»Garrett, steh auf, verdammt!«
Das Schreien seiner Mutter ließ den Jungen murren. Er lag schon einige Zeit wach, sträubte sich aber, aufzustehen. Er wollte seiner Mutter nicht begegnen, er wollte nicht mit ihr reden, sich nicht wieder vorhalten lassen, wie schrecklich anders er war und wie sehr sie sich wünschte, einen normalen (und total bescheuerten) Sohn wie Kyle zu haben.
Sein Handywecker rumorte ein weiteres Mal und mit einem tiefen Seufzen erhob er sich und glättete sich das Haar.
Mit wenigen Handgriffen war er ausgehfein und verschwand im Badezimmer, um sich die Zähne zu putzen.
Seine Mutter verzog missbilligend den Mund, als Garrett wenige Minuten später mit Leichenbittermiene am Frühstückstisch saß. Er hatte sich selbst übertroffen mit seinem Outfit und, weil er wusste, dass es seine Mutter aufregte, zur Abwechslung sogar etwas Kajal aufgetragen.
So überraschte es ihn nicht, dass sie ihn mit einem Seufzen betrachtete. Er freute sich innerlich über den Ärger, den er ihr bereitete.
»Was habe ich mit dir nur falsch gemacht, dass du so geworden bist...?«, murmelte sie. Ein Satz, der Garrett traf, auch wenn er sich nichts anmerken ließ.
Er fragte sich, warum sie ihn eigentlich nach der Scheidung behalten wollte, wenn ihr so wenig an ihm lag oder sie sich seiner schämte. Sein Vater hätte ihn liebend gern mit nach London genommen.
»Gar nichts, Mum. Wäre es dir lieber, ich würde Drogen nehmend irgendwo in der Ecke rumliegen? Oder jedes Wochenende besoffen sein, rumvögeln und vielleicht mit irgend‘ner Seuche nach Hause kommen? Oder irgend’ner Tussi ein Kind machen? Ich versteh den Stress nicht, den du machst.«
»Nein, all das möchte ich nicht, aber... wenn du nur ein bisschen normaler wärst.«
Garrett verdrehte die Augen.
Immer die selbe Leier und am Ende war es immer das selbe Ergebnis. Sie warf ihm vor, unnormal zu sein, ein Freak, der sich nicht anpassen konnte. Und dann gab sie seinem Vater die Schuld. Sie verstand nicht, dass er sich so anzog und diese Hobbys hatte, weil ihm das gefiel.
Sie hielt ihn für einen verkappten Satanisten, der depressiv in der Ecke rumhockte und die toten Tiere, die er fotografierte, wahrscheinlich noch selber meuchelte. Er hielt sich für einen normalen Typen, der einfach nur gerne schwarz trug, laute Musik mochte und sich mit dem Tod auseinander setzte – ganz ohne depressiv zu sein.
»Lassen wir dieses Thema, Mum. Du willst es nicht verstehen und ich will nicht schon wieder streiten. Ich hab heut genug zu tun...«
Seine Mutter machte ein halb lachendes und halb schnaubendes Geräusch, erhob sich und nuschelte dabei etwas von »tote Tiere suchen gehen«.
Sie hatte sich extrem auf die Kadaver eingeschossen, seit sie durch Zufall mal eine Reihe gesehen hatte, die er angelegt hatte. Damals hatte er einen frischen Fuchskadaver im Wald gefunden und diesen in verschiedenen Stadien der Verwesung fotografiert. Auf seinem Fotoblog kam die Serie sehr gut an, doch seine Mutter verurteilte seitdem sein Hobby zutiefst. Dass er auch Blumen und lebende Tiere, sowie Wolken und ganz Alltägliches aufnahm, zählte plötzlich nicht mehr.
Garrett machte hinter ihrem Rücken eine abfällige Handbewegung und trank die Milch aus seiner Cornflakesschüssel aus.
»Ich bin dann weg. Es kann spät werden, ich wollte in der Bibliothek noch was für mein Essay recherchieren.«
Seine Mutter nickte nur.
.
»Findet euch bitte in Gruppen zusammen. Ich möchte die Aufgabe am Ende der Stunde bewerten. Keine Widerworte!«
Die Klasse murrte laut, als der Englischlehrer Mr. Warmer, von allen nur Habicht genannt, mit dem Lineal auf den Tisch schlug. Ein Gewusel begann und es schien dem Alten nicht zu gefallen, wie die Gruppen besetzt waren.
»Nein, Leute. So bekomme ich von euch nur den üblichen stumpfsinnigen Mist. Ich stelle die Gruppen zusammen.«
Garrett bekam einen Kloß im Hals. Da die Klasse eine ungerade Zahl hatte, blieb er fast immer als Letzter allein übrig. Das störte ihn wenig, doch Mr. Warmer schien heute entschlossen, alle eingebürgerten Regeln über den Haufen zu werfen.
