Ein eigenartiger Geruch erfüllte Sassys Nase, süßlich und doch säuerlich. Verwesung. Ihr Kopf fühlte sich leer an und doch zu schwer, um ihn anzuheben. Es war Zeit aufzuwachen, Zeit die Augen zu öffnen. Es war dämmrig und schmutzig, sie lag auf kaltem Beton. Die Wände hatten keinen Putz mehr, nur noch die nackten Ziegel waren zu sehen. Alles alt und verlassen, eine Ruine, ein Mahnmal für den schrecklichen Vorfall an diesem Ort. Aber der Geruch nach Verwesung passte nicht zu den anderen modrigen Düften des Verfalls eines Gebäudes. Er stammte von der Kreatur, die direkt neben Sassy lag. Auch sie erhob sich langsam, krächzte in ihre Richtung. Sassys Atem stockte, sie wagte es nicht sich weiter zu bewegen oder gar ganz aufzustehen. Schon einmal war sie genau dieser Kreatur begegnet, in dem Treppenhaus des verfallenen Wolkenkratzers in der Mitte dieser verfluchten Stadt. Das hängende Auge war fachmännisch entfernt worden und die fehlenden Hinterläufe durch zwei Prothesen ersetzt worden. Man konnte das Einschussloch im Kopf, welches Kyra verursacht hatte, noch genau erkennen. Es näherte sich mit dem Kopf langsam und schnupperte an ihrer Wange, Sassy konnte den Schrei gerade noch unterdrücken, wartete trotzdem darauf, dass es zubeißen würde.
"Freunde", krächzte es neben ihr und das verstoßene Wesen schleckte ihr mit der ledrigen Zunge über die Wange. Angewidert sprang Sassy auf. Es war zwar beruhigend, dass dieses Vieh sie nicht mehr töten wollte, aber diesen Atem konnte sie nicht ertragen.
"Pssssst! Sie ist wach", hörte Sassy jemanden flüstern. Sie konzentrierte sich, die Frauenstimme kam von der Wand vor ihr, in welcher schon einige Ziegel fehlten. Man hatte sie also beobachtet, während sie geschlafen hatte.
"Sie kann uns nicht durch die Wand hören", flüsterte eine zweite Frauenstimme, "Außerdem wolltest du doch unbedingt wissen wie die Blutsaugerin aussieht!"
Sassy würde hellhörig. Im Schlaf von zwei Stalkerinnen beobachtet zu werden, war eine Sache, aber woher wussten sie über ihre Rasse Bescheid? Das Krächzen des Verstoßenen ließ sie zusammenzucken. Ungefragt kuschelte sich die abscheuliche Kreatur nun auch noch an ihr Schienbein. Bei dem Blick nach unten, fiel ihr auf, dass man ihr alle Waffen abgenommen hatte. "Ihr könnt reinkommen Ladys", fauchte Sassy in Richtung der Wand, "Falls ihr das noch nicht wisst, wir bevorzugen den Ausdruck Vampir und unsere Ohren können jede Ratte in den Wänden wahrnehmen!"
Es dauerte noch einen Moment, bis jemand durch die Türe trat, dann aber standen zwei beschämte junge Frauen vor Sassy. "Es tut uns leid Madame", erklärte die erste, sie war ein wenig dicklich und hatte blondes Haar. "Ja wirklich!", warf die zweite, drahtig und rothaarig mit vielen Sommersprossen ein. Beide trugen schmutzige alte Kleidung, passend zu den verfallenen Gemäuern. Sassy zog eine Braue hoch und musterte die beiden noch einen Moment. Dann lächelte sie milde: "Schon gut, wer hat mich..."
Plötzlich wurde sie von einer wirklich wütenden Männerstimme unterbrochen: "Ich habe euch dummen Gänsen gesagt, ihr sollt sie in Ruhe lassen! Es ist mehr als unverschämt jemanden beim Schlafen zu beobachten!"
Alpha lehnte mit wütendem Blick in der Türe. Die beiden jungen Damen huschten an ihm vorbei, ohne ihn dabei anzusehen und verschwanden in der Dunkelheit.
"Ich muss mich für die beiden entschuldigen!", er fuhr sich verlegen durch seine Haare, "Sie sind bloß neugierig, wie alle anderen seit ich dich her brachte..."
Sassy stemmte die Hände in die Hüfte: "Wo bin ich hier?"
Alpha begann zu erklären, dass sie sich im letzten sicheren Lager der Menschen, direkt vor Zone 1 befand. Die Leute hatten sich in den Kellergängen einer Fabrikruine verschanzt und lebten hier ohne je von der Firma entdeckt worden zu sein.
"Die Firma...", Sassy überlegte angestrengt, "Was macht diese Firma?"
