Den leichten Vorhangstoff in der Hand stand der Anführer der Weißen Wölfe an den schwarzen Eibenholzrahmen seines Fensters gelehnt und blickte auf den Arboloro hinab. Der Himmel erstrahlte in der Abenddämmerung in intensiven Rot-, Violett- und Orangetönen wie das prächtige Bildnis eines meisterhaften Malers und die Bäume des Waldes nahmen sich wie bedrohliche Schattengestalten darin aus. Wie ein dunkles Omen, das von Umbruch und Unheil kündete.
Obgleich es unzählige Monde her war, dass er mehr als drei Sandgläser zusammenhängend geruht hatte, musste Cru Kanîja demnach nicht nur die Nacht, sondern auch den ganzen Tag durchgeschlafen haben. Nicht einmal einer seiner üblichen Albträume hatte ihn heimgesucht und wenn doch, dann konnte er sich wenigstens nicht daran erinnern. Der Hauch eines Lächelns lag auf den Lippen des blauhäutigen Heermeisters, als er langgezogen ausatmete und die Augen schloss. Eine solch ausgiebige Nachtruhe war eine lang vermisste Wohltat. Balsam, dessen beruhigende und stärkende Wirkung er bereits jetzt deutlich in jeder Faser seines Körpers und jeder Windung seines Geistes spürte. Nicht im Geringsten zu vergleichen mit den unruhigen Nächten, die ihn seit geraumer Zeit begleitet und seiner ohnehin schwindenden Kraft beraubt hatten.
Ein gesunder und erholsamer Schlaf war überaus wichtig für den Zweiten General und ihm nahezu heilig. In der Ruhe der Nacht sammelte er die Kraft und Besonnenheit, mit welchen er am Tage allen Fährnissen gelassen trotzte. Erst sie befähigten ihn zu der Ausgeglichenheit und Seelenruhe sowie seiner beharrlichen, nachgerade trotzigen Zuversicht, die gemeinhin zu seinen bemerkenswertesten Charaktereigenschaften zählten, wie ihm sein Ziehsohn einmal im Vertrauen gestanden hatte. Selbst wenn er auf der Flucht, im Kerker oder in der Schlacht war, ja, sogar wenn sein Schwertbruder die Kontrolle über sich und jeden Bezug zur Realität verlor, gelang es ihm stets, die anschließende nächtliche Ruhe zu finden, derer sein Leib und sein Geist so dringend bedurften.
So war es nicht weiter verwunderlich, dass er sich auch vom Ausbruch des Krieges mit Æhran sowie seiner Abkommandierung zur Sicherung der nördlichen Grenzen Lanois und zur Belagerung der æhranischen Hochburgen Phinœ und Thonaj nicht beeindrucken ließ. Weder nervenaufreibende Verhandlungen noch blutige Scharmützel, weder Nahrungsmittelknappheit noch Wassermangel, weder Krankheit noch Tod, nichts, so schien es, vermochte den Sibulek aus der Ruhe oder um seinen nächtlichen Schlaf zu bringen. Doch alles änderte sich schlagartig in einer klaren, kalten Schwarzmondnacht im dritten Winter der langwierigen Belagerungen.
Den Weißen Wölfen war es mittlerweile gelungen, nach Phinœ auch alle Dörfer und kleineren Städte im Umkreis Thonajs zu erobern und die einstmals feindlichen Milizen in die eigenen Reihen zu integrieren. Bis hinter die inneren Festungsmauern hatten sie das verteidigende æhranische Heer bereits zurückgedrängt und seit einigen Mondphasen hatte dieses keinen Ausfall mehr gewagt. Zu sehr war es damit beschäftigt, die immer stärker aufbegehrenden Bürger innerhalb des Walls im Zaum zu halten. Thonaj war seit dem Spätsommer von der Außenwelt und sämtlichen Handelsrouten abgeschnitten und auch den Nachschub an Kämpfern aus dem Hinterland hatte der zweite Heerführer durch geschickt postierte Trupps, die zu Hilfe eilende Einheiten abfingen und in sinnlose Scharmützel verwickelten, gestoppt. Die Reserven des Handelszentrums näherten sich ihrem Ende und die Bevölkerung darbte zusehends. Immer mehr Krieger gaben ihren Widerstand auf, desertierten und tauschten ihre Waffen gegen Brot, Milch, Fleisch und Wasser ein. Auch diplomatische Verhandlungen fanden nun regelmäßig statt und es war nur noch eine Frage der Zeit, bis die Herrschaft Thonajs dem allseitigen Druck nachgab und die Stadt kapitulierte. Cru Kanîja hatte also allen Grund, ruhig und friedlich zu schlafen.
