Rúna hatte ihre kleine Solvig zusammen mit Katla auf der Moorinsel in Sicherheit gebracht. Wäre es nach Thorstein gegangen, hätte auch sie dort Unterschlupf gefunden. Doch in der jungen Frau war ein neues Gefühl erwacht - das Gefühl von Mut und auch ein wenig Trotz. Sie würde sich nicht vor einem Angreifer verstecken, der es auf das Leben ihrer Familie, auf ihren Besitz und ihre Ehre abgesehen hatte. Nicht umsonst war sie von Lathgertha in die Kampfkunst eingewiesen worden. Nun, da war sie sich sicher, konnte sie ein Schwert führen und zusammen mit den Schildmaiden die Siedlung verteidigen.
"Ich will dich dieser Gefahr nicht aussetzen!", hatte Thorstein sie eindringlich wissen lassen. "Ich habe schon einmal eine Frau verloren, die mir wichtig war. Du aber, Rúna, bedeutest mir alles. Ich wüsste nicht, wie ich ohne dich weiterleben sollte."
Sie hatten lange miteinander reden müssen, bis Thorstein einsah, dass auch sie ihn nicht in der Gefahr alleinelassen konnte. Was Rúna allerdings nicht wusste, war, dass auch Lathgertha sich Sorgen um Rúnas neu erwachten Kampfgeist machte und Thorstein deshalb versprach, diese nicht von ihrer Seite weichen zu lassen. Erst dann ließ der Steuermann schweren Herzens zu, dass seine geliebte Gefährtin sich der Gefahr stellte.
So harrten sie einen halben Mond lang in der immerwährenden Erwartung eines Angriffs aus. Der Gaukmánaðr(1) ging ins Land und schon brach Eggtið(2) an und die Ungeduld der Männer stieg ins Unermessliche. Hier und da hörte man Flüche auf den hinterhältigen Nachbarn, der ihnen diese fortwährende Unruhe aufzwang. Manch einer drohte, Arngrims Siedlung selber anzugreifen, wenn dessen Mannen nicht bald kämen. Zweifel wurden laut, ob man denn überhaupt mit einem Angriff rechnen müsse oder ob das alles nicht nur Lug und Trug gewesen sei. Rollo und Thorstein hatten ihre Mühe, die Nörgler und Zweifler wachsam und bei Laune zu halten. Manch einer mochte inzwischen sogar an der Rechtschaffenheit des Steuermannes oder dem Mut des Jarlsbruders zweifeln, obwohl beide gerade jene Eigenschaften besonders verkörperten. Das Leben in der Siedlung blieb angespannt, obwohl das Wetter ihnen hold war, die Saat kräftig austrieb und Schafe und Kühe viele Lämmer und Kälber führten.
Doch Arngrim meinte es ernst und die Entscheidung rückte mit einem Mal in greifbare Nähe.
Ein neuer Tag war gerade angebrochen, als schnelle Hufschläge die morgendliche, nebelverhangene Stille durchbrachen. Ein Warnruf weckte die Schläfer und der Bote sprang bereits von seinem Pferd, als dieses noch gar nicht richtig stand. Eilig rannte er die wenigen Stufen zur Schildhalle hinauf und wäre dort beinahe mit Rollo zusammengestoßen, der dort gewacht und dem Boten nun entgegengeeilt war.
„Sie sind aufgebrochen“, keuchte der atemlose Reiter. "Ein gutes Dutzend Männer von Arngrims Leuten zu Fuß, die drei Franken zu Pferde und noch einmal mindestens vier Fremdlinge aus deren Gefolge.“ Der Bote atmete tief durch und lehnte sich erschöpft an einen Stützpfeiler des Vordachs. „Ich bin geritten, als seien alle Jotunheimer hinter mir her. Gunnar weiß Bescheid und Aodh auf Thorsteins Hof auch. Sie sammeln ihre Leute wie geplant. Wir haben noch einen guten halben Tag Zeit …“
Rollo straffte sich. Endlich war es so weit! Die letzten Tage hatten ihm eine Menge Selbstbeherrschung abverlangt. Geduld war wirklich nicht seine Stärke. Er klopfte dem erschöpften Boten auf den Rücken. "Geh hinein und lass dir etwas zu essen geben", gestattete er höflich. "Sveinn(3), hierher!" rief er dann laut und kaum war der Befehl verklungen, kam ein junger Mann aus der benachbarten Scheune gesprungen und stellte sich erwartungsvoll vor Rollo.
"Sie kommen!", ließ dieser seinen Diener knapp wissen. "Bringt das Pferd hier in den Stall, sag Thorstein Bescheid und dann sattle unsere Tiere, auf das wir schnell aufbrechen können." Der Krieger räusperte sich. "Wir haben höchstens bis zum Mittag Zeit!"
