Er stand da, mitten im Zimmer. Schwarz gekleidet, der Mantel mit funkelnden Regentropfen benetzt, düster dreinblickend wie ein Racheengel auf dunkler Mission.
Der Mann aus dem Wald. Dionysos.
Garretts Herzschlag, der vor Schreck einen Moment holperte, beruhigte sich wieder und besorgt lauschte er nun in den Flur, ob seine Mutter wohl auf seinen Schrei reagierte.
»Sie hat eine Schlaftablette genommen. Zusammen mit einer halben Flasche Schnaps. Die weckt so schnell nichts mehr«, brummte der Vampir und ließ sich in Garretts Sessel nieder.
»Wie kommst du hier rein?«, flüsterte Garrett dennoch instinktiv und fühlte die Anspannung am ganzen Leib. Die Präsenz des Mannes war überwältigend. Sein eigentlich großes Zimmer erschien ihm plötzlich winzig und der markante Duft nach Wald, frischer Luft und Vampir war deutlich wahrzunehmen. Garrett atmete tief ein, denn es roch gut.
»Du solltest dein Fenster verriegeln, wenn du das Zimmer verlässt«, schmunzelte Dionysos und Garrett zog die Brauen hoch.
»Wer, außer dir, steigt in ein Fenster im ersten Stock ein?« Er lachte leicht, merkte aber, dass der Vampir nicht miteinstieg. Also hockte er sich auf die Bettkante und wartete, dass er mit der Sprache rausrückte, warum er hier eingebrochen war. Doch Dionysos sagte nichts. Er starrte auf Garretts blauen Teppich, die Stirn umwölkt, die Brauen verkniffen, den Daumennagel zwischen den ebenmäßigen Zähnen.
Alles an ihm drückte Sorge aus. Und Missmut. Schließlich, nach mehreren Minuten Stille, atmete Garrett tief durch.
»Hör mal, wenn du sauer bist, dass ich schon wieder nicht auf dich gehört habe... was soll ich meiner Mum sagen, warum ich die Stadt verlasse? Mitten im Schuljahr?«, brach er die Stille und zog die dunklen Augen des Vampirs auf sich.
»Vergiss es. Dafür ist es eh zu spät.«
»Wie meinst du das?«
»Es hat bereits begonnen. Und es ist schlimmer, als ich befürchtet habe.« Dionysos stand auf und lief auf und ab, bis Garrett nervös wurde. Er ergriff die kalte Hand des Vampirs und zwang ihn, sich wieder zu setzen.
»Was hat begonnen? Jetzt sag schon! Warum bist du hier?«
Dionysos hielt dem Blick des Jungen nicht stand und als er seine Augen abwandte, glaubte Garrett, Schuld in ihnen zu sehen.
»Was hast du getan?«, flüsterte er und fürchtete zugleich die Antwort.
»Chester Bayfield...«, murmelte der Vampir leise und entzog Garrett seine Hand, die er noch immer umschlossen hatte. Der Junge machte einen Schritt zurück, einen entsetzten Gesichtsausdruck im Gesicht.
»Du hast...?!«
»Nein!!«, rief Dionysos und erhob sich erneut. »...doch es ist meine Schuld. Ebenso hätte ich es selbst tun können.« Seine Augen hatten einen flehenden Ausdruck angenommen, als wollte dieser Vampir um jeden Preis vermeiden, dass Garrett schlecht von ihm dachte. Dieser entspannte sich etwas.
»Also... war das... ein Vampir? Und er ist deinetwegen hier?«
Dionysos seufzte. »Die Sache ist leider etwas komplizierter.«
Dann erzählte er dem Jungen von der Schande, die er auf sich geladen hatte. Dass er eine ganze Stadt ins Verderben gestoßen hatte und dass der alte Chester nur der Anfang des Grauens war.
Garrett war während der Erzählung blass geworden, blasser als ohnehin schon und ein Blitzen in seinen Augen sprach Bände von der Angst, die ihn ergriffen hatte.
