“
„Wenn er nicht bei Ihnen ist, dann weiß ich es nicht.“, antwortete Maria.
„Das ist nicht gut. Dann suchen Sie die Siedlung ab und fragen Sie alle Leute. Ich horche hier auch noch einmal herum. Wenn Sie ihn nicht finden, müssen Sie die Polizei rufen!“
„Aber wenn …“
„Kein Aber! Suchen Sie Ihren Sohn, Frau Müller. Sofort! Wenn ich in einer halben Stunde nichts von Ihnen höre, rufe ich Sie noch einmal an und dann selbst die Polizei!“
Frau Sawetzki hatte aufgelegt und Maria suchte mit zitternden Händen ihre Sachen zusammen und stürmte zur Tür. Sie rannte durch Stern Buchholz, klingelte an jeder Tür der vier Wohnblocks und fragte jeden, den sie auf der Straße traf, doch niemand hatte Markus gesehen. Schließlich blieb ihr nichts anderes übrig, als die Polizei zu holen.
Es war fast Eins, bis zwei Beamte mit ihrem Dienstwagen eintrafen, sie befragten und selbst noch einmal in der Siedlung auf die Suche gingen. Auch sie fanden keine Spur von Markus und riefen nach Verstärkung. Weitere Autos trafen ein, spuckten Hunde und noch mehr Polizisten aus, die nach Markus suchten. Kurz vor Dunkelwerden flogen zwei Hubschrauber über den Ort und suchten mit Wärmebildkameras seine Umgebung ab, aber Markus blieb verschwunden..
Dann setzte heftiger Schneefall ein, der Wind wurde zum Sturm und der meteorologische Dienst gab eine Wetterwarnung heraus. Die Hundestaffeln und die Hubschrauber brachen die Suche ab und auch die freiwilligen Helfer gaben auf.
*
Als Markus wieder erwachte, wusste er nicht, wie lange er geschlafen hatte. Im Bunker herrschte eine Finsternis, wie er sie noch nie erlebt hatte. Zuhause malte immer eine Straßenlaterne vor seinem Schlafzimmerfenster Kringel aus Licht auf seine Bettdecke, aber hier war es so dunkel, dass er seine Hand nicht vor den Augen sah. Die Birkenäste, auf denen er lag, piekten ihn in den Rücken und ihm war fürchterlich kalt.
Müde quälte er sich auf die Knie und schlang die Arme um sich. Er hatte nicht darüber nachgedacht, was er weiter tun wollte. Laika war tot, der Förster hatte sie erschossen und er hatte niemanden mehr sehen wollen, niemals mehr. Deshalb war er weggelaufen. Aber irgendwie war das falsch und vielleicht sollte er doch wieder nach Hause gehen. Seine Mutter machte sich bestimmt Sorgen und suchte nach ihm. Ob sie seinetwegen weinte? Aber sie hatte ihn geschlagen und angelogen. Er stand auf und tapste ein paar Schritte hin und her. Es war stockfinster um ihn, Hunger und Durst quälten ihn und er fror fürchterlich.
Etwas kratzte an der Wand, er fuhr zusammen, blieb stehen und spitzte erschrocken die Ohren. Tatsächlich, etwas scharrte draußen und es hörte sich an, als ob sich etwas den Weg durch den Schnee in den Bunker graben würde.
Was konnte das sein? Er hatte zusammen mit Laika Ratten im Bunker aufgescheucht, als sie beide das erste Mal hier gewesen waren. Eklige Viecher mit einem nacktem Schwanz, aber Laika hatte sie vertrieben. Kamen sie jetzt zurück, um ihn zu verjagen und um ihren Bunker wieder in Besitz zu nehmen? Er atmete leise und wartete zitternd, ob sich das Geräusch wiederholte – und richtig, da war ein Kratzen und Schaben, als ob sich etwas Großes den Weg zu ihm graben würde. Das konnten keine Ratten sein. Und es wurde lauter!