Alpha streckte ihr die Hand hin: "Sieh selbst!"
Sassy zögerte. Eine erneute Begegnung mit diesem Schemen von Finn wollte sie eigentlich nicht. Die letzte Vision nagte noch an ihr, der kleine blonde Junge, welcher genau wie Finn ausgesehen hatte. Mit den gelben Augen. Mit den Augen des Dunklen.
"Du musst deine Emotionen und Wünsche beherrschen, solange du durch meine Augen sehen kannst!", Alpha schien genau zu wissen was sie dachte, "Außerdem ist vieles hier nicht wie es scheint. Schau dir Temply hier an, sie ist ein verschmuster kleiner Streicheltiger und wir hatten große Angst vor ihr!"
Sassy starrte auf das entstellte Wesen, welches sich wieder an ihrem Schienbein rieb: "Du hast diesem Ding einen Namen gegeben?"
Alpha lächelte und kam näher, liebevoll streichelte er Temply über den verwesenden Kopf: "Du solltest doch am besten wissen, dass man nicht alle Vorurteile über andere Wesen glauben sollte. Außerdem ist nur die äußere Hülle beängstigend. Sie ist ein sehr liebes Wesen und sie ist nicht von deiner Seite gewichen, als du geschlafen hast!"
Sassy schauderte bei dem Gedanken, dass sie über Stunden alleine mit diesem Vieh war. Mit dem einen Auge lugte es wieder zu ihr und krächzte überschwänglich: "Freundeeeee!" Sassy rang sich ein Lächeln in Richtung der Kreatur ab, die zu allem Überfluss zu Schnurren begann.
"Du hast Recht! Ich habe das Gefühl, näher an Finn zu sein, als je zuvor. Ich muss mehr über seine, also eure, Kindheit erfahren!", stellte Sassy fest und nahm zaghaft seine Hand. Was dann passierte überraschte beide. Nichts. Absolut gar nichts. Kein elektrischer Schlag, keine Vision, kein Ausfall.
"Es funktioniert nicht!", stellte Alpha fest, "Gut, ich dachte schon, jeder Körperkontakt von uns beiden löst so etwas aus!"
Sassy ließ sofort seine Hand los: "Was für einen Grund hätten wir sonst für Körperkontakt?" Das Schweigen, welches den Raum nun erfüllte, war mehr als nur bedrückend und wurde von dem leisen Schnurren des halb verwesten Stubenktigers untermalt.
"Blut, durch Blut verbunden!", krächzte Temply und zupfte mit der Pfote an Sassys Knie, um beachtet zu werden. Dann biss es ohne Vorwarnung zu, Sassy zuckte zusammen und starrte schockiert auf das Vieh, welches sich genüsslich die Lippen leckte. Alpha war ebenso verwirrt, ehe er sich versehen konnte, biss das von ihm als ungefährlich eingestufte Lebewesen auch ihn. Etwas Unglaubliches geschah: Für einen kurzen Moment konnten sie Temply sehen, aber ohne jede Verwesung. Die wunderschöne Großkatze hatte glänzende gelbe Augen und seidiges braunes Fell. Ihr Körper war muskulös und ihre Stimme klang verändert, wie die einer Elfe: "Temply ist ein wunderschöner Name, den ich dankend annehme. Ich kann euch nicht lange zeigen, was schon ewig vergangen ist. Der Lebenssaft birgt eine Verbindung zwischen den Geistern, solange ihr hier seid und es zulasst. Trinkt ihn und ihr könnt für eine bestimmte Zeit die Erinnerungen und Gedanken des anderen wahrnehmen. Aber nehmt euch in Acht, das Blut der Titanen stürzt alle in Verderbnis. Wir sind nicht geschaffen, um mit ihrer DNA zu leben. Unsere Körper werden ohne ihre Gunst weiter verfallen. Wir brauchen einen König, darum helfe ich euch. Wir suchen dieselbe Sache, um zurückkehren zu können! Die Tempelkatzen werden an der Seite ihres Königs kämpfen, werden ihm dienen..."
Die Stimme begann zu stocken und das wunderschöne Tier verweste in Sekunden, die muskulösen Hinterbeine wurden wieder zu den Prothesen, die Alpha angebracht hatte und das Auge sowie die Fellstellen verschwanden.
"Okay, ich möchte nun auch etwas sehen...", Alpha starrte weiter auf Temply, die sich völlig erledigt zusammenrollte und einschlief.
Sassy starrte auf den Boden. Ihre Fragen wurden nicht weniger, im Gegenteil. "Was willst du sehen?", fragte sie ohne ihn anzusehen.