Rollos Schildträger ergriff wortlos die Zügel des schwitzenden, erschöpften Tieres und zog das willenlose Pferd mit sich zum Stall. Rollo hingegen eilte ins Haus zurück. Wenig später hagelte es Befehle an alle Anwesenden. Zwei weitere Knechte eilten los, um die Männer im Dorf zusammenzurufen. Rollos Waffen wurden gebracht und ihm selbst wurde geholfen, als er sich schnell in sein Lederzeug kleidete, die Armstutzen anlegte und sich zum Schluß ein Kettenhemd überziehen ließ. Ein halblanger Mantel vervollständigte die Montur und verbarg - zumindest im ersten Augenblick - die kriegerischen Absichten seines Trägers.
Rollo gürtete sich mit seinem Schwert und noch während er die Schnalle des breiten Lederriemens schloss, wurde die Tür aufgestoßen und die ersten Männer - unter ihnen Thorstein - polterten herein.
"Haben sich diese Ratten nun endlich aus ihrem Loch herausgetraut?", fragte einer der Krieger angespannt. Rollo nickte. Männer, die wie Arngrims Leute ihren ahnungslosen Nachbarn angriffen, waren wirklich nicht mehr als Ratten. Nie und nimmer konnte solches Pack einen Platz in Walhalla erringen.
"So ist es", bestätigte er daher grimmig. "Und wir werden diesem Ungeziefer zeigen, was es heißt, sich Straumfjorður einverleiben zu wollen", prahlte er weiter, um seinen Mannen genügend Mut zu machen. "Sie werden sich an diesem Bissen ordentlich verschlucken und nach einem letzten Rülpser in Helheim aufwachen."
Die Krieger grölten wie erwartet und schlugen sich gegenseitig auf die Schultern.
"Alle, die dafür vorgesehen sind, reiten mit mir so schnell wie möglich. Jeder, der mit Thorstein die Siedlung schützt, muss sich ebenfalls rüsten. Lasst die Landwege nicht aus den Augen! Man weiß nie, zu welchen Falschheiten sich Arngrim entschlossen hat. Bisher sind nur knapp zwei Dutzend seiner Männer gesichtet worden. Odin allein weiß, ob das wirklich alle sind …"
Das Schwert Rollos wurde in seiner Scheide noch einmal gerichtet, dann trat der Jarlsbruder zu seinem Freund Thorstein. "Möge Freyr uns allen beistehen, auf dass wir uns nach diesem Tag so wiedershen, wie wir voneinander scheiden."
Thorstein schluckte trocken. Dass Rollo Freyr anrief, den Gott des Friedens, war für den Steuermann ein Zeichen, dass es dem Mann vollkommen ernst mit seinen Wünschen war. "Auch dir mögen die Götter beistehen", erwiderte er ein wenig steif. "Möge dein Auge wachsam und deine Schwerthand schnell sein." Thorstein räusperte sich und fuhr dann deutlich herzlicher fort. "Und möge dein Weg nach Walhalla noch lange auf dich warten."
Sie umarmten sich und schlugen einander auf die Schultern. Dann wandte sich Rollo entschlossen ab und verließ als erster sein Haus. Die Männer folgten ihm geschlossen. Ein Teil von ihnen tat es draußen Rollo gleich und schwang sich in den Sattel. Andere beobachteten den Aufbruch wachsam. Dann zog der Jarlsbruder sein Schwert und wieß damit ins Landesinnere. "Für Straumfjorður!", brüllte er aufforderned. Er trat seinem Hengst in die Flanken und Pferd und Reiter galoppierten davon, gefolgt von einem guten Drittel der in Straumfjorður verbliebenen Männer.
(1) Gaukmánaðr: Gauch- oder Kuckucksmonat, Saatzeit nach dem altisländischen Kalender, beginnt am Donnerstag zwischen dem 19. und 25. April und ist der erste Sommermonat
(2) Eggtið: Eierzeit, Zeit in der die Lämmer von den Mutterschafen getrennt werden, beginnt am Samstag zwischen dem 19. und 25. Mai und endet Mitte Juni
(3) sveinn, Altnordisch: Knabe, Junge, Bursche, Diener
Heute möchte ich euch noch einmal zu einer kleinen Playlist mit nordischer Musik einladen - meiner Inspiration beim Schreiben:https://www.youtube.com/playlist?list=PLs7zGesB41GUM-EmrMAAzA6mDOF8UYpPn
Außerdem wollte ich euch sagen: "Habt Mut!! Schickt mir Kommentare und Meinungen! Ich beiße nicht und haue auch nicht mit dem Methorn nach euch, wenn ihr Kritik anbringt."