»Es tut mir leid«, hörte er den Vampir sagen und tatsächlich stand ihm die Reue ins Gesicht geschrieben. Auch wenn es nichts von der Schönheit eines griechischen Gottes eingebüßt hatte, sah es müde aus, der Gram war deutlich sichtbar.
»Eins verstehe ich nicht... warum bereust du es? Wenn die Menschen dir damals nichts bedeutet haben, was hat sich dann heute geändert?« Garrett saß auf dem Teppich, an das Bett gelehnt, die Knie an die schmale Brust gezogen, noch immer weiß wie ein Laken.
»Du.«
»Ich?« Überraschung und Röte breiteten sich auf dem Gesicht des Jungen aus.
»Ja, du. Dich hat es damals nicht gegeben.«
Garretts blasses Gesicht hatte mittlerweile die Farbe eines Hummers und er versuchte, es hinter seinen Knien zu verbergen. Warum sagte er jetzt sowas? Die Situation war todernst und er wollte ihn aufziehen?
»Versteh mich nicht falsch, Garrett. Es ist vielmehr so, dass du mich an jemanden erinnerst, der mir sehr viel bedeutet hat«, drang die leise Stimme wieder in Garretts Ohr. Langsam hob er den Kopf und sah Dionysos an.
»Wer war es? Ein Freund? Ein... Liebhaber?«
Die Hitze in seinen Wangen war kaum auszuhalten. Doch Dionysos‘ angespanntes Gesicht entspannte sich endlich wieder. Ja, er lächelte sogar.
»Freunde hatte ich nie und eine Person, die ich je geliebt hätte, meines Erachtens nach auch nicht. Nichts, was über flüchtige Leidenschaften hinaus ging. Ich bin unsterblich, die Liebe ist es nicht. Bis auf eine. Die Person war mein Bruder.«
Das Lächeln wurde von spöttisch zu sanft und ein liebevoller Ausdruck breitete sich auf dem Göttergesicht aus, erhellte es. Garrett musste unwillkürlich ebenfalls lächeln.
»Was passierte mit ihm?«
»Er starb. Bereits als Kind, noch keine 8 Jahre alt. Unsere Eltern hatten uns weggegeben, weil nicht für alle Kinder Essen da war. Ich blieb bei ihm, weil von all meinen Geschwistern er der einzige war, den ich wirklich liebte. Doch ich konnte ihn nicht retten, ihn nicht beschützen, obwohl ich es ihm versprochen hatte und er mir vertraute.«
Dionysos sprach gefasst, seine Stimme klang normal und doch spürte Garrett die Trauer in den Worten.
»Wie alt warst du, als er starb?«
»Neun.«
Garrett klappte der Kiefer runter.
»Du warst selbst noch...? Wie hättest du ihn da retten sollen? Vor was eigentlich?«
»Vor dem grausamen Leben, das uns bevorstand. Vor der Willkür der Männer, in dessen Obhut wir waren, vor der Trostlosigkeit eines Lebens hinter kalten Klostermauern. Ich wollte ihn für immer an meiner Seite halten und wie ein Regenmantel alles Schlechte von ihm fernhalten. Er war zu gut für diese Welt, ich war es nicht. Und trotzdem ist er gestorben und ich bin noch hier. Ich habe versagt.«
Nun hatte die Trauer auch Dionysos‘ Gesicht erreicht und die Sorgenfalten, die das Lächeln weggebügelt hatte, waren wieder da. Garrett wusste nicht, was er sagen sollte. Offenbar trug der Vampir diese Schuldgefühle schon immer mit sich herum und konnte es nie jemandem erzählen. Denn den Eindruck eines schweigsamen Mannes machte er gerade nicht auf ihn.
»Hm...«, setzte der Junge an, als der Vampir schwieg. »War er denn glücklich vor seinem Tod? Also die Tage, Wochen davor?«
»Bevor er wieder krank wurde, hat er sehr viel gespielt und gelacht. Trotz der harten Arbeit und des kargen Klosterlebens...«, flüsterte Dionysos.