Doch mitten in dunkelster Nacht schrak er plötzlich schreiend und schweißgebadet aus seinem Lager hoch. Völlig aufgelöst rang er nach Luft. Sein Herz schlug unrhythmisch, holprig und so rasend schnell, als rannte er um sein Leben. Seine Hände hatten sich tief in das Laken gekrallt und seine Brust durchzog ein beißender, stechender Schmerz. Heiße Tränen rannen aus seinen Augenwinkeln und verwandelten sein Sichtfeld in waberndes, dunkles Wasser, das im schwachen Schein einer einzelnen Kerze mit gespenstisch verzerrten Formen durchzogen war.
Nur wenige Augenblicke später stürmte eine Person in sein Zelt und eine vertraute Stimme drang schwach durch den betäubenden Schleier der Angst. Er hörte sie, doch ihre Worte verstand er nicht. Verzweifelt versuchte der Sibulek, sich zu beruhigen, sich aufzurichten oder wenigstens langsamer zu atmen. Ohne Erfolg. Seine Gedanken überschlugen sich ebenso heillos wie sein Herzschlag, doch als er in Schnappatmung verfiel, umschlossen ihn plötzlich zwei Arme und rissen ihn aus seinem Zustand.
„Spoko, Médre. Spoko moy!“, ertönte erneut die vertraute Stimme, die er nun als die seines Schülers erkannte. „Spoko. Tutho beni.“ Mit sanfter, doch fester Stimme wiederholte der beherzte Jüngling die Worte immer und immer wieder. Fast wie ein Wiegenlied.
Eine kleine Ewigkeit hielt sein Adjutant ihn fest, dann gelang es dem aufgewühlten Heermeister allmählich, die tosenden Wogen in seinem Inneren zu glätten. Eine Erklärung für dieses Geschehnis fanden jedoch weder er noch sein Zögling. Er hatte nicht geträumt und es gab auch keine äußeren Einflüsse, die ihn hätten derart ängstigen können. Und doch war er in diesem Moment von nahezu panischer Furcht beseelt gewesen. Eine Erfahrung, die ihn tief erschütterte und bis in heimische Gefilde verfolgen sollte.
Seit diesem Vorfall war dem blauhäutigen Mann keine ruhige Nacht mehr vergönnt. Immer öfter ertappte er sich dabei, wie er des Abends unaufhörlich an die Decke seines Zeltes oder in den dunklen Nachthimmel starrte, auf irgendetwas wartete und bis weit nach Mitternacht oder gar in den frühen Morgen hinein kein Auge zubekam. Doch während andere in dieser Zeitspanne tief in Gedanken versanken, herrschte in seinem Geist zumeist absolute Stille und gähnende Leere. Zumindest konnte er sich nie daran erinnern, ob er wirklich bewusst über irgendetwas nachgedacht hatte. Und für den seltenen Fall, dass er sich doch einmal entsann, dann waren es ungewohnt bedrückende und düstere Gedanken, die sich in seinen Kopf geschlichen hatten und nicht nur dort, sondern auch in seinem Herzen gehörig Unruhe stifteten.
Kaum anders verhielt es sich in der kurzen Zeit, in der er dann doch in einen seichten Halbschlaf verfiel. Denn in zunehmendem Maße schlug er sich mit quälenden Albträumen herum und erwachte bereits nach Kurzem wieder. Meist verschreckt. Manchmal verwirrt und durcheinander. In seltenen Fällen den Tränen nahe. Jedoch immer schweißgebadet und mit der Atmung eines Gejagten. In der Mehrzahl der Fälle wusste er nicht warum, doch in einigen Nächten konnte er sich nur allzu gut der grauenhaften Traumbilder erinnern, die so real, so wirklich und so unausweichlich erschienen.
Je näher das absehbare Ende dieses elenden Krieges rückte und je greifbarer der bevorstehende Sieg wurde, desto häufiger suchten ihn diese kräftezehrenden Nachtmahre heim. Auch in den Nächten vor den alles entscheidenden Kapitulationsverhandlungen quälten den Zweiten General furchtbare Albträume, an die er sich zu allem Überfluss auch noch haarklein erinnern konnte. Die Spuren seiner nächtlichen Marter waren sowohl in seiner leicht gebeugten Körperhaltung als auch seinem matten Gesicht mit den dunklen Augenringen deutlich zu sehen. Nur mit Mühe und der Hilfe seines Ziehsohnes schaffte er es, noch genügend Kraft und Besonnenheit für die zähe Verhandlung zusammenzuraffen und diesen scheinbar nie enden wollenden Tag irgendwie zu überstehen.
