Ich verstehe das alles nicht. Oder besser, ich will es nicht verstehen. Ich weigere mich, denn was nicht sein darf, kann auch nicht sein. Stattdessen verdränge ich das alles so gut es geht, aber dennoch habe ich meine schwachen Momente, in denen mir das nicht gelingt. Momente, in denen ich glaube, dass mein Innerstes Risse bekommt.
Nachts ist es furchtbar; umgeben von Dunkelheit und Stille. Mein Zimmer wird zum Gefängnis und schlafen kann ich, wenn überhaupt, nur mit geöffneten Rollläden und Musik. Dabei bringt mich die verdammte Musik nicht mal auf andere Gedanken, eher im Gegenteil. In jedem Lied scheint eine Andeutung zu sein, die mich nicht vergessen lässt, was passiert ist. Es scheint fast so, als hätten sie alle, die nicht mal von meiner Existenz ahnen oder sich dafür interesieren, gewusst, dass mein Leben an dieser Situation zu zerbrechen droht. Aber das ist immernoch besser, als die Alternative, die drückende Stille zu ertragen. Wie viele Tränen werde ich eigentlich noch nachts vergießen, weil meine Gedanken mich überkommen? Und werde ich aufhören zu weinen, weil es mir endlich besser geht oder einfach nur, weil ich keine Tränen mehr habe; weil ich in eine Stille Art der Trauer wechsele?
Auch die Tage sind nicht einfach. Selbst wenn mich Leute umgeben, spüre ich immernoch die Leere in mir. Ich bin hin- und hergerissen zwischen dem Wunsch, mit jemandem zu reden und dem Wissen, dass mir niemand helfen kann oder wird. Momentan spielt sich mein Leben auf dem schmalen Grat zwischen diesen beiden Fronten ab. Passiv warte ich darauf, zur einen oder anderen Seite zu fallen.
Und obwohl ich weiß, was passiert ist, habe ich noch immer mit diesen Fragen zu kämpfen, deren Antworten ich so gerne vergessen und ungeschehen machen würde. Wieso sieht meine Familie so traurig aus? Wieso fehlt mir genau jetzt die Kraft um für sie stark zu sein? Wieso passen meine Freunde in meiner Gegenwart plötzlich so sehr auf, was sie sagen? Wieso haben sie alle, die mir noch vor wenigen Tagen versprochen haben, dass alles wieder gut wird, ihren Optimismus restlos verloren? Wieso ausgerechnet jetzt, wo ich so dringend jemanden brauche, der mir sagt, dass alles nur ein böser Traum ist und mir beim Aufwachen hilft? Wieso kommen so viele Karten von Leuten, die ich nicht kenne und auch garnicht kenne will? Wieso versprechen sie alle, dass sie für uns da sein werden?Wieso scheinen so viele Leute, auch solche, deren Namen ich noch nie gehört und deren Gesicht ich noch nie gesehen habe, ein solches Mitleid mit mir zu haben? Wieso soll ich mich plötzlich schwarz anziehen, obwohl doch immer alle sagen, dass mir etwas Farbe guttun würde? Wieso herrscht hier eine Stille, die noch bedrückender ist ist als die, mit der die Nacht mich quält? Wieso erzählen all diese Leute mit Tränen in den Augen Geschichten aus längst vergangenen Zeiten, die bis auf ihre Hauptperson nicht die geringsten Gemeinsamkeiten haben? Und was mache ich verdammt nochmal auf dem Friedhof?
Ich weiß, was geschehen ist und ich weiß auch, dass mir der volle Umfang und die Folgen noch verborgen geblieben sind. Was ich nicht weiß ist, was passiert, wenn ein Alptraum die Welt der Träume verlässt, weil er viel lieber Realität sein will. Bis jetzt kann ich es nur erahnen, aber schon zu bald werde ich es lernen und ich habe panische Angst vor dem Tag, an dem dies geschieht, denn dann wird auch Verdrängen nicht mehr helfen und ich werde begreifen, was ein Alptraum anrichten kann.
An diesem Tag werde ich erfassen, dass sie nicht mehr zurückkommen wird und ich glaube nicht, dass ich stark genug bin, um mit der Antwort auf diese Frage zu leben: Wieso liegt dort ganz in schwarz gekleidet diese Person, die für mich stehts Halt und Hilfe bedeutet hat; wieso liegt in diesem Sarg ein so wichtiger Teil meines Lebens und scheint so tot zu sein?