"Deine Erinnerungen an Finn. Ich will wissen, ob wir von meinem Bruder sprechen!", Alpha starrte auf seine Hände. Er schien von unangenehmen Erinnerungen geplagt zu werden. Sassy entdeckte einige Verbrennungen auf ihnen, sie schienen uralt und längst zu vernarbt zu sein. Sie konnte seinen Wunsch verstehen, aber das Gefühl einen Fremden in ihre Erinnerungen zu lassen bereitete ihr großes Unbehagen. Andererseits wüsste sie nur zu gerne, ob Alpha Finn als seinen Bruder wiedererkennen würde. Aber wie sollte das möglich sein? Finn hatte Shanora aus dem Fluss gezogen, als die Königsfamilie darin ertrank. Er war ihr Bruder, sie hatten dieselben magischen Augen. Wer also war der König, den die Verstoßenen, oder wie Temply sie zu nennen pflegte, Tempelkatzen, erwarteten und so verzweifelt suchten?
"Verliert euren Kopf nicht", krächzte Temply und unterbrach somit ihre Gedanken.
"Den Kopf verlieren wir schon nicht, aber sie hat recht...", Alpha kratzte sich am Kinn und sah Sassy nun direkt an, "Viele haben bei der Reise durch die Vergangenheit den Verstand verloren, aber was für eine Wahl bleibt uns? Ich denke wir stehen nicht ohne Grund jetzt hier!"
Sassy fummelte in ihrem Ärmel, bis ein Messer zum Vorschein kam. "War klar, dass ich nicht alle Waffen gefunden habe", grinste Alpha sie verschlagen an, "Eine Assassine weiß ihre Waffen zu verstecken!"
Sassys Gedanken kamen nun zum ersten Mal wieder auf die fehlenden Waffen: "Warum hast du sie mir abgenommen? Und nenn mich nicht so, das klingt lächerlich!"
Alpha lachte: "Ich hatte Angst, dass Temply an deine Dolche kommt und dabei, nun ja, irgendwie zu Tode kommt!"
Sassy atmete auf. Also gab es keinen Grund für erneutes Misstrauen. Die Frage wie es sich wohl anfühlte, wenn jemand ihr Blut trank, schwirrte nach wie vor in ihrem Kopf. Sie hatte bestimmt keine Lust, Chruch eine Bisswunde zu erklären. Die am Knie reichte schon. Vorsichtig strich sie mit der Klinge des Messers an ihrem Hals entlang, es zwickte ein wenig, dann spürte sie, wie ihr warmes Blut aus dem kleinen Schnitt floss.
"Bist du verrückt, wir hätten eine andere Lösung gefunden", entfuhr es Alpha, aber Sassy winkte ab. Der Schmerz war zu ertragen und ihre Selbstheilung würde die Wunde schon bald verschließen. "Nun mach schon!", sie legte den Kopf in den Nacken, gespannt auf das Gefühl, welches eigentlich sie anderen beschwerte. Alpha näherte sich ihr vorsichtig, er schien überfordert damit zu sein, wie er die Sache angehen sollte. "Ich bin nicht aus Zucker", gab Sassy genervt und ungeduldig von sich. Das Warten machte sie ganz aggressiv. Verunsichert stützte Alpha mit einer Hand ihren Nacken, die andere legte er auf ihren Rücken und zog sie zu sich. Sassy spürte seinen Atem auf ihrem Hals. Er zögerte noch kurz und statt einfach zuzubeißen legte er nur sanft die Lippen auf den Schnitt. Dabei begann er ihr fast zärtlich über den Rücken zu streicheln und drückte sie fest an sich, als müsste er sie trösten, wegen dem minimalen Schmerz. Sassy fühlte sich komisch. Ihr ganzer Körper schien zu kribbeln, dann sank sie mit ihm auf die Knie. Er schien in demselben Zustand zu sein, in welchen sie geraten war, nachdem sie zum ersten Mal sein Blut getrunken hatte. Sein Griff lockerte sich und er begann in sich zusammenzusacken. Temply stützte ihn und gemeinsam schafften sie es, ihn langsam auf den Boden gleiten zu lassen.
"Was für eine eigenartige Sache", stellte Sassy fest und rieb sich den Hals. Die Wunde begann bereits sich zu verschließen. Temply rollte sich neben ihm zusammen. Sie schien nun genau wie bei ihr über seinen Schlaf zu wachen.
"Du passt auf ihn auf, okay?", fragte Sassy zur Vorsicht noch einmal nach, "Ich hole meine Waffen. Wir müssen uns auf alles gefasst machen!"
Temply legte ihre Pfote auf Alphas Brust: "Ich werde über ihn wachen!" Sassy lächelte, das verweste Tier war ihr irgendwie ans Herz gewachsen.