Wenn seine Mutter nach ihm suchte, hatte sie bestimmt wieder den Förster angerufen und es waren seine Hunde, die da draußen kratzten. Aber dann hätte der doch zuerst laut gerufen und er hätte auch das Bellen der Hunde hören müssen. Markus steckte den Knöchel seines Zeigefingers in den Mund und biss darauf. Also war es nicht der alte Mann, aber was konnte es sonst sein?
So leise, wie er konnte, kroch er bis in die äußerste Ecke des Bunkers, zog die Knie ans Kinn, schlang die Arme darum und versuchte sich so klein zu machen, wie er nur konnte. Wie Hammerschläge dröhnte das Scharren in seinen Ohren, er stellte sich eine riesige Pranke vor und wie sie den Schnee vor dem Bunker wie ein Bagger fortschleuderte und sich Meter um Meter den Weg zu ihm bahnte. Angst packte ihn. Er kniff die Augen zusammen und presste die Hände auf die Ohren
Plötzlich war Ruhe. Das Scharren hatte aufgehört, er hielt den Atem an, nahm die Hände von seinen Ohren und lauschte, aber es blieb still. Erleichtert atmete er aus - da flog der Schnee, der den Eingang blockiert hatte, nach innen und ein großer Schatten sprang hinterher.
Er schrie auf und der Schatten ruckte herum, machte einen Schritt tiefer in den Bunker und knurrte. Markus zitterte so sehr, dass seine Zähne aufeinanderschlugen. Das Tier duckte sich, wendete seinen Kopf hin und her, schnüffelte, und schlich dann Schritt für Schritt näher. Vor Markus blieb es stehen, riss es seinen Rachen auf und blies ihm seinen stinkenden Atem ins Gesicht. Er nässte sich ein vor Entsetzen und dann wurde es dunkel um ihn.
Markus kam wieder zu sich und drängte sich enger an das, was seinen Rücken so schön wärmte. Er hatte geträumt, dass ein riesiges Tier in seinen Bunker gekommen war, um ihn zu fressen. Ohne die Augen zu öffnen, lächelte er. Seine Mutter machte sich sicher große Sorgen um ihn und würde sich bestimmt freuen, wenn er wieder da war. Aber vorher wollte er noch ein wenig schlafen. Er schmiegte sich dichter an das kuschelige Fell hinter ihm.
Kuscheliges Fell?
Mit einem Schrei wollte er aufspringen, aber blitzschnell packte etwas seine Schulter, hielt ihn am Boden fest und in seinem Rücken hörte er das gleiche Knurren, das ihm in seinem Traum solche Angst gemacht hatte. Er hätte fast wieder geschrien. Es war kein Traum gewesen! Ein riesiges Tier, vielleicht sogar ein Wolf, hatte sich zu ihm gegraben und lag jetzt hinter ihm.
Aber warum hatte es ihn nicht angegriffen und getötet? Er begann wieder zu zittern. Wie als Antwort knurrte das Tier erneut, aber es hörte sich anders an als vorhin, nicht bedrohlich, eher beruhigend und fast so, wie er es von seiner Laika kannte.
Markus überlief es siedendheiß, denn plötzlich begriff er. Dieter hatte ihn angelogen, der Förster hatte Laika gar nicht erschossen! Nur sie hätte ihn hier finden können, denn sie liebte ihn und er hatte sie im Dunkeln nur nicht erkannt. Und sie konnte doch nicht reden, sie hatte nur ihr Knurren und er hatte es nicht verstanden!
Er begann zu weinen, drehte sich um und presste sein Gesicht fest in das Fell des Tieres, das seine Pfote um ihn gelegt hatte, ganz so wie eine Mutter, die ihr Kind beschützen will.
