So schnell, wie Veyeds verletztes Bein es zuließ, hetzten sie weiter, tiefer hinein in den Wald. Ausgerechnet in jenem, in welchem sich niemand freiwillig begeben würde, waren die Geschichten um sein wahres Sein viel zu unheimlich. Neuerlich versuchte Kayden einen Blick auf die Wunde seines Bruders zu erhaschen. Er vermochte sich nicht vorzustellen, wie man den vermeidlichen Schmerz aushalten könne. Die Verletzung sah entmutigend aus, vollkommen aufgeschürft und dick geschwollen. Schlimmer jedoch fand er die Art, wie er das Bein bei jedem Schritt nachzog und mit einem Schaudern belastete.
Dessen Fuß trat auf irgendeiner Weise ungewöhnlich auf. Es schien ihm, als wäre dieser ... verdreht?
Mit jedem hinter sich gelassenen Baum verhallten die Rufe ihrer Verfolger mehr und mehr. Wo sie zuvor Laut und drohend sie einzuholen wirkten, blieb nach einer gefühlten Ewigkeit und einer maßlosen Kraftanstrengung nur noch ein verhaltenes Fluchen. Wenn gleich es sich allenfalls um wenige Handvoll Schritte handelte. Veyed hing mit jedem Atemzug schwerer an seiner Schulter, bis er glaubte, seinen Bruder vollends tragen zu müssen.
Anhand der widerhallenden Verwünschungen ahnten sie bereits, dass nicht alle ihrer Häscher den heutigen Tag überlebt haben konnten, vermochten sich jedoch keinerlei Reim darauf machen, wer oder was ihnen unverhofft zur Hilfe geeilt kam.
Kaydens Beine drohten seine Last nicht länger tragen zu wollen und so blieb er unvermittelt stehen. Nur einen kurzen Moment Pause, mehr brauchte er nicht. Auf allen vieren ließ er sich neben einem Baum fallen und prustete lautstark.
Veyeds gepresster Atem beruhigte sich und dessen schmerzverzerrtes Gesicht begann sich allmählich zu entspannen, als sicher war, dass niemand folgte, geschweige denn folgen würde. Bis auf ihren vierbeinigen Begleiter schienen sie auf sich allein gestellt. Unsicher und beinahe ängstlich blickte er sich um. Sein Blick huschte suchend von links nach rechts. »Kay?«, hauchte er. Die Stimme klang bedrückt und verzerrt. Er musste sich dem Anschein nach sehr anstrengen, Worte über seine Lippen zu bringen. Nachdem er keine Antwort erhielt, sprach er ihn erneut an und hob vornübergebeugt den Kopf. Solange er das Bein nicht unbeabsichtigt belastete, wich der Schmerz einem unangenehmen Pochen, von der Sohle aufwärts.
Sobald er hingegen sein Gewicht unbewusst verlagerte, schoss ihm zerrender Pein bis hinauf in die Hüfte und ließ ihn seltsam würgen. Vorsichtig neigte er den Oberkörper und schaute sich um. Staunend vor Unglauben öffnete sich sein Mund.
»Geb mir nur einen Moment.«
Er schüttelte benommen den Kopf und hob die linke Hand Halt suchend an die Rinde des nächststehenden Baumes. »Kay, sieh.« Sein Blick heftete sich auf ein Gewächs, welches sich keinen Steinwurf vor ihnen in schwindelerregende Höhe erhob.
Wie geheißen stand Angesprochener auf. »Was mein...s...t«, es verschlug ihm die Sprache und er trat einen Schritt zurück. Als verfügte sie über ein eigenes Bewusstsein, suchte seine rechte Hand nach dem ebenso rechten Ohr seines neuen Freundes. Beinahe nervös knetete er dieses und der Hund genoss die Behandlung wohltuend. Er neigte seinen Kopf und schloss die Augen.
»Was ist das?«
»Ein Baum.«
Kayden wechselte den Blick und verzog die Brauen. »Ach.«
»Er ist ...«
»Riesig, nein gewaltig.«
Die Drei flohen vom Bach aus beinahe schnurstracks gerade aus in das Dickicht des Waldes hinein und bemerkten nicht im geringsten die sich veränderten Umstände. In Gedanken beschäftigten sie sich immerzu mit einer Frage ... Wie kommen wir wieder Heil aus diesem Forst heraus.