»Gemma, du gehst zu Garrett. Vielleicht rettet das deine miserablen Zensuren. Und Kyle, du gehst zu Tracy.«
Das ging noch einige Minuten so weiter und am Ende war keiner so wirklich zufrieden mit seinem Partner.
Besonders Garrett nicht.
Gemma Knowles war das hübscheste Mädchen in seinem Jahrgang und jeder wusste, dass Kyle, der angeblich „coolste“ (und auch dümmste) Typ des Jahrganges auf sie stand, sie ihn aber zappeln ließ. Wenn er, Garrett, jetzt auch nur das geringste Lächeln oder dergleichen bei ihr verursachte, war er ein toter Mann, das wusste er.
»So Leute. Ich dachte mir, das wir heute ein bisschen Shakespeare lesen. Jeder bekommt ein Sonett von mir und ich möchte von allen Gruppen eine kleine Interpretation. Soviel ihr eben bis zum Ende der Stunde schafft. Darauf gibt es eine Note. Also hier...«
Der Habicht verteilte die Gedichte und alle murrten. Interpretieren war nicht das größte Hobby der Klasse.
Gemma nahm den Zettel entgegen, überflog das kleine Gedichtchen und verzog den feuchtglänzenden Lipglossmund.
»Also ich check’s nicht. Hier, mach du, Streber.« Garrett runzelte die Stirn und nahm das Blatt.
Er sollte jetzt für sie die Arbeit machen, sicher. Sie war zwar hübsch, aber leider auch genauso doof. Er blickte durch den Klassenraum und bedauerte, nicht Kyles Partnerin bekommen zu haben. Tracy war zwar keine Schönheitskönigin, aber sie war nett und sie war klug.
Mit einem Seufzen las er das Sonett mehrere Male, sprach es sogar einmal flüsternd, um die Worte zu hören. Irgendwann nickte er und begann zu schreiben, während Gemma ihm zusah und begann, einfach abzuschreiben.
»Vielleicht solltest du es nochmal lesen und auch überlegen. Interpretieren ist nicht schwer. Du schreibst einfach nur auf, was der Dichter deiner Meinung nach sagen will«, versuchte Garrett, Gemma zum Selberdenken zu animieren und tatsächlich nahm sie das Blatt und las. Irgendwann lächelte sie und nickte.
»Ja... irgendwie ist es hübsch, was er da sagt. Obwohl ich nicht drauf stehen würde, wenn ein Kerl so ankommt.«
Sie grinste ihn an und Garrett musste unwillkürlich lächeln.
Gemeinsam bekamen sie in 90 Minuten eine ansehnliche Interpretation zusammen, die der Habicht überflog.
»Das hört sich vielversprechend an, Pinkerton.«
»Ich hab’s nicht alleine gemacht, Mr. Warmer.«
Der Lehrer nickte.
»Das habe ich gesehen. Ich würde sagen, wenn der Rest so weitergeht, wird das mindestens eine solide Zwei für Sie beide.«
Gemma, deren Noten im besten Falle Dreien waren, juchzte auf und fiel dem völlig perplexen Garrett einen Moment um den Hals.
»Eine Zwei! Wow.« In ihrer Freude drückte sie ihm einen Kuss auf die Wange und Garrett spürte sofort den hasserfüllten Blick von Kyle auf sich.
Das würde ein wunderbarer Tag werden.
Garrett war erleichtert, dass die letzten Stunden des Tages, Mathe, ebenfalls in dem Raum waren und keine Pause dazwischen lag. Er konnte deutlich sehen, dass Kyle Gemma ausfragte, was das sollte mit dem Kuss. Sie winkte ab. Sicher tat sie das. Die Mädchen interessierten sich nicht für den langhaarigen Freak mit der Kamera.
Doch obwohl sie Kyle klarmachte, dass es nichts zählte, dass sie sich nur über eine Verbesserung ihrer eher schlechten Noten in Englisch gefreut hatte, schien er entschlossen zu sein, Garrett zu zeigen, dass er sich von Gemma fernhalten sollte.
Als hätte er auch nur den Hauch von Interesse an einem Mädchen wie ihr.
Nervös beobachtete er deswegen den Zeiger der Uhr, der immer näher an das Stundenende heran kroch.
Mit dem Klingeln packte er sein Zeug in den Rucksack. Kyle und seine Jungs waren verschwunden, aber er wusste, dass sie sich irgendwo versteckten. Wenn sein ehemals bester Freund auf Streit aus war, konnte man ihn nicht abbringen.
Erleichtert stellte er fest, dass am Fahrradstand zuviele Leute waren als das man ihn da hätte anmachen können. Er schloss das Rad los und machte sich aus dem Staub.