*
Erschöpft von der Suche nach Markus war Lothar Seidel gegen Mitternacht nach Hause gekommen. Es hatte keinen Sinn, bei Nacht weiter zu suchen. Der Sturm hatte jede Spur getilgt und jede Fährte, der die Hunde hätten nachspüren können, verweht. Er wollte ein paar Stunden schlafen und die Suche am Morgen fortzusetzen. Doch zuviel ging ihm im Kopf herum, der Schlaf wollte nicht kommen und er dachte immerzu an Markus und Laika.
Er hatte sich von den Menschen, die seinen Wald zerstörten, zurückgezogen, aber die beiden hatten einen Weg in sein verbittertes Herz gefunden. Er dachte an den Blick, der ihn gestern aus den braunen Augen Laikas getroffen hatte in dem Moment, als das Netz auf sie herabgefallen war. Sie hätte ausweichen können, dafür war sie immer noch schnell genug gewesen, auch mit ihrem kranken Hinterlauf. Aber sie hatte sich nicht gewehrt und ihn angeschaut, als hätte sie gewusst, dass ihre Zeit um war.
Er schlief ein und in seinem Traum jagte ein Rudel Wölfe durch den Wald, mit diesem gleichmäßigen, alles verschlingenden Trab, der sie bis zu hundert Kilometer am Tag zurücklegen lässt. Markus kämpfte sich weinend durch den Schnee, fiel hin, und als er sich wieder aufrichtete, öffnete sich vor seinem Gesicht ein Wolfsrachen …
Mit einem Stöhnen richtete er sich auf. Der Traum hatte ihn geweckt. Er schalt sich einen Narren. Es gab keine Wölfe in Schwerin und würde es auch nie geben. Wenn sie auf Wanderschaft gingen, zog es sie nach Osten über die polnische Grenze und nicht nach Westen. Er schüttelte den Kopf, rieb sich die Schlafreste aus den Augen und warf einen Blick auf die Wanduhr. Sie zeigte kurz vor fünf und mühsam quälte er sich wieder in seine nassen Sachen.
Das Thermometer an der Außenwand zeigte minus acht Grad und er wusste, dass er nicht mehr viel Zeit hatte. Kinder waren widerstandsfähiger, als die meisten Erwachsenen glaubten und Markus, der viel draußen war, sowieso. Aber es gab eine Grenze für das, was sein kleiner Körper leisten konnte. Wenn Markus schlau gewesen war, hatte er in einem der alten Bunker Unterschlupf gesucht, dort wurde es nicht so kalt wie unter freiem Himmel. Aber auch da biss der Frost irgendwann zu. Wenn er den Jungen noch finden wollte, bevor er erfror, musste er sich beeilen.
Er rief den Einsatzstab der Polizei an, um ihnen zu sagen, dass er jetzt seine Suche fortsetzte, stimmte mit ihnen das Suchgebiet ab, pfiff seine Hunde zu sich und machte sich auf den Weg in den Wald.
*
Drei Stunden später wartete er neben der Tür des Rettungswagens gemeinsam mit Maria auf die Diagnose des Notarztes. Kurz, nachdem die Sonne aufgegangen war, hatten seine Hunde angeschlagen und waren losgehetzt. Nur wenig später hatte er Markus im alten Stabsbunker gefunden, tief und fest schlafend, mit einem Lächeln im Gesicht. Markus war auch nicht aufgewacht, als er ihn aufgehoben und zu seinem Lada getragen hatte. Erst das Martinshorn des Rettungswagens, den er über Funk gerufen hatte und der ihnen auf der B106 bei Hasenhäge entgegen gekommen war, hatte den Jungen aus seinem Erschöpfungsschlaf gerissen.
Ein Arzt stieg aus dem Sankra, schloss leise die Tür hinter sich und trat zu ihnen. „Frau Müller, ihrem Sohn geht es körperlich so weit gut. Er hat eine leichte Unterkühlung und ein paar heftige Abschürfungen an den Händen und im Gesicht. Nichts Bedrohliches, worum wir uns ernsthaft Sorgen machen müssten. In ein paar Tagen kann er wieder auf dem Damm sein.“ Er schüttelte den Kopf, als könne er es nicht fassen.