Dieser wurde nicht etwa dichter, dunkler oder gar forscher, nein er blieb stets der Gleiche. Es waren die Bäume, die sich, je tiefer sie in die Waldung eindrangen, änderten. Sie wuchsen nicht nur höher als alle ihnen Bekannte, ihre Stämme strebten unnatürlich breit. Breiter als ihr eigener Karren lang.
Kayden fasste sich und ging mutig auf den vor ihnen wuchtig scheinenden Baum zu. Seine Hand berührte dessen Rinde und neugierig spielten seine Finger mit derer Struktur. Langsam, schritt für Schritt, umrundete er mit ausgestrecktem Arm dieses stück Wunder der Natur. Er zählte vierzehn, und wenn er richtig schätzte, so musste er lediglich drei hinzurechnen, um der Schrittweite eines Erwachsenen gleichauf zu sein. Alric zum Dank wusste er, wie man mit einfachen Schritten Entfernungen von einem Ort zum nächsten einteilte. Ihr Onkel erklärte ihnen einmal, dass wenn man Wegstrecken kenne, so auch leicht abschätzen könne, wie viel Zeit man benötige, um sein Ziel zu erreichen. Bestenfalls noch vor einem anderen.
Ihr junger Vierbeiner schien den Baum ebenfalls bemerkenswert zu finden. Er eilte schnüffelnd umher und umrundete diesen wie Kayden zuvor auch. An einem Ort jedoch verharrte er auffallend lange. Seine empfindliche Nase schwebte kaum eine handbreit über den Boden und schnüffelte an einer für menschliche Sinne nicht gerade eindrucksvollen Stelle.
»Er wird doch wohl nicht?«
»Doch, das wird er.«
Veyed fuhr erschrocken zusammen und sprang unvorsichtig aus seiner für seine Verletzung erholsame Stellung. Er knickte ein und viel der Länge nach zu Boden. Mit Wehklagen und feucht schimmernden Augen umklammerte er sein verletztes Bein und wiegte sich von links nach rechts.
Der Hund ließ sich nicht stören und pullerte munter weiter, lediglich den Kopf geneigt schaute er hinüber zu dem vor Schmerz jammernden. Kayden ballte die Hände zu Fäusten und positionierte sich vor seinem Bruder.
Sie waren zu dritt und nährten sich parallel zu jenem Weg, den sie kürzlich nahmen. Sie gingen ohne Hast und trugen lässig Bogen über der Schulter. An ihren Hüftgürteln geschnallt steckte zu jeder Seite ein leicht gebogenes Schwert. Der Vordere der Drei hob beschwichtigend und im Zeichen des Friedens die Hände.
In seinem Gesicht konnte der jüngere der Brüder keinerlei Gefühlsregungen deuten, doch dessen Blick vermittelte Gelassenheit. Diese Männer waren sich ihrer Sache gewiss. »Habt keine Furcht. Der Wald gewährt euch seinen Schutz.«
»Wer seid ihr? Was wollt ihr? Geht weg«, drohte Kayden in einer Stimmlage, die selbst seinem Gegenüber kurz zu denken gab. Er blieb wahrhaftig stehen und musterte erst ihn, dann Veyed.
»Deines Vaters Gemüt spricht aus deinem Munde. Beruhig dich, wir sind nicht eure Feinde.« Um seiner Worte Nachdruck zu verleihen, schüttelte er dabei bedeutend den Kopf.
Kaydens Blick heftete sich auf den Sprecher, so als suche er in seinen Zügen nach Bekannten. Nach etwas, an was er sich erinnern konnte. Seine Augen verengten sich und seine Brauen vollzogen eine Welle des Misstrauens. »Ihr.« Er nickte und hob vorwurfsvoll den Zeigefinger. Sein neuer Freund gesellte sich instinktiv neben ihn und streckte mahnend den Kopf. Dessen Rute versteifte sