Die eisige Nacht war einem kalten Tag gewichen. Der auflandige Wind trug den Geruch und die Feuchtigkeit des Meeres mit sich, während er den Rauch der Herdfeuer Straumfjorðurs über der Siedlung verteilte.
Jorunn hatte in der vergangenen Nacht schlecht geschlafen. Träume hatten sie heimgesucht, deren Inhalt ihr nur zum Teil verständlich war. Der Tod der kleinen Sædís hatte etwas in Gang gesetzt, das sie noch nicht vollkommen überblicken konnte. Ein ungeborenes Kind war gestorben und die Völva sah, dass dessen Tod auch seinen Vater weiter verändern würde. Weit entfernt hatte sich der Jarl von dem Krieger, der er gewesen war, als er vom König zum Anführer von Straumfjorðurs Männern berufen worden war. Die Härte seiner Aufgabe und Ragnars überragender Wunsch, seine Stellung auch über den Tod hinaus gesichert zu wissen, hatten seinen schon vorher starken Charakter weiter geprägt und geformt.
Heute nun würde er seine Macht vor den Augen der Siedlungsbewohner festigen. Doch würde es die Gewalt sein, die jene zum Gehorchen brachte und nicht die Gabe des Jarls, seine Leute maßvoll und gewissenhaft anzuführen?
Jorunn hatte gesehen, dass Ragnars Fähigkeiten im Kampf in der kommenden Zeit von grundlegender Bedeutung für den Fortbestand Straumfjorðurs sein würde. Aus diesem Grund hatte sie auch beschlossen, dem Jarl bei dem anstehenden Gericht freie Hand zu lassen. Wenn es ihm gelang, trotz der Schwere von Lævas Schuld Maß zu halten, würde er danach wesentlich gestärkt vor seinem Volk stehen. Und es war nicht an ihr, die Entscheidungen des Kriegers am heutigen Tag infrage zu stellen. Dessen Prüfung durch die Götter war noch nicht vorbei.
Der Jarl selber ließ sich bei seiner Entscheidung über Læva Zeit. Nach dem Morgenmahl ging er hinaus auf die Klippen und sah trotz der erbärmlichen Kälte lange Zeit aufs Meer hinaus. Die Geräusche der erwachenden Siedlung und das vertraute Schreien der Sturmmöwen beruhigten den aufgebrachten Mann. Noch einmal ließ er die Geschehnisse des vergangenen Jahres an sich vorbeiziehen. Vor ihrem letzten Raubzug hatte er mit Lathgertha zufrieden zusammengelebt. Ja, er hatte oftmals daran gedacht, dass es gut wäre, weitere Kinder neben Björn zu haben. Doch dabei hatte es ihm mehr am Herzen gelegen, dass sein Sohn nicht ohne Geschwister aufwuchs. Der Drang, sein Erreichtes zu sichern, war erst neu in ihm erwacht, als er am Hofe Horiks dessen Söhne gesehen hatte. Doch der Mann, dem er seither nachzueifern suchte, war ein König, er hingegen nur ein zu diesem Dienst berufener Jarl. Darin lag ein riesiger Unterschied! Thorstein hatte ihn einmal gefragt, ob er nicht auch den Wunsch verspüre, König zu sein. Und er hatte ihm geantwortet, dass ein Mann sich weit beugen müsse, um eine solche Macht zu erlangen. War er inzwischen nicht längst dabei, sich zu beugen?
Doch war es das, was er wollte, was er sich für seine Familie und Straumfjorður wünschte? Mehr Macht? Mehr Würde? Wollte er den Preis hierfür wirklich bezahlen? Hatte er nicht schon längst mehr zerstört als gewonnen? Seinen besten Freund hatte er hintergangen, als er in seiner Gier jene Frau besitzen musste, die dieser für sich erwählt hatte. Seine Gefährtin war vor ihm geflohen, nachdem sie seine Gewaltbereitschaft erkannt hatte. Fast hätte er auch seinen Sohn verloren.
Ragnar runzelte die Stirn. Das, was er in den letzten Monden getan hatte, war weit entfernt von dem Leben, dass er sich früher gewünscht hatte. Ihm war das rechte Maß verloren gegangen! Und seine Freunde hatten das viel früher erkannt als er. Er musste zu sich selbst zurückfinden, sonst würde er auch noch die letzten Menschen verlieren, die ihm lieb und teuer waren - Lathgertha und Björn. Doch auf seinem Weg der Gewalt würde er sie nicht halten können.