Maria schaute den Arzt an. Er war noch jung, höchstens dreißig und sah sehr männlich aus. Doch in seinen Augen las sie eine abwesende Müdigkeit, ihrer eigenen nicht unähnlich, als hätte er zu viel gearbeitet und beschäftigte sich in Gedanken mit einem schweren Problem. Vielleicht hat er die ganze Nacht Dienst gehabt und ist genauso erschöpft wie ich, dachte sie und räusperte sich. „Das ist alles?“
Der Arzt nickte. „Wie ich schon sagte – zumindest körperlich geht es Ihrem Sohn viel besser, als wir erwarten durften.“
Sie besaß ein Ohr für Untertöne. „Warum betonen Sie so seinen Körper? Ist etwas mit seinem Kopf?“
„Um Gotteswillen nein! So habe ich das nicht gemeint. Er hat keine Kopfverletzungen. Ich sollte mich wohl klarer ausdrücken. Es waren minus acht Grad heute Nacht, Ihr Sohn ist den ganzen Tag durch den Schnee gelaufen, es war Sturm und seine Sachen waren nass. In diesem Zustand hätte er die Nacht im Freien niemals überleben können. Zumindest müsste er viel stärker unterkühlt und auch dehydriert sein. Nichts davon kann ich feststellen. Es ist wie ein Wunder, dass er noch lebt.“
„Dann ist doch alles gut, oder?“
„Frau Müller, wir wissen, dass die Geschichte mit dem Hund, die Ihr Sohn erzählt hat, nicht stimmen kann, denn Herr Seidel hat gesagt, dass er ihn erschossen hat.“ Er blickte kurz den alten Förster an. „Markus hat schlimme Tage hinter sich, die durchaus ein psychisches Trauma auslösen können. Was er uns erzählt hat, könnten Halluzinationen sein, wie sie nach großen körperlichen Anstrengungen auftreten können. Doch Ihr Sohn hat nicht einmal Fieber und es geht ihm viel besser, als es ihm nach Lage der Umstände gehen sollte.“ Der Arzt machte eine Pause und holte Luft, als müsste er Kraft für den nächsten Satz sammeln. „Ich halte es für das Beste, wenn wir ihn mit ins Krankenhaus nehmen und dort genauer untersuchen, um herauszufinden, was wirklich passiert ist.“
„Was wollen Sie genauer untersuchen?“
Der Arzt zuckte mit den Schultern. „Ich denke, Ihr Sohn wäre für ein paar Tage in Schwerin in der Kinderpsychiatrie am besten auf …“
Weiter kam er nicht, wie eine Furie fauchte Maria ihn an: „Sie bringen meinen Sohn nicht in die Klapper! Wissen Sie, was es heißt, in so einem Hundertseelennest zu leben, wo jeder jeden kennt? Wollen Sie, dass alle Kinder mit Fingern auf ihn zeigen und ihm hinterher rufen: ‚Der war in der Klapsmühle‘?“
Lothar Seidel legte ihr die Hand auf den Arm und sie verstummte mitten im Satz. Erstaunt sah sie ihn an. Er beachtete sie jedoch nicht, sondern blickte dem Arzt in die Augen. „Sie stehen doch unter ärztlicher Schweigepflicht, oder?“
Der Arzt nickte und Lothar Seidel fuhr fort: „Es kann durchaus sein, dass Markus die Wahrheit gesagt hat. Ich habe Laika nur eingefangen und in einen Zwinger gesperrt, der oben offen ist. Erschießen konnte ich sie nicht. Ich habe nichts anderes mehr als meinen Wald und man hat mir gedroht, mich zu entlassen und ihn mir wegzunehmen, wenn ich die Hündin nicht töte. Deshalb habe ich die Forstbehörde angelogen. Es kann durchaus sein, dass die Hündin aus dem Zwinger entkommen ist. Ich habe schon viel erlebt mit Tieren und Sie können mir glauben – Hunde sind zu Unglaublichem in der Lage, wenn es um die geht, die sie lieben. „
Der Arzt schüttelte verwirrt den Kopf. Eigentlich ging ihn das alles nichts an. Er hatte getan, was er tun musste und alles andere war nicht seine Entscheidung. Er konnte nur die Tür öffnen, aber wenn Frau Müller nicht hindurchgehen wollte, war das ihre Sache. „Es ist Ihr Sohn und damit ihre Entscheidung. Also sollen wir ihn nach Hause fahren?“
Maria nickte nur und stieg ohne weitere Worte zu Markus in den Krankenwagen. Der Arzt öffnete den Mund, als wollte er noch etwas sagen, aber dann schien er einzusehen, dass es keinen Sinn hatte, und folgte Maria.