Doch trotz allem versuchte der Sibulek, den Schein zu wahren. Immerhin war er der Anführer der Weißen Wölfe und verantwortlich für das Wohl und Wehe von mehreren hundert Mann. Nicht zu vergessen, die abertausend Menschen Lanois, die ein Versagen seinerseits den æhranischen Aggressoren schutzlos ausliefern würde. Pflichtbewusst schleppte er sich daher durch jeden neuen Tag und quälte sich durch jede neue Nacht. Vielleicht um dem Feind keinen Angriffspunkt zu bieten. Vielleicht um seine Männer nicht zu beunruhigen. Vielleicht aber auch um sich selbst diese unerklärliche Schwäche nicht in ihrer ganzen Tragweite eingestehen zu müssen. Sogar Forso offenbarte er nicht die ganze Wahrheit. Doch so, wie der Jüngling ihn beobachtete und mit stetig sorgenvolleren Blicken bedachte, hatte er längst erkannt, wie desolat seine Verfassung war.
Bis zum Sommer zog dieses Spiel sich hin. Als sie endlich zur Heimreise aufbrachen, schöpften beide Männer neue Hoffnung. Doch bereits in der ersten Nacht zeigte sich, dass zu seiner Schlaflosigkeit sich nun auch noch innere Ruhelosigkeit sowie ein unbestimmtes Drängen gesellten. Und von da an ruhte der Sibulek fast gar keine Nacht mehr. Denn hatte er vormals wenigstens noch in einer Art Dämmerzustand gelegen, der ihm immerhin ein Minimalmaß an Erholung gegönnt hatte, so lief er nun umher, las oder lenkte sich durch magische Spielereien von seinem Zustand ab. Zuletzt hatte er ganze neun Tage am Stück nicht mehr geschlafen.
Bis zum gestrigen Abend.
Eine Erklärung für all das suchte Cru schon längst nicht mehr, denn allzu deutlich hatte er gespürt, dass dies seine Lage nur verschlimmerte. Wenn er ehrlich war, scheute er des Rätsels Lösung wie ein gebranntes Kind die Flammen des Feuers. Dabei war ihm die Antwort insgeheim all die Zeit bewusst gewesen, kannte er sie spätestens jetzt. Und je mehr er sich dieser Wahrheit öffnete, je weniger er sich dagegen sträubte und je mehr er diesen Gedanken und dieses Gefühl zuließ, desto mehr verloren sie ihren Schrecken.
Erste Schatten zogen vom offenen Fenster der Westseite durch das Zimmer und der schwüle Dämmerungswind wehte ihm die leichten Gardinen ins Gesicht. Zufrieden lächelte der Mann und spürte, wie die so schmerzlich vermisste innere Ruhe sich langsam wieder in seinem Geist einnistete und ein Hauch von alter Stärke in seinen Körper zurückkehrte. Sicher, es würde noch viele lange Nächte und Tage erholsamen Schlafes und heilsamer Stille benötigen, bis er den Raubbau an seinem Leib und seiner Seele abgefedert hatte. Doch das erste Mal seit langer Zeit glaubte er wieder daran. Und zum ersten Mal freute er sich wieder auf die Abende, die noch so zahlreich vor ihm lagen.
Während der Zweite General so aus dem Fenster sah und gedankenverloren mit dem Stoff zwischen seinen Fingern spielte, bemerkte er aus den Augenwinkeln das hektisch-bunte Treiben in den Gassen der Stadt. Im selben Moment lockten ihn gedämpftes Stimmenwirrwarr und Musik zum Fenster auf der Hofseite und als er den dunklen, schweren Vorhang zurückzog und die Läden weit aufschlug, schallten ihm lautstarke Jubelrufe entgegen. Die Hufe zahlloser Pferde klapperten laut auf dem steinernen Aufgang zur Festung und vom Koch über die Kammerjungen und Zofen bis hin zu den feineren Damen und Herren eilte alles in den Innenhof. Gerade eben zog der Fahnenträger des Roten Mondes erhobenen Hauptes und mit leuchtendem Banner als Erster durch den großen Torbogen, dicht gefolgt von einer Schar ungeduldiger Schwertbrüder. Augenblicklich fühlte der Sibulek das Herz in seiner Brust freudig hüpfen. Endlich! Endlich war es soweit. Das dritte Heer kehrte zurück.
