Brantner senior ging gegen drei Uhr Morgens verärgert schlafen. Nun, sein Sohn war alt genug, auch einmal auswärts zu nächtigen, es war aber nicht die Regel. Seit er vor nicht all zu langer Zeit seine Beziehung mit Sabine aufgegeben hatte, hatte er das Nachtleben eigentlich gemieden. Er war fast zum Stubenhocker geworden. Sein Vater vermutete, dass er Sabine auf die Schliche gekommen war, denn er selbst hatte sie einmal mit einem charmanten Herren in Salzburg gesehen, von dem er annahm, dass sie Josef mit ihm betrog. Sein Sohn hatte kurz darauf mit Sabine Schluss gemacht und war nur noch introvertierter und leider auch noch sturer geworden. Ausgegangen ist er so gut wie gar nicht mehr. Warum Josef heute Nacht nicht heimgekommen war, entzog sich seiner Kenntnis. Er würde die Konfrontation wohl auf morgen verschieben müssen...
Während Josef wieder eingeschlafen war, kam Mantodea, alias Sonja, nicht zur Ruhe. So sehr sie diese Wärme, diese Nähe genoss, um so stärker nagte ihr Gewissen, das Wissen um ihre Situation an ihr. Nie hatte sie die körperliche Nähe eines Mannes, die Zärtlichkeit, ja Geborgenheit so intensiv wahrgenommen und genossen, wie in seinen Armen.
Sie, die den Begriff Gewissen bis heute für eine Erfindung gehalten hatte, realisierte nun, dass es wohl stimmen musste, was ihre langjährige Betreuerin im Heim ihr einst erzählt hatte...
Anna hatte Sonja alias Christina, nachdem sie der Puppe ihrer jüngeren Zimmergenossin den Kopf abgerissen hatte, erklärt, dass jedes Unrecht früher oder später eine Bestrafung erfahren würde. Sie beklagte, dass Christina offenbar kein Unrechtsempfinden kannte. Da es ein katholisches Weisenheim gewesen war, wurde viel gebetet und den jungen Mädchen Gottesfürchtigkeit gelehrt. Einzig: Bei Christina hatte nichts gefruchtet! Als sie dann Syntias Puppe "getötet" hatte, wurde sie von Anna zurechtgewiesen, was diese mit einem Lächeln abtat. Das dreizehnjährige Mädchen lachte ihre Betreuerin aus und meinte eiskalt: "Wie kannst du diesen ganzen Scheiß glauben, den ihr uns da erzählt? Gottesdienst! Allein das Wort macht mich krank. Haltet ihr mich für Blöd! Fegefeuer, Himmel, Hölle! Verlangst du wirklich von mir, dass ich mich nach den Regeln eures großen Märchenbuchs verhalte? Der Bibel? Ihr könnt mich mal alle! Weißt du was Intelligenz ist? Wohl eher nicht oder? Ihr müsstet vermutlich alle zusammenlegen, um euch mit mir messen zu können! Und ihr wollt mir sagen, wie ich mich zu verhalten habe? Da kann ich nur darüber lachen!
Christina war unvermittelbar. Einmal hatte ein Paar versucht, sie in Pflege zu nehmen, doch man hatte das Mädchen noch in der Nacht zurückgebracht. Auch der ehemalige stellvertretende Heimleiter, der für kurze Zeit während einer Erkrankung der Heimleiterin ins Haus gerufen worden war, musste schmerzhaft erfahren, dass sich dieses hübsche, junge Ding nicht einfach missbrauchen ließ! Er hatte sie zu sich gerufen, die Tür versperrt und sich vor ihr entblößt. Hatte sie Anfangs noch den Eindruck erweckt, sich in das Unvermeidbare zu fügen, hatte sie plötzlich sein Skrotum gepackt und drückte zu, so fest es ihre zarte Hand erlaubte, um ihm sofort nach dem Loslassen mit aller Macht ihr Knie in die Weichteile zu rammen!
"Und nun lauf zu deinen Betschwestern und verrat' mich, du Schwein! Ach, das geht ja wohl nicht gut...! Vielleicht sollte besser ich dich verraten? Oder sorgst du dafür, dass mich diese dummen Weiber endlich aus dem Kraut lassen, wenn sie zur Betstunde gehn? Du kannst es dir aussuchen! Und wage es nicht, mich noch einmal zu berühren!"
Sie nahm sich den Schüssel aus seiner Hosentasche sperrte das Büro auf, ließ die Tür sperrangelweit offen und ging in die Bibliothek. Das war der einzige Raum in dem Heim, den sie mochte...
Während der "Heimleiter" sich in gerechtem Schmerz auf dem Boden wälzend, von Anna gefunden wurde, die von Anfang an den Verdacht gehabt hatte, dass dieser Mann ein Schwein wäre, das sich an ihren Schützlingen vergehen wollte, saß Christina im Schneidersitz auf dem Teppich der Bibliothek und las einen Roman in englisch. Sie las gerne Bücher in fremden Sprachen, denn sprachlich war sie sehr begabt. Als Anna zu ihr kam, merkte sie, das diese wohl zu einem Gespräch bereit war, wie es mit den Mädchen im Heim normalerweise nicht geführt wurde.
"Christina, was dieser gemeine Kerl dir antun wollte, ist unverzeihlich! Deshalb bin ich auch in der Nähe geblieben, um dich schützen zu können, falls sich mein Verdacht bestätigen sollte. Du hast mich dazu offenbar nicht gebraucht... Ich bin nicht deine Feindin, Mädchen! Aber ich trage Verantwortung für dich und schon allein deswegen kann ich dein destruktives Verhalten nicht ständig tolerieren, verstehst du das denn nicht?
Du hast die Bibel als Märchenbuch bezeichnet... Nun im weitesten Sinne mag sie das sein, wenn man sie wörtlich nimmt. Mann muss schon das eine oder andere Mal zwischen den Zeilen lesen, um zu verstehen, was gemeint ist. Weißt du, Christina, ich selbst glaube auch nicht, dass es eine Hölle oder einen Himmel als geografischen Platz gibt. Ich glaube, dass wir sowohl das Glück des Himmels wie auch die Pein der Hölle noch während unseres irdischen Daseins durchleben... Ein jeder ist seines Glückes Schmied heißt es. Und wenn man erfolgreich ein süßes aber sündiges Leben lebt, so mag man sich wohl eine Zeit lang im Himmel wähnen. Aber glaub mir, Liebes man kann die Hölle auch auf Erden erleben und ich fürchte, du bist prädestiniert dazu, denn du bist unglaublich klug, aber du hast kein Gefühl, kein Empfinden für Gut und Böse. Irgendwann wirst du die Rechnung dafür präsentiert bekommen, dass du auf alle Regeln pfeifst! Wenn du das Gefühl hast, endlich glücklich zu werden, wird der Herrgott dich strafen! Und ich würde dich so gerne davor bewahren, indem ich dich schon zuvor eine Lebensart lehre, die dich vor solcher Strafe bewahren könnte. Doch ich fürchte das wird mir nicht gelingen. Dennoch, Christina, möchte ich, dass du mir glaubst, dass ich dich gern habe und du sollst wissen, dass ich dich täglich in mein Gebet einschließe..."
Jetzt, Jahre später, lag Christina in den Armen des Mannes, mit dem sie gerne glücklich geworden wäre... Sollte Anna tatsächlich Recht behalten haben...?