Lothar Seidel schaute nachdenklich und ein wenig sorgenvoll den Autos hinterher. Er hatte Laika gestern Abend Futter hingestellt, sie hatte in ihrer Hütte gelegen, sich nicht gerührt und seitdem hatte er nicht mehr nach ihr gesehen. Der Zwinger war zwar oben offen, aber die Gitterstäbe waren über zwei Meter hoch. Sie hätte niemals da hinausklettern können. Und Springen schon gar nicht mit ihrem kranken Hinterlauf. Oder doch? Hatte er nicht selbst soeben gesagt, dass Hunde wunderbare Wesen sind, die Unglaubliches für den Menschen vollbringen können, den sie lieben?
Verwirrt schüttelte er den Kopf. Nein, es war unmöglich! Aber wer war dann heute Nacht bei Markus gewesen, wenn nicht Laika? Er hatte sich am Bunker nicht nach Spuren umgesehen, zu froh war er gewesen, Markus noch am Leben gefunden zu haben. Ein Verdacht keimte in ihm, so abwegig, dass er sich einen Narren schalt. Und wenn doch? Gottes Wege sind unergründlich und wunderbar.
Er blickte auf seine Uhr, sie zeigte kurz nach elf Uhr vormittags und eigentlich hätte er heute, am vierundzwanzigsten Dezember, einiges zu tun gehabt. Doch keine Macht der Welt hätte ihn jetzt noch davon abhalten können, alle Spuren im Bunker genauestens zu untersuchen. Wenn er richtig lag mit seiner Vermutung, waren sie alle hier Zeuge eines Wunders geworden.
*
„Mama! Was hast du? Ist alles in Ordnung?“ Markus schaute seine Mutter von der Seite an. Warum weinte sie? Wegen der blöden Familie von Dieter? Nicht zum ersten Mal dachte er daran, was passiert wäre, wenn er seine Laika nicht im letzten Moment aufgehalten hätte. Dann wäre es wenigstens irgendwie gerecht gewesen. Aber in seinem Herz war kein Platz für Bosheit und so streichelte er seiner Mutter nur unbeholfen über ihr Haar, um sie zu trösten.
Es klingelte und er sprang wütend von der Couch, bevor Maria sich aufrichten konnte. Heute war Weihnachten und sie sollten seine Mutter endlich in Ruhe lassen! Er rannte zur Tür, riss sie mit einem Ruck auf – und erstarrte zur Salzsäule. Eine schwarze Hundenase stupste ihn in den Bauch, große Pfoten legten sich auf seine Schultern und eine feuchte rosa Zunge fuhr ihm ein ums andere Mal über das Gesicht.
„LAIKA!“
Im Hauseingang beobachtete Lothar Seidel, der alte, ungebeugte Mann mit dem langen weißen Bart, die Szene und seine Augen unter den buschigen Brauen strahlten wie die des Kindes und der Hündin.