Da seine Kammer im dritten Stockwerk der Burg lag, hatte er einen guten Überblick über das gesamte Geschehen und konnte sogar über das Burgtor hinweg ein Stück auf den Hangpfad hinabblicken. Aus den Augenwinkeln erregte ein hell leuchtender, blonder Schopf seine Aufmerksamkeit und er erkannte seinen Schüler, der sich unter die Jubilierenden gemischt und eine erhöhte Position auf einem Sockel nahe dem Burgtor gesichert hatte. Von dort aus konnte Forso alles gut überblicken und trat nun ungeduldig von einem Fuß auf den anderen, während er mit zusammengekniffenen Augen das Meer der Heimkehrenden durchsuchte. Eine weitere, große Fahne wurde durch das Festungstor getragen und flatterte laut im Wind, bevor ein kurzer Luftstoß sie jäh in Richtung des Jünglings schlug. Nur einen Augenblick später umwickelte sie ihn und riss ihn beinahe um.
Ein Schmunzeln zog über die blauen Lippen des Sibulek und amüsiert beobachtete er, wie sich sein Zögling mit einiger Mühe befreite. Noch ehe der Blondschopf wieder freie Sicht hatte, entdeckte Cru die gesuchte Person. Ein großer, stattlicher Krieger mit straff nach hinten zusammengebundenem rotbraunem Haar und dem Emblem des Vizegenerals auf der Brustpanzerung ritt in stolzer Haltung auf einem Lichtfuchs die letzten Meter zum Hof hinauf. Seinen Helm trug er unter dem linken Arm und winkte dem Jüngling am Torbogen strahlend zu. Mit einem Jubelschrei sprang dieser vom Sockel und rannte auf den Reiter zu.
Ohne Rücksicht auf Verluste stürmte Forso seinem Bruder entgegen und kämpfte sich mit ausgefahrenen Ellenbogen durch die Menge der Jubelnden. Zwar versuchte der Adjutant des dritten Heeres noch, ihn zu bremsen, doch nur einen Wimpernschlag später war der Blondschopf auch schon bei ihm, sprang mit einem lauten Ruf an ihm hoch und riss ihn im Überschwang aus dem Sattel. Krachend donnerte Inor auf den Steinboden und beide jungen Männer blieben benommen am Boden liegen.
Den Sibulek erheiterte dieses Schauspiel ungemein und ein leises, herzliches Lachen erhellte seine Gesichtszüge. Eine so unkonventionelle und aufsehenerregende Heimkehr wie die des Roten Mondes hatten diese altehrwürdigen Mauern mit Sicherheit noch nie erlebt.
‚So hatte Forso das sicher nicht geplant‘, dachte Cru grinsend und hatte das beschämte Lächeln seines Schülers direkt vor Augen.
Der ungestüme Jüngling hatte beide Vizegeneräle bis auf die Knochen blamiert und das nicht nur vor ihren eigenen Männern, sondern auch noch vor den Augen des Hofstaates und der Bediensteten. Inor war der Erste, der sich wieder fasste. Grinsend rappelte er sich auf die Beine und blickte auf seinen jüngeren Bruder hinab, welcher noch am Boden lag, sich die Wange hielt und nicht wagte, ihn anzusehen.
Doch anstatt den Blondschopf mit Tadel oder Schimpf zu überhäufen, lachte er laut auf, riss seinen verdutzten Bruder vom Boden hoch und schloss ihn fest in die Arme. Unbeeindruckt von all den Menschen um sie herum vollführten die beiden jungen Männer ihr ureigenes und dem Sibulek nur allzu bekanntes Wiedersehensritual, das aus Händeklatschen, Springen, Schubsen, an den Haaren ziehen, Kopfnüssen, Ohrfeigen und Schulterklopfen bestand und manch einem wie eine seltsame Art kindlich-naiver Tanz anmuten mochte. Einige, zumeist höhere Beamte, die ein solch infantiles Verhalten der Adjutanten unerhört fanden, schüttelten missbilligend den Kopf, während einige Krieger und Bedienstete johlend applaudierten oder sich lachend den Bauch hielten. Auch dem Sibulek schlich sich eine winzige Freudenträne aus dem Augenwinkel. Die erste seit langen, langen Mondzyklen.