»Dann hast du auch nicht versagt. Kommt es nicht darauf an, wie man die Zeit nutzt, die man hat, egal wie wenig es ist? Wenn er glücklich war, ist alles andere unwichtig.«
»Vielleicht hast du Recht. Wenn ich bedenke, was in den folgenden 15 Jahren, die ich dort lebte und heranwuchs, mit mir geschah, sollte ich glücklich sein, dass Gott beschloss, Lachlan fortzuholen. In Sicherheit.«
Die Stimme, die eben noch voll Trauer war, war nun kalt und splitternd wie Glas. Garrett erschauderte angesichts des blanken Hasses in Dionysos‘ Augen. Er erinnerte sich, ein Schauermärchen über ein zerstörtes Kloster im Osten Irlands gelesen zu haben. Scheinbar mehr historisches Ereignis als Märchen!
»Also stimmt die Legende? Du hast sie alle umgebracht?«, murmelte der Junge, dessen Gesichtsfarbe das Rot schon wieder eingebüßt hatte.
»Nicht ganz. Ich tötete zwei von ihnen mit eigenen Händen. Den alten Abt mit dem Rattengesicht, der es liebte, mich mit einer Reitgerte zu verprügeln, bis ihm einer abging. Und meinen feinen Lehrmeister, der mir außer Lesen und Schreiben auch noch beibrachte, dass es besser wäre, die Klappe zu halten, während er sich an mir verging. Das war was Persönliches. Die anderen hatten nur das Pech, den Eintopf zu essen, den ich vergiftet hatte. Sie starben nicht, oh nein. Aber sie bekamen fürchterliche Halluzinationen. Und für ein Kloster voller Bettelmönche hatte es eine beträchtliche Waffensammlung, die zur Zierde besonders im Speisesaal hing. Die Mönche erkannten einander nicht mehr als Menschen, sondern sahen Dämonen, die es zu vernichten galt. Meine Schuld war nur, dass ich die Ausgänge verriegelt und sie nicht abgehalten habe, sich zu ermorden.«
Das schöne Gesicht des Mannes hatte einen teuflischen Ausdruck angenommen. Das war Dionysos, wie Garrett ihn sich vorgestellt hatte. Grausam, herzlos, mit einem diabolischen Vergnügen an den Untaten, die er begangen hatte. Doch andererseits – er hatte jahrelange Qualen, körperlich und seelisch, ertragen müssen, war geschlagen, vergewaltigt, erniedrigt worden... hätte er, Garrett, in dieser Situation, mit der unbändigen Macht eines Vampirs, nicht vielleicht auch so gehandelt? Sich gerächt, so grausam, wie man es zu ihm gewesen war? In einer Zeit, in der ein Menschenleben nichts wert und Mord an der Tagesordnung war?
Garrett wusste es nicht.
»Bereust du manchmal, was du getan hast?«, fragte er deshalb leise.
»Vieles bereue ich, ja. Obwohl mir die Menschen gleichgültig sind, bedauere ich die, die ihr Leben ließen, um mich zu nähren und mein Leben verlängerten. Doch nicht einen Tag habe ich bereut, was ich den Ratten in der Hölle meiner Kindheit angetan habe. Niemals! Nachdem ich 15 Jahre lang hilflos der Willkür ausgesetzt war, war dieser Moment der Macht für mich wie der einzig wahre Beginn meines Lebens.«
Garrett seufzte. »Was hätte dein Bruder davon gehalten?«
Diese Frage schien Dionysos zu schmerzen, denn er biss die Lippen aufeinander.
»Lachlan kannte Dionysos nicht. Für ihn war ich immer nur sein mutiger, großer Bruder. Er hätte diese Taten nicht gutgeheißen, doch ich bin überzeugt, er hätte mich nicht verurteilt.«
Eine ganze Weile herrschte Schweigen und nur das Ticken der Uhr an der Wand über dem Schreibtisch zeigte, dass die Zeit nicht stillstand. Garrett lutschte, tief im Gedanken versunken, an seinem Daumen, einen kleinen Fussel auf dem Teppich fixierend, als ihm etwas einfiel.
