Mein Radiowecker ist gerade auf 00:00 umgesprungen. Wenn er nicht vorgeht, dann müsste ich jetzt Geburtstag haben. Ich warte auf einen Augenblick der Freude, doch ich freue mich überhaupt nicht. Wenn es nach mir ginge hätte sich gar nichts verändern müssen. Vielleicht geht mein Wecker auch nur vor, vielleicht habe ich noch gar nicht Geburtstag. Ich fange an, an meinen letzten Geburtstag zu denken und das zweite an was ich denke, sind die 366 Tage, die zwischen den beiden Geburtstagen liegen. Diese Tage... sie sind so furchtbar schnell vergangen und irgendwie waren sie doch zäh. Wenn ich daran denke, wie langweilig manche meiner Vorlesungen waren, dann frage ich mich, wie man 19 Jahre am Stück leben kann. Es kommt mir so lang vor, wahnsinnig lang, aber wenn ich aus dem Fenster blicke und bei meinem Nachbar vis-à-vis sehe, wie da eingemeißelt die Gravur -Anno 1889- über dessen Tür steht, dann wird mir klar, wie verstört mein Zeitgefühl eigentlich ist.
Mein Radiowecker zeigt inzwischen 00:04 und ich werde mir bewusst, dass die Minuten nicht mehr aufzuhalten sind. Ich bin mir sicher, dass mein Geburtstag irgendwann in den letzten vier Minuten begonnen hat, mein Wecker geht sicher nicht vier Minuten vor! Wenn dem so sei, würde ich ja meinen Zug nie verpassen...
Die Zeit ist eben nicht aufzuhalten. Beschleunigen kann man sie aber auch nicht.
Sie ist eben konsequent. Sie ist stur. Es gibt nichts Verlässlicheres im Leben, als die Zeit. Sie hat vor uns schon immer geschlagen und wird nach uns noch immer schlagen. Sie lässt sich nicht beirren. Manchmal träume ich davon, die Zeiger selbst in die Hand zu nehmen und nach meinem Belieben umzustellen. Kurz später frage ich mich dann, ob ich mich selbst verarschen will.
In 24 Stunden wird mein Geburtstag auch schon wieder vorbei sein. Dann wird es 12 weitere Monate dauern, bis das nächste Jahr von meinem Konto abgebucht wird. Wie viel auf meinem Konto noch drauf ist? - ich weiß es nicht, keiner weiß es. ehrlich gesagt will ich es auch gar nicht wissen. Das einzige, was ich weiß, ist, dass schon neunzehn Jahre abgebucht wurden. Das erschreckt mich jedes Mal aufs Neue. Was hätte ich bloß mit diesen 19 Jahren angestellt, wenn sie ich sie wieder von vorne leben dürfte?
Es ist mittlerweile 00:07 und ich überlege, ob ich nicht einfach zum Kühlschrank gehen soll, um mir ein kaltes Bier zu holen. Ich meine, heute ist schließlich mein Geburtstag. Auf meinem Handy sind mittlerweile schon etliche Whatsapp-Mitteilungen aufgeleuchtet. Bevor ich aber tausend Mal mit "Danke" antworte, beschließe ich zum Kühlschrank zu gehen. Ich muss mich etwas bücken, um diesen scheiß kleinen Kühlschrank zu öffnen. In den drei Fächern ist alles mögliche, Paprika, Schinken, Gouda und unter anderem eine Dose Mais. Sie sieht ganz normale aus, wie eine Dose Mais eben. Ihr Ablaufdatum: 20.04.2017, der Tag an dem wahrscheinlich das zwanzigste Jahr von meinem Konto abgebucht wird. Ich blicke noch eine Weile auf das schwarz gedruckte Datum, dann krame ich weiter im Kühlschrank rum und suche weiter nach meinem Bier.
Ich habe wohl wieder vergessen, beim letzten Mal Bier aufzufüllen, es ist nämlich keine einzige Dose mehr da. Normalerweise habe ich immer Bier kalt stehen, kann ja sein, dass man mal wieder Lust darauf hat.
Ich mache die Kühlschranktür wieder zu und gehe in mein Zimmer zurück. der Radiowecker zeigt mittlerweile 00:13 und mir wird klar, dass ich umsonst am Kühlschrank war.
Ich bin schon seit heute morgen um sieben wach, denke ich und setze mich auf mein Bett. Neben mir liegt mein Handy. Ich nehme es in die Hand und fange an mich für die ganzen Glückwünsche zu bedanken. Man fühlt sich, als hätte man irgendetwas Außerordentliches getan, wenn einem so viele gratulieren, dabei ist man einfach nur alt geworden.
Wenn ich mich so systematisch für meine "Glückwünsche" bedanke, fühle ich mich wie eine gestresste Sekretärin. Die Fingerbewegung für das Wort "Danke" habe ich mittlerweile verinnerlicht und meine Antwort wird von Mal zu Mal schneller.
Genervt lege ich mein Handy wieder zur Seite und bemerke wie müde ich eigentlich bin. Mein Kopf wird immer schwerer und ich stehe noch einmal kurz auf, um das Licht auszuschalten.
Im Dunkeln gehe ich zu meinem Bett, es sind nur zwei große Schritte. Noch ein letztes Mal blicke ich auf den Radiowecker, 00:19.
Im Bett, wo alles still und dunkel ist, denke ich noch einmal an meine 19 Jahre. Eigentlich waren sie wunderschön. Aus lauter Vorfreude und Lebenslust male ich mir schon mein nächstes Jahr aus.
Was wird wohl alles passieren bis zum 20.04.2017? Ich weiß es nicht, ich weiß nur, dass am 20.04.17 der Mais abläuft.
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