Stumm standen die beiden Jünglinge sich nun gegenüber und musterten einander ausgiebig von Kopf bis Fuß, dann brachen sie erneut in Heiterkeit aus. Lachend nahm der große den kleinen Bruder auf die Schultern und rannte in Schlangenlinien über den Hof der Serçeburg. Jauchzend streckte Forso dabei beide Arme von sich, riss beim Passieren des Tores eines der Fähnchen ab und warf es in die Luft, wo es wie ein Blatt im Wind über den wimmelnden Burghof flatterte.
Nachdem Inor seinen Freund wieder wohlbehalten auf festem Boden abgesetzt hatte, zäumte er seinen Lichtfuchs ab und führte ihn zur Tränke. Toryian machte einen leicht verschreckten Eindruck und schob Forso, der ohne Unterlass um Inor herumsprang und wie ein Wasserfall erzählte, mehrmals mit dem Kopf zur Seite. Mit versonnenem Lächeln sog der Anführer der Weißen Wölfe jeden Moment des herzlichen Wiedersehens in sich auf und schüttelte dann grinsend den Kopf. Im Vergleich zu gestern schien sein Ziehsohn um mindestens zehn Winter zurückgefallen zu sein und benahm sich wie ein stürmischer kleiner Junge, der seinem großen Bruder alle Abenteuer seiner langen Reise auf einmal zu erzählen gedachte und keines der zahlreichen Signale seines Freundes oder dessen Hengstes wahrnahm. Es kam, was kommen musste. Toryian schubste den Blondschopf mit Nachdruck zur Seite und Forso stolperte rückwärts. Dabei stieß er gegen den Trog und griff reflexartig nach Inor, worauf auch dieser das Gleichgewicht verlor. Schlussendlich landeten beide Adjutanten in der Pferdetränke und kabbelten sich dort weiter, während Toryian sichtlich genervt das Weite suchte.
Ein warmes, nunmehr lautes Lachen brach aus Cru heraus und der Anblick der tropfnassen Jünglinge erinnerte ihn an alte Zeiten im Kloster. Schon damals war jedes ihrer Wiedersehen in übermütige Balgerei ausgeartet, selbst wenn sie nur wenige Sonnenumläufe oder gar nur Sandgläser getrennt gewesen waren. Jauchzend waren sie durch das altehrwürdige Gemäuer gerannt, hatten Fangen gespielt, sich in ihren Kutten durch die Gänge gewälzt oder ausgelassen im breiten Strom des Aori getollt. Natürlich ganz zum Missfallen des Abtes und einiger Mönche, die meistens genauso verständnislos und tadelnd auf die Jungen herabgeschaut hatten, wie es nun die höfischen Beamten und feinere Gesellschaft taten. Aber damals wie heute scherte Inor und Forso das einen feuchten Kehricht. Damals wie heute war das Band ihrer Freundschaft und ihre bedingungslose, kindliche Liebe zueinander stärker als alles andere.
Der Sibulek spürte, wie eine wohlige Wärme in seiner Brust erblühte und die emotionale Apathie der vergangenen Mondphasen vertrieb. Erst jetzt wurde ihm bewusst, wie gleichgültig und gefühlskalt die letzten drei Winter ihn gemacht hatten. Wie lange war es her, dass er ehrlich Anteil am Schicksal anderer genommen hatte? Dass er diese grundgütige Herzenswärme in sich verspürt hatte? Zu lange. Er hatte schon fast nicht mehr daran geglaubt. Doch hier und jetzt freute er sich mit ganzem Herzen für die jungen Männer und war überaus erleichtert, dass sich auch nach der langen Trennung offenbar nichts zwischen den beiden geändert hatte. Ganz so, wie er es auch für sich und seinen Weggefährten erhofft hatte.
Seufzend blickte er in den tief orangerot gefärbten Himmel und kam nicht umhin, nun selbst den Hof abzusuchen. Mit einem Schlag war dieses unbestimmte Drängen, diese innere Unruhe zurück, die sein Herz und seine Gedanken seit unzähligen Sonnenumläufen umklammert hielten. Doch hier und jetzt trugen die dunklen Schrecken seines Geistes einen Namen und hatten ein Gesicht. Ein Antlitz unter hunderten, das fehlte. Denn vom Anführer des Roten Mondes gab es bisher keine Spur. Es war ungewöhnlich, nahezu ausgeschlossen, dass ein Heer ohne seinen Befehlshaber zurückkehrte. Einzig der Tod konnte dessen Abwesenheit begründen. Doch da ihr Bund ungebrochen war, konnte das nur eines heißen. Sein Freund musste sich als einfacher Krieger gekleidet und unter die Heimkehrer gemischt haben.