Ragnar sann lange über Vergangenes und Kommendes nach. Dann, als die Sonne schon im Zenit stand, fasste er einen Entschluss. Er würde ein paar Dinge in seinem Leben ändern müssen, wenn er weiterhin glücklich sein wollte. Treue zu seiner Gertha war eine der Pflichten, die er sich selber auferlegte. Und er würde maßvoll richten, auch über Læva.
Stiller und entschlossener als er gegangen war, kehrte Ragnar in die Siedlung zurück. Hier hatten seine Männer längst ihre Vorbereitungen für den kommenden Richtspruch getroffen. In der Mitte des Marktes waren die Stände der Händler beiseite gerückt worden und gaben nun den Blick auf den Richtpfahl frei, der dort vor langer Zeit in den Boden versenkt worden war. Trotz des Frostes und des Schneegriesels konnte man erkennen, dass der Sand rund um den rindenlosen Stamm etwas dunkler war als sein Umfeld. Oft schon war hier Blut vergossen worden. Doch wenn es nach Ragnar ging, würde dieses Opfer heute ausbleiben. Zehn Stockhiebe und ein Jahr Strafarbeit in der Gerberei mochten eine ausreichende Strafe für die widersetzliche Læva sein.
So trug er auch später seinen Richtspruch vor, als sich seine Leute um die am Richtpfahl angebundene Sklavin versammelt hatten. Eine Sklavin war tot und sein Kind auf dem Weg in die Anderwelt. Dies konnte nicht ungesühnt bleiben. "Doch es war nicht Lævas Vorsatz, der Sædís getötet hat", führte er vor der schweigenden Menge aus. "Sie hat den Stein nur ins Rollen gebracht, der den Lauf des Schicksals dann anstieß."
Zufrieden mit sich und seiner Milde trat Ragnar einen Schritt zurück und gab seinem Vorarbeiter einen Wink. Sture oblag es, sein Urteil zu vollstrecken. Und es war wirklich zurückhaltend ausgefallen, dachte der Jarl. Doch er hatte die Rechnung ohne Læva gemacht.
Anstatt froh über die milde Bestrafung zu sein, sah sich die Sklavin zu Unrecht verurteilt. Wer war sie denn, dass der Mann, dem sie sich so widerstandslos hingegeben hatte, ihr nun den Platz an seinem Feuer und in seinem Haus verwehrte? Wie kam er dazu, ihr zehn Stockhiebe aufzählen zu lassen? Immerhin hatte sie ihm Lust geschenkt und ihm in langen Stunden Vergnügen bereitet und ihn vor der Einsamkeit gerettet. Anerkennung hatte sie verdient, wo sie doch schon fast als seine Zweitfrau gelten konnte! Zurecht hatte sie der kleinen Sædís gezeigt, wer die Stärkere von ihnen beiden war. Dass die dumme Trine nun tot war - dafür konnte sie doch nun wirklich nichts! Und ein Jahr bei den Gerbern … Das konnte nicht Ragnars Ernst sein! Sie würde sich ihre Hände und ihre Haut vollkommen verderben. Ja, es mochte sein, dass all der Gestank und das widerliche Fett der verwesenden Häute niemals mehr von ihr abzuwaschen gingen. Unmöglich konnte sie eine solche Demütigung hinnehmen!
Lautstark protestierte die Sklavin daher gegen die ihr zugedachte Bestrafung! Ragnar musste doch ein Einsehen haben! Ohne nachzudenken, wies sie ihn auf die gemeinsamen Nächte hin und auf seinen Wunsch, ein Kind mit ihr zu zeugen. Was, wenn ihm dies schon gelungen war? Læva wusste, dass sie die Kräuter, die sie regelmäßig kaute, vor einem Balg in ihrem flachen Bauch schützten. Aber das musste der Jarl nicht hören. Und man konnte ihm ja die Erfüllung seines Wunsches erst einmal in Aussicht stellen. Wenn er sie wirklich von diesem unsäglichen Pfahl befreite, könnte sie ihm vielleicht doch noch zu einem Sohn verhelfen …
Das Volk von Straumfjorður jedoch, das bereits von Ragnars mildem Urteil erstaunt gewesen war, ließ nun ein deutliches Murren hören. Keiner noch so gutaussehenden Sklavin war eine solche Rede erlaubt! Viel zu viel nahm sich die Kleine ihrem Herren gegenüber heraus. Puh-Rufe wurden laut und um die Situation zu entschärfen und Læva zum Schweigen zu bringen, gab der Jarl Sture einen Wink.