*
Am nächsten Morgen saß Lothar Seidel an seinem zerkratzten Schreibtisch und schaute auf das Telefon. Das tat er schon eine ganze Weile. Er hatte noch ein Gespräch zu führen, es würde kurz werden und nicht erfreulich – zumindest nicht für den Oberforstrat, den er jetzt anrufen wollte. Er zögerte den Moment noch hinaus und dachte an gestern.
Er hatte den Heiligabend mit Markus, Maria und Laika verbracht und es war ein wunderschöner Abend gewesen. Irgendwann hatte Markus sich auf seine Knie gesetzt und ihm die Arme um den Hals gelegt. Lothar Seidel lächelte, als er daran dachte, wie nah er da an Tränen gewesen war. Aber die hatte er ein paar Stunden vorher vergossen. Es war vor dem Bunker gewesen, in dem Markus Zuflucht vor dem Sturm gefunden hatte. Er hatte sich alle Spuren darum herum und auch innen angesehen und immer wieder in stillem Unglauben den Kopf geschüttelt. Schließlich hatte zum Himmel geblickt, dann voller Demut den Kopf gesenkt und stumm geweint.
Danach war er nach Hause gefahren, hatte Laika, die das Futter seit zwei Tagen nicht angerührt hatte, aus dem Zwinger geholt und war zu Markus und Maria gefahren. Er machte sich keine Sorgen mehr um seinen Arbeitsplatz, denn wenn ihn nicht alles täuschte, würde der Herr Oberforstrat in den nächsten Wochen und Monaten jeden Mann und jede Frau brauchen, die er bekommen konnte. Und einiges würde sich hier ändern. Zum Guten. Mit einer entschlossenen Bewegung griff er zum Telefon und wählte.
Es dauerte einen Moment, bis sich Herr Walter meldete. „Es sollte schon wichtig sein, wenn Sie mich am ersten Weihnachtstag anrufen!“ Keine Anrede, keine Höflichkeit, Herr Walther schien schlecht gelaunt zu sein.
Lothar Seidel lächelte still in sich hinein und gab seiner Stimme einen dienstbeflissenen Ton. „Es tut mir wirklich leid, Herr Oberforstrat, Sie heute stören zu müssen, aber ich dachte mir, wo Ihnen doch die Sicherheit der Wälder so wichtig ist …“
Weiter kam er nicht, am anderen Ende der Leitung bellte der Oberforstrat: „Ist schon wieder etwas passiert?!“
„Nein, oder doch, ich weiß nicht genau …“ Lothar Seidel verkniff sich nur mit Mühe ein Lachen.
Der Oberforstrat brüllte: „Reden Sie, was ist los bei Ihnen?“
„Ich dachte, Sie würden wissen wollen, dass die Wälder hier wahrscheinlich gesperrt werden müssen, und informieren Sie doch bitte die Kollegen in Brandenburg, dass die vermisste Wölfin, deren Welpen überfahren wurden, hier in meinem Revier aufgetaucht ist, ja?“
„Aber, aber …“ Ganz vorsichtig legte Lothar Seidel den Hörer auf die Gabel, mitten in das Gestammel hinein. Er blickte auf seine Handfläche und fühlte, wie flauschig das silbrig-grauen Haarbüschels war, das darin lag. Markus hatte es wahrscheinlich dem Tier ausgerissen, dass ihm in der Nacht mit seiner Wärme das Leben gerettet hatte. Es war von einer Länge und Weichheit, wie sie kein von Menschen gezüchteter Schäferhund mehr hatte. Nur ein Wesen auf dieser Welt hatte solches Bauchfell: eine Wölfin, die Junge großzog oder sie an Kindesstatt beschützte.
Nachbemerkung: Als ich diese Geschichte vor zwei Jahr schrieb, lebten die Wölfe in Deutschland, zweihundert Kilometer entfernt von Schwerin, im Land Brandenburg. Vor einigen Monaten ging eine Meldung durch die Presse - Wölfe waren in Lübteen gesichtet worden. Dieser Ort liegt dreißig Kilometer entfernt von Schwerin - westlich...