‚Wahrscheinlich versucht er so, dem Rat zu entgehen‘, dachte Cru und grinste. ‚Gar nicht mal so dumm.‘
Aber ihn täuschte er nicht. Selbst wenn sein Schwertbruder die markante Frisur unter einer Kapuze verbergen konnte, seine Aura verdeckte kein Mantel der Welt.
Nur wenige Augenblicke später jedoch durchzog ein Stich die blaue Brust des zweiten Heerführers, da er weder den Gesuchten noch dessen Aura im Burghof ausmachen konnte. Zwei Mal wiederholte er sein Unterfangen und konzentrierte alle seine Sinne darauf, doch nirgends war eine Spur seines Weggefährten zu entdecken. Selbst jeder Hauch dieser so geheimnisvollen Ausstrahlung, die sonst bedrohlich über allem lag und von Yos Anwesenheit kündete, lange bevor man ihn zu Augen bekam, fehlte. Mit gesenktem Blick stützte Cru sich auf das Fensterbrett und ein Hauch von Verzweiflung stieg in ihm auf. Hier und jetzt deutete nichts, aber auch gar nichts darauf hin, dass sein Schwertbruder ebenfalls zurückgekehrt war.
Hatte er sich geirrt? War Yo doch etwas zugestoßen? Nein, das konnte unmöglich sein! Weder brannte seine Narbe noch war der Ring an seinem Finger zu spüren, geschweige denn sichtbar. Ein einziges Mal nur war er aufgeflackert. Damals, etwa drei Mondphasen vor seinem Sieg über Thonaj. Zu später Stunde, mitten in der Nacht. Leuchtend hell und beißend bis ins Mark, doch nur zwei, drei Wimpernschläge lang. Zu kurz für eine tödliche Verletzung seines Freundes. Zumindest hatte er das bis zu diesem Moment ohne jeden Zweifel geglaubt und war nicht gewillt, jetzt davon abzurücken.
Doch wenn sein Freund am Leben war, warum war er dann nicht unter seinen Kriegern? Ein dunkler Gedanke jagte den nächsten. Vielleicht, so dachte der Sibulek, wollte sein Weggefährte auch gar nicht zurückkehren. Aber warum? Hatte er sich von ihm abgewandt? War durch den Krieg das Monster in ihm wieder erwacht? Nein, das durfte nicht sein! Dumpf schlug Cru mit der Faust auf den Sims, kniff die Augen fest zusammen und schüttelte energisch den Kopf, um diese quälenden Gedanken, die seinen zahlreichen Nachtmahren erschreckend ähnelten, zu verjagen.
Mit einem tiefen Atemzug öffnete er die Lider wieder, da erregte ein schweißglänzender Rappe seine Aufmerksamkeit und lenkte seine Gedanken in andere Bahnen. Das edle Tier war weder abgezäumt noch angebunden von seinem Reiter stehen gelassen worden und schnappte bissig nach dem halb durchnässten Stalljungen, der sich seiner gerade annehmen wollte. Dabei fielen dem Zweiten General sofort die für Reittiere Lanois etwas zu niedrige Schulterhöhe sowie die kräftigen Fesseln und Sprunggelenke im Vergleich zu der ansonsten eher feingliedrigen Anatomie des Pferdes auf.
„Ein pfeilschnelles Ross mit kräftigem Sprung. Erstklassig, doch in Lanoi ungebräuchlich“, murmelte er.
Mit Sicherheit gab es hierzulande nur eine Handvoll dieser noblen Tiere und ob ihres feurigen Temperamentes, das der arme Stalljunge soeben schmerzhaft zu spüren bekam, noch weniger Personen, die eines reiten konnten. Wenn er genau darüber nachdachte, kannte er bisher nur drei. Sich selbst eingeschlossen. Und so wutschnaubend und bockend, wie sich das Ross dort unten gebärdete, wollte er verflucht sein, wenn das nicht Raanuka war. Wo also war der Reiter?
Innerhalb weniger Augenblicke vermochte der Sibulek den mutmaßlichen Besitzer ausfindig zu machen. Schnellen Schrittes lief dieser an der Burgmauer entlang und entfernte sich ohne einen Blick zurück immer weiter von dem widerspenstigen Tier. Die in einen verhüllenden, schwarzen Umhang gekleidete Person hatte seine Kapuze weit ins Gesicht gezogen, sodass es völlig im Dunkeln lag. Selbst Crus geübte Augen konnten nichts erkennen. Auch nahm er nicht den schwächsten Schein einer Aura wahr. So sehr er es sich auch wünschte, diese Gestalt konnte nicht der Gesuchte sein. Doch wo war Yo dann? Und warum führte ein Anderer das Reittier seines Schwertbruders heim?
In Crus Kopf stürzten die Gedanken wild durcheinander, sein Blick aber blieb unbeirrt auf die schwarze Person gerichtet. Wer war das? Er konnte lediglich erahnen, dass es sich um einen Mann handeln musste, und um den Hals herum sah er einzelne, lange Strähnen des offenbar sehr hellen Haares hervorlugen. Einen Wimpernschlag lang funkelten sie im roten Schein der Sonne und erinnerte ihn an ein altes Bild aus der Vergangenheit.
Das seltsame Verhalten des Unbekannten, der den Umhang am Hals fest zusammenhielt und es vermied, den Blick zu heben, kam ihm mehr als sonderbar vor und machte ihn über die Maßen neugierig. Kleidung, Gang und die sich schemenhaft abzeichnende, recht schmale Gestalt des Mannes ließen vermuten, dass dieser kein Krieger war. Vielmehr erinnerte er ihn an den Magistraten des dritten Heeres, der seinem bleichen Freund als Beobachter und Berater zur Seite gestellt worden war. Ganz zu Yos Freude verstand sich. Doch dieses Los teilten alle Generäle.
Die drei Magistraten waren die letzten Magier und Druiden Lanois. Zumindest offiziell, denn die Menschen Lanois verachteten jedes magiebegabte Wesen, seit der alte Hexer Umgolt vor knapp dreihundert Wintern Kãn o‘ Saart, einen der Ahnen Kãn o’ Kaams, verraten und ihn mit Blitz und Donner hinterlistig getötet hatte. Seit dieser Zeit standen auf jede Art von Hexenkunst, Zauberei oder Magie grausame Strafen, die allesamt den qualvollen Tod des Verurteilten zur Folge hatten. Um ihr Dasein nicht im Dunkeln fristen zu müssen, hatten die drei Brüder sich entschlossen, der uralten Familientradition zu folgen und dem Herrscherhause zu dienen. Doch im Gegensatz zu ihren Vorfahren, gaben sie sich nicht mit einer beratenden Funktion im Hintergrund zufrieden, sondern hatten sich in die Dienste des Rates gestellt, was ihnen neben Schutz von höchster Stelle auch Ansehen und nicht zuletzt Macht einbrachte. Über die Zeit hatten sie ihre Position so weit gefestigt, dass sie nunmehr allein den Neun Weisen rechenschaftspflichtig waren. Dank ihrer Hexenkünste war es den Magistraten möglich, in den Geist anderer Personen einzutauchen, wodurch sie die Gedanken und Gesinnung der Heerführer erkennen und im Sinne des Rates lenken sollten. Insbesondere den Sibulek und seinen Weggefährten hatte dies auf eine wiederkehrende harte Probe gestellt, da ihre eigene magische Begabung um jeden Preis unentdeckt bleiben musste.
Mit leichtem Groll dachte Cru kurz an seinen Berater zurück und an die langen Diskussionen mit den Alten, die dieser ihm schon so einige Male eingebrockt hatte. Dabei war er im Vergleich zu seinem spitzohrigen Freund ruhig, umgänglich und vermied nach Möglichkeit allzu häufige Konfrontationen mit seinem Magistraten und dem Rat. Gerechterweise musste er allerdings auch zugeben, dass er mit Arik Nika von Teusch den am wenigsten aufstrebenden und damit vielleicht pflegeleichtesten der drei Brüder zugeteilt bekommen hatte. Im Laufe der Zeit hatten sie sich doch mehr recht als schlecht zusammengerauft und einen zumeist respektvollen Umgang miteinander entwickelt. Nichtsdestotrotz hatte es gerade zu Beginn oft genug zwischen ihnen gekracht.
Doch das war kein Vergleich zu seinem Schwertbruder! Wie oft dieser seines Magistraten wegen schon vor den Ältestenrat zitiert wurde, hatte der Sibulek bei Erreichen der dreistelligen Grenze irgendwann zu zählen aufgehört. Die impulsive, streitbare Art seines Weggefährten hatte beinahe täglich zu mitunter handfesten Auseinandersetzungen mit dessen Ratgeber geführt. Erschwerend kam hinzu, dass Isidor Rochus von Teusch keinerlei soziales Feingefühl besaß und einen nicht minder störrischen und belehrungsresistenten, dafür umso machthungrigeren und durchtriebeneren Charakter als Yo aufwies. Eine explosivere Mischung als diese gab es nicht und vielleicht war genau das auch der Grund für die Entscheidung des Rates gewesen. Schließlich war sein bleicher Schwertbruder der Mehrzahl der Weisen schon von jeher ein brennender Dorn im Auge.
Gespannt verfolgte der Anführer der Weißen Wölfe daher, in welchem Tempo jener Magistrat da unten im Hof wohl zu den alten Herren eilte. Mit schnellen, fast schon hastigen Schritten lief der Mann den Säulengang am Rande des Hofes entlang und schien es tatsächlich gar nicht erwarten zu können, die große Halle im Ostflügel zu erreichen.
Was sein Freund dieses Mal wohl verbrochen hatte? Welch wahnwitzige Aktionen hatte er wieder befohlen? Gegen wie viele Regeln und Vorschriften hatte er verstoßen? Wie er Yo kannte, musste es eine endlose Aufzählung sein, die die greisen Weisen eine Ewigkeit lang an ihre Ratssitze fesseln und ohne Frage an den Rand der Verzweiflung bringen musste. Doch gerade, da Cru sich schmunzelnd die mutmaßlichen Schandtaten seines Schwertbruders ausmalte, stellte er erstaunt fest, dass der Mann in Schwarz kurz vor dem Südflügel abbog und quer über den Innenhof direkt auf den Westflügel der Festung zusteuerte.
‚Das ist nicht der Weg zum Rat‘, dachte er irritiert und verfolgte die seltsame Gestalt mit stetig wachsendem Argwohn.
Leichtfüßig und elegant schlängelte diese sich durch die Menschenmassen und durchquerte den überfüllten Innenhof offenbar ohne jeden Widerstand. Und je mehr der Fremde sich der Burgseite näherte, in der auch die Gemächer der Generäle lagen, desto kleiner wirkte er. In Cru keimte erneut ein hoffnungsvoller Gedanke. Für einen winzigen Moment meinte er gar, ein hauchzartes feuriges Flimmern im Dunkel des Umhanges wahrzunehmen. Unwillkürlich presste er sich enger an den Fensterrahmen. Konnte das sein?
Doch schon einen Wimpernschlag später realisierte der Sibulek, dass er einer Sinnestäuschung erlegen und der vermeintlich rote Schein nicht vorhanden oder dem Abendrot geschuldet war. Zudem war es auch kein Alleinstellungsmerkmal, kleiner als die Mehrheit der Männer Lanois zu sein und helles Haar zu tragen. Mit Sicherheit traf dies auf einen von tausend oder gar hundert zu. Enttäuscht schüttelte Cru den Kopf, als ihm klar wurde, dass nur sein Wunsch Vater des Gedankens gewesen war und seinem Herzen einen Streich gespielt hatte. Denn wenn ihn seine Erinnerung nach all der Zeit nicht komplett trog, dann war Isidor nur unwesentlich größer als Yo und trug beinahe ebenso helles, weißblondes Haar, das ihm bei der Abreise vor drei Wintern fast bis zu den Schultern gereicht hatte.
Dass der Mann im Hof weiterhin zielstrebig auf den Westflügel zusteuerte, gab ihm allerdings ernsthaft zu denken. Das bedeutete dann wohl, dass etwas Schlimmes passiert war. Etwas, über das er zuvörderst im Geheimen Bericht erstatten wollte. Vielleicht dem Rat. Vielleicht Cay Rojahn, dem seinem Freund bekanntermaßen in Hass verbundenen Ersten General. Vielleicht den Sekundanten des Regenten. Vielleicht gar einem Spion bei Hofe. Wem auch immer, es erklärte die verhüllende Aufmachung und die unverkennbare Eile des Mannes. Doch war das auch der Grund dafür, dass sein Freund noch immer nicht aufgetaucht war? Erneut färbten die Gedanken des Sibulek sich zusehends dunkler und schwärzer. Was, um Himmelswillen, war passiert? Wo war Yo?