Schwungvoll riss dieser nun das dünne Hemd vom Rücken der Verurteilten. Sich nicht um deren Geschrei und die ersten wüsten Verwünschungen kümmernd, ließ er seinen Weidenstab auf den makellosen Rücken peitschen. Der Schrei der so Geschundenen hallte über den Platz. Schnell ließ Sture den zweiten Schlag folgen. Je eher sie das hier beendeten, umso besser. Dass dieses Weib aber auch ihren Platz so gar nicht kannte! Was für ein Fehler, dass sein Herr gerade sie bestiegen hatte! Die Macht, die er der Kleinen damit über sich eingeräumt hatte, war dieser viel zu sehr zu Kopf gestiegen.
Doch auch Sture hätte sich nicht vorstellen können, wie sehr Lævas Hass auf Ragnar mit jedem Schlag wuchs. Hatte sie bei den ersten drei Schlägen noch geschrien, so ließ sie jedem weiteren Hieb bittere Verwünschungen folgen. Ihr Zorn stachelte nun auch den Vorarbeiter an und obwohl Ragnar ihn um Mäßigung gebeten hatte, floss bei den letzten beiden Hieben doch Blut.
Das rote Rinnsal auf dem Rücken der Sklavin ließ den Zorn der Zuschauer ein wenig abklingen. Nicht aber die Wut Lævas, die sich nach dem zehnten Schlag zu einer Kraft aufbaute, der auch die Sklavin, selbst wenn sie es gewollt hätte, nichts mehr entgegensetzen konnte. Die jahrelangen Demütigungen der Sklaverei und Ragnars Gericht, das ihr wie Verrat erschien, zwangen sie zu dem, was sie nun tat.
Als Sture sie von ihrem Pfahl löste und wegführen wollte, machte sich die junge Frau plötzlich von ihm los. Unwirsch fuhr sie mit der Hand über ihre blutigen Hüften. Mit zwei Schritten trat sie vor dem Jarl und spuckte dem überraschten Mann ins Gesicht.
Dann, da alle noch starr vor Schreck waren und sie nicht daran hinderten, richtete sie sich stolz vor Ragnar auf. Dabei wischte sie ihm mit den blutigen Fingern über das Gesicht und zeichnete den noch immer erstarrten Mann.
"Blut hast du genommen und Blut soll über dich kommen", verfluchte sie ihren Herrn. "Keines deiner Kinder soll dir auf deinem Weg folgen. Verdorren soll dein Geschlecht und deine Familie soll sich in alle Winde zerstreuen. Einsamkeit soll dich begleiten und dein Ende soll dunkel, kalt und weit entfernt von jedem ehrenhaften Schlachtfeld sein. Hel wird dich erwarten …"
Fluch über Fluch hagelte auf den vollkommen entsetzten Krieger herab. Sture war der Erste, der sich fing. "Schweig, du dummes Weib!", schrie er die inzwischen schreiende und tobende Sklavin an. "Du weißt doch gar nicht, was du da tust! Fordere Ragnar nicht heraus, dich zu töten!"
Dann, als die Frau weiterhin gegen seine feste Hand rebellierte, schlug er sie mit einem derben Fausthieb nieder. Es schien ihm die einzige Möglichkeit, das verrückte Weib zum Schweigen zu bringen.
Als Læva nun betäubt zu Boden sank, kam Leben in die gaffende Menge. Racherufe wurden laut. Man schrie nach Folter, Qual und Feuer. Doch Ragnar rührte sich nicht. Noch immer hallten Lævas Worte in seinem Kopf nach. Musste er deren Flüche ernst nehmen? War er wirklich so weit von seinem Weg abgekommen, dass die Götter ihn nun so schrecklich bestraften? Oder war dieses Weib einfach nur von Sinnen und wusste nicht, was sie tat? Doch es blieb ihm kaum Zeit zum Nachdenken. Sein Volk wollte eine Entscheidung.
Er konnte Læva nun nicht mehr gehen lassen. Ihr Tod war längst beschlossene Sache. Doch die Art, wie man sie in die Anderwelt schicken würde, lag allein bei ihm. Nachdenklich starrte er auf die bewusstlose Frau zu seinen Füßen. War sie es wirklich wert, dass er ihretwegen vor seinen Leuten als Versager dastand, wenn er sie schnell und schmerzlos umbringen ließ? Er wollte sie nicht foltern, nicht, wenn ihre Flüche ihn vielleicht doch treffen konnten. Aber gab es einen anderen Weg, wenn er nicht vor seinem Volk das Gesicht verlieren wollte?
Nachdenklich sah der Jarl auf und blickte in viele erwartungsvolle Gesichter. Sie versprachen sich nicht nur ein Urteil, nein, sie wollten auch ein blutiges Spektakel erleben.