»Du sagtest, Chester sei das Opfer eines Vampirs. Aber würde ein Vampir denn so viel Blut in der Leiche und am Tatort zurücklassen? Meine Mutter sagte, es sei alles damit verschmiert gewesen?«
Dionysos schüttelte den Kopf. »Nein, das würde ein Vampir nicht tun. Ich habe schon in der Nacht, als es geschah, den Blutgestank wahrgenommen. Nur dachte ich, dass es ein üblicher, blutiger Unfall war, weil eben ein Vampir keine 4 Liter Blut ungetrunken lassen würde, egal wie alt der Besitzer war.«
Garrett trocknete seinen angelutschten Daumen an seinem Shirt.
»Was war es dann? Du sagtest vorher, es sei schlimmer, als du dachtest.«
Dionysos lächelte. Ein Lächeln, das Garretts Puls beschleunigte. Er wandte die Augen ab.
»Ein Vampir wäre diskret vorgegangen. Entweder hätte er es wie einen natürlichen Tod aussehen lassen – in Chesters Alter logisch – oder er hätte ihn verschwinden lassen. Dieses rohe Zur Schau stellen ist eine andere Handschrift, eine, die davon zeugt, dass aus Vergnügen getötet wurde. Denn nur ein Teil des Blutes wurde konsumiert.« Dionysos rieb sich das Kinn, die Sorgenfalten waren wieder da.
»Einerseits, wenn ich Recht habe, könnte es auch zu unserem Vorteil sein. Andererseits wird das den Grad der Gewalt nur noch mehr erhöhen. Und damit die Schuld, die auf mir lastet. Und die Gefahr, in der du dich befindest.«
Garrett zog die Beine an die Brust und legte das Kinn auf die Knie. Gänsehaut kroch über seine Unterarme und er begann zu frieren.
»Du bist richtig gut darin, einem die Angst zu nehmen«, brummte er sarkastisch. »Aber du hast immer noch nicht gesagt, was genau denn nun deiner Meinung nach Chester getötet hat...«
Dionysos grinste – zum ersten Mal an diesem Abend – und wollte gerade den Mund zu einer Antwort öffnen, als er plötzlich erstarrte und lauschte.
»Was is~«, weiter kam Garrett nicht, da der Vampir vor ihm hockte und ihm die Hand auf den Mund presste.
»Psst... sind alle Türen im Haus abgeschlossen?« Dionysos‘ Lippen berührten fast Garretts Haut, so nah waren sie an seinem Ohr. Der Junge zitterte vor Angst.
»Die Hintertür habe ich vorhin verriegelt, aber bei der Haustür weiß ich es nicht...«
»Verhalt‘ dich ruhig, ich bin in 10 Sekunden wieder da«, hauchte der Vampir und verschwand. Diese 10 Sekunden kamen Garrett wie Stunden vor. Irgendwas hatte der Mann wahrgenommen, das ihm verborgen blieb. Es versetzte ihn in Alarmbereitschaft und Garrett in Angst.
Ein Schreckenslaut entfuhr ihm, als das Licht im Zimmer ausging und sein Herz raste, als die Gestalt des Vampirs wieder vor ihm saß. Einem Impuls folgend warf er sich dem Mann für einen Augenblick in die Arme und beruhigte sich, als der diese mit sanftem Druck um ihn schloss.
»Alles soweit ok. Es ist kein Vampir da draußen, der die Türen öffnet. Dafür sind sie nämlich zu dumm«, knurrte Dionysos leise in Garretts Ohr, als er ihn wieder los ließ.
»Wer ist zu dumm?« Garretts Stimme zitterte und klang wie ein 12-Jähriger im Stimmbruch.
»Die da!« Dionysos zog den Jungen an das Fenster und spähte vorsichtig durch die Gardinen.
Draußen auf der Terrasse standen eine Handvoll schaurig aussehender Gestalten mit wirren Haaren, abgewrackten Kleidern und blöden Gesichtern.
»Wer sind die?«, fiepste Garrett.
»Allisters Armee. Dieser Schweinehund hat Ghoule in die Stadt gebracht!«