Seine Freude währte jedoch nicht lang, als er auf der Hauptstraße das vertraute Klingeln anderer Räder hörte.
Sie waren wirklich hinter ihm her. Gott, warum immer er?
Er trat in die Pedale, lenkte in eine Seitenstraße, die zum Wald führte und hoffte, sie abzuhängen, was allerdings nicht gelang.
Er wollte nicht, dass sie ihn kriegten. Er wollte unter keinen Umständen diesen Jungs ausgesetzt sein. Nicht noch ein Mal...
Sein Atem tat im Hals weh und seine Beine wurden taub, da es leicht bergauf ging und er die Meute immer noch hinter sich hörte.
»Warum haust du denn ab, Pinky?«
»Hast du Schiss?«
»Bleib stehen, Garrett. Ich hab da was mit dir zu klären!« Das kam von Kyle und Garrett dachte nur noch weniger daran, sich einfach geschlagen zu geben. Sie würden ihn zusammenschlagen, demütigen, ihn zum Gespött machen wie schon einmal und sie würden diesmal dafür sorgen, dass es jeder wusste!
Nein! Damals hatte er sich kampflos ergeben. Das würde er nicht noch einmal tun. Nie wieder!
Am Waldrand ließ er sein Fahrrad fallen, schulterte seinen Rucksack und rannte zu Fuß weiter. Dies war sein Wald, sein Territorium, dort kannte er sich aus und kam schneller voran als die anderen.
Hoffte er.
Seine Lungen brannten und seine Beine verloren allmählich das Gefühl. Sein Körper schmerzte und er ärgerte sich einmal mehr darüber, dass er so eine schlechte Kondition hatte.
Er schrak zusammen, als in einem Baum ein Vogel schrie, blieb mit dem Stiefel an einer Baumwurzel hängen und strauchelte, fing sich jedoch wieder und hetzte weiter. Sein Atem rasselte und ein erster Schweißtropfen rann seine Schläfe entlang.
Er hatte kaum Blick für seine Umgebung, stellte jedoch fest, dass er bereits ziemlich tief im Wald war. Es konnte gefährlich sein, wenn man sich nicht auskannte. Es gab Gräben und Täler, die mit Laub gefüllt waren und in denen man sich verletzen konnte. Es kam ihm vor, als würde er schon Stunden laufen, doch er konnte das Lachen der Jungs noch immer hören. Ebenso das Krachen der Äste, die sie zerbrachen.
Garrett blickte in den Himmel und konnte durch das Blätterdach erkennen, das sich der Himmel verdunkelte. Es zog sicher ein Unwetter herauf.
Fantastisch.
Gejagt von seinen Mitschülern, zerschunden von Ästen, dreckig, total erschöpft und dann noch Regen. Ein toller Tag. Er hätte im Bett bleiben sollen.
Er fluchte, als er an einem breiten Graben ankam, der Wasser führte und ziemlich morastig aussah. Ein wackeliger Baumstamm, den sicher einst ein Förster platziert hatte, führte hinüber.
Zitternd und schwer atmend kletterte er über den Graben und sah zurück. Zwischen dem Unterholz konnte er die leuchtend rote Jacke von Kyle noch immer ausmachen.
Seit wann hatten die so eine Ausdauer? War es vielleicht ein Fehler, in den Wald gerannt zu sein? Hier würde ihm keiner helfen, wenn sie ihn erreichten. Hier würde niemand mitbekommen, wenn sie ihre „Lektion“ an ihm beenden würden, bei der sie einst gestört worden.
Garrett schluckte schwer und Angst machte sich in seiner Brust breit.
Nein, nein, nein!! Er musste weg. Er musste sich verstecken. Weg. Einfach nur weg.
Er sprang weiter durch das Dickicht, achtete nicht darauf, das seine Jacke hier und da zerriss und Panik machte sich breit, als der Himmel sich noch weiter verdunkelte. Das machte das Gehen nur noch schwerer.
Hektisch sah er sich um und versuchte, ein Versteck auszumachen. Und tatsächlich stand er plötzlich vor einem gigantischen Baum. Er war nicht hoch, aber hatte einen Stamm, bestimmt 100 Mal so dick wie Garretts gesamter Körper. Die Wurzeln waren ausladend aus dem Boden hervorgetreten und einige davon bildeten eine Art Höhle oder Kuhle. Garrett war erschöpft, seine Knie taten weh und seine Lunge schien ihm aus dem Mund zu hängen.
Er war am Ende und schlüpfte mit seinem letzten bisschen Hoffnung in besagte Höhle. Es war bereits ziemlich dunkel und die ersten Regentropfen klatschten auf die Blätter der Baumkronen.
Vielleicht würden sie ihn nicht sehen, wenn er einfach hier blieb. Er war schwarz gekleidet. Ideal eigentlich.
Seine Abneigung gegen Krabbeltiere ausblendend, zog er die Beine an die Brust und zwang sich, ruhig zu atmen.
Bitte, lass sie einfach weitergehen. Er würde notfalls das Unwetter hier abwarten, solange er ihnen nur entkam.
»Mann, der ist vielleicht schnell, der kleine Feigling«, hörte er Kyle nach wenigen Augenblicken keuchen und seine Kumpels stimmten ihm zu. Sie schnauften wesentlich weniger als Garrett, waren einfach besser in Form. Sie stoppten eine Sekunde, um dennoch kurz durchzuatmen. Garrett begann zu zittern.
»Weiter? Oder warten wir bis morgen in der Schule?«
»Dieser kleine Arsch soll seine Pfoten von Gemma lassen. Was denkt der eigentlich? Ich dachte, der ist ‘ne Schwuchtel.«
Garrett schloss die Augen in seinem Versteck. Sein Kopf tat weh vor Erschöpfung und dem Blutmangel, weil durch das Rennen alles in die Beine geschossen war.
»Aber Gem hat doch gesagt, es war nur, weil er für sie ‘ne gute Note rausgeschlagen hat... ich glaub immer noch, der ist andersrum.«
Einen Moment wurden die Jungs ruhig und man hörte nur ihr lautes Atmen und das Rascheln der Blätter im anschwellenden Wind.
»Hey... hört ihr das?«, fragte Kyle.
»Was?«
»Es ist still... die ganze Zeit haben wir ihn vor uns gehört, aber jetzt... nichts. Nicht, dass der kleine Pisser sich irgendwo versteckt hat. HEY PINKY!«
Garretts Herz zog sich schmerzhaft zusammen. Sein Körper erbebte und seine Hände zitterten so stark, dass er es sehen konnte.
Die Jungen begannen zu suchen und Stephen, einer von Kyles Lakaien, fand ihn schließlich, lachte und rief die anderen.
»Na, wen haben wir denn da. Hallo Pinky.« Die Jungs zogen Garrett an den Beinen aus dem Versteck und bauten sich rund um ihn auf. Er hingegen blieb am Boden hocken. Sein Körper hatte einfach keine Kraft mehr.
»Du glaubst also, du kannst vor uns weglaufen, wenn wir noch eine Rechnung mit dir offen haben, ja?«, lachte Kyle und trat Garrett gegen die Beine.
»Was willst du eigentlich von mir?«, fragte er leise und wagte nicht, den Kopf zu heben, aus Angst, Kyle würde ihm die Nase brechen.
»Du hast meine Perle angeguckt. Bleib lieber bei deinen Pimmeln, Schwuchtel!«
Der nächste Tritt traf Garrett in die Nieren und er keuchte auf. Kraftlos fiel er zur Seite und wandte das Gesicht dem Waldboden zu. Schützend legte er seine Arme um seinen Kopf, als die Jungen begannen, auf ihn einzutreten.
Gott, konnte es nicht endlich aufhören? Er schmeckte Blut auf seiner Zunge. Schmerz fühlte er schon lange nicht mehr.
»Wann lernst du endlich, wo dein Platz ist, du Freak? Jemanden wie dich brauchen wir hier nicht. Aber du willst es einfach nicht kapieren, also musst du fühlen...«
Kyle holte aus, um wieder gegen Garretts Brustkorb zu treten, als ihn etwas Schweres im Gesicht traf.
»AU! Was zum...?«
Garrett wagte es, ein Auge aufzumachen und sah, dass die Jungs mit Steinen beworfen wurden. Großen Steinen, die sicher wehtaten. Sie brüllten und drehten sich in alle Richtungen, um zu sehen, wo die Geschosse herkamen. Doch sie schienen von überall und nirgends zu kommen.
Was ging hier vor sich?
Garrett merkte, dass diese Attacke offenbar dazu gedacht war, ihn zu schützen, denn er wurde nicht getroffen. Aber es trieb die Jungs in die Flucht.
»Wir sind nicht fertig mit dir, Pinky. Egal, wer dir hier geholfen hat, Schwanzlutscher. Du bekommst noch dein Fett weg!«, fauchte Kyle und wischte sich etwas Blut von der Wange, wo ein Stein ihn verletzt hatte.
Sie ließen ihn liegen und Garrett atmete tief durch. So tief, wie es sein schmerzender Brustkorb zuließ. Er nahm nur am Rande das sanfte Knistern wahr, welches vermutlich von Schritten verursacht wurde.
Ihm tat alles weh und das Blut rauschte in seinen Ohren. Er schrak zusammen, als sich eine Hand auf seine Schulter legte und wandte den Kopf zu seinem geheimnisvollen Retter.