Nürnberg, 10.4.1808
Faust ließ den Zettel fallen, drehte sich um und stürmte aus seiner Wohnung. Als er die Tür öffnete, schlug ihm ein Kältehauch ins Gesicht, ungewöhnlich für April. Er hielt einen Moment lang inne und schaute sich um. Alles wie gewohnt. Auch die Luft war sommerlich warm. Es gab nichts, was anders war als sonst.
„Einbildung?“, fragte er sich. Ein Schulterzucken, dann machte er sich wieder auf.
Die Nacht hing wie ein Schleier über Nürnberg. Die Straßen waren nur spärlich beleuchtet. Wenn Faust den Weg zur Universitätsbibliothek nicht auswendig kennen würde, hätte er sich wohl in den dunklen Gassen verirrt.
„Nostra... damus. Nostra...“, wiederholte er für sich, während er über den Marktplatz vorbei an der Kirche rannte. Die tagsüber so belebte Platz war absolut menschenleer. Der Strom von Menschen, der Nürnberg durchzog, verliert sich jede Nacht ins Nichts. Faust hielt inne. Er war nicht mehr sportlich genug, um solche Strecken zu sprinten. Ein Rascheln machte ihn aufmerksam. Er drehte sich um und erblickte den Kopf eines kleinen Tieres. Einer Katze, wenn er sich nicht täuschte. Sie war schwer zu erkennen, schwarz wie die Nacht, die sie umgab. Nur die schillernd grünen Augen leuchteten ihm entgegen.
„Wer bist du denn?“, Faust kniete sich hin und musterte das Tier. Als Antwort bekam er nur ein knurren, dann verschwand es hinter einer Hauswand.
„Seltsam“, sagte er sich, obwohl er eigentlich nicht abergläubisch war. Erst der sonderbare Mann bei ihm in der Wohnung, dann das Ambigramm, jetzt eine schwarze Katze kurz nach Mitternacht. Er machte sich weiter auf den Weg in die Bibliothek, aber er sprintete nicht mehr. Plötzlich kam ihm die ganze Situation recht sonderbar vor. Er hatte den Gedanken bisher nicht weiter aufgegriffen, aber er fragte sich nun ernsthaft, ob dieser Lucian ein Ambigramm zu Nostradamus geschrieben und vor seiner Tür hinterlegt hatte. Und warum sollte er das tun? Faust erreichte die Eingangspforte des großen Gebäudes. Als Professor besaß er einen Schlüssel für die Hallen, die bis unter die Decke mit Büchern gefüllt waren. Und um diesen war er in dem Moment ausgesprochen dankbar. Der Schlüssel drehte sich im Schloss, die schweren, hölzernen Türen schwangen unter lautem, knarzendem Lärm auf und Faust trat in die Eingangshalle. Er wurde von einem altbekannten Geruch begrüßt. Altes Papier, Pergament, Leder, Tinte. So sehr er den Geruch auch hasste, er vermisste ihn jedes Mal, wenn er diesen Hallen für längere Zeit wegblieb. Während er den Mittelgang entlang ging, dachte er daran, wie viele Wochen und Monate er hier wohl schon verbracht hatte. Am Ende des Ganges erwartete Faust eine kleinere Tür. Hinter ihr der Raum mit Texten, die für die Hände seiner Schüler nicht zugänglich waren. Sie ging mühelos auf und gab die Dunkelheit preis, die hinter ihr lag. Faust zündete eine Kerze an. Er musste vorsichtig sein, die Schriften in diesem Raum waren von unschätzbarem Wert. Er leuchtete die Regale entlang, gesäumt mit Büchern und Schriftrollen aus mehreren Jahrtausenden, Einzelstücke, Zeugnisse längst vergangener Zivilisationen. Zwischen zwei Rollen fand er, wonach er suchte.
„Les Propheties de M. Michel Nostradamus“, las er vom Buchrücken vor.
„Hier muss es sein!“
Er legte das Buch auf einen Tisch und fing an, es vorsichtig durchzublättern.
„Nein, nein, nein! Es muss hier sein!“, rief er, als er an der letzten Seite ankam.
„Es muss hier sein! Es kann sonst nirgendwo...“
Er stand auf und rannte zurück zum Bücherregal.
„Hier muss noch ein anderes Buch sein!“, sagte er sich, während er Rolle um Rolle, Buch um Buch beiseite räumte. Der Kerzenstummel brannte schon langsam herunter, und Faust durchsuchte weiter Regal um Regal.
„Es muss hier sein, es ist hier, es kann sich nur hier befinden... es...“, wiederholte er, während die Stunden verstrichen. Fausts Gesicht wurde von Minute zu Minute fahler.
Er wurde einen Moment still. Die Glocken der Kirche schlugen dreimal. Drei Uhr war es schon, als er zwischen zwei schweren Büchern ein einzelnes Blatt fand. Er zog es hervor, darauf zu lesen: Artium Obscurorum de Nostradamus.
Von einer Sekunde auf die Andere bekam er wieder Farbe im Gesicht, seine Stimmung erhellte merklich.
„Das ist es!“, brachte er freudig hervor und rannte zurück zum Tisch. Die Kerze war mittlerweile schon fast ausgebrannt, das Licht war spärlich. Er legte das Blatt flach auf den Tisch und folgte den darauf niedergeschriebenen Anweisungen. In dessen Mitte stellte er eine Kerze. Nun sollte er Erde auf den Rand streuen. Faust stand auf und begab sich zum Atrium der Bibliothek. Eine handvoll Erde sollte genügen.
Vorsichtig verteilte er sie auf dem abgegriffenen, teils schon eingerissenen Rand. Zuletzt benötigte er noch die heiligste aller Beigaben. Der Name des Beschwörers, geschrieben mit frischem Blut aus dessen Armen. Er zog ein Messer, legte es an seinen Unterarm an und zog einen langen, tiefen Schnitt, sofort schoss sein Lebenssaft aus der Wunde. Einen Tropfen entnahm er auf eine Feder.
„H.J. Faust“, las er die Unterschrift vor, die nun rot vor ihm lesbar war.
„Es ist soweit! Der Moment ist hier, da ich endlich bekomme, wonach ich verlange, was mir zusteht!“ Er trat einen Schritt zurück.
„Zeige dich, großer Erdgeist! Zeige dich mir!“ Die Kerze flackerte, dann erlosch sie.
„Zeige dich mir!“, verlangte er nun lauter.
„Ich bin´s, bin Faust, bin deinesgleichen!“ In der nahezu absoluten Dunkelheit des Raumes trat er wieder an den Tisch heran.
„Zeige dich. Zeige dich.“, flüsterte er auf das Papier starrend.
„Ze... zeige... So zeige dich!“ Er schlug die Kerze beiseite, zerriss das Blatt und rannte durch die düsteren Hallen der Bibliothek.
„Zeige dich mir!“, schrie er, als er durch den Eingang trat.
„Zeige dich, zeige dich, zeige dich!“ Faust wiederholte es, während er durch Nürnberg rannte, vorbei an der jaulenden Katze, vorbei an St. Lorenz, vorbei am Marktplatz, bis er die Tür in seinem Büro schloss. Er zog das Messer hervor, das er schon in der Bibliothek benutzte, und hielt es sich an den Hals.
„Dann zeige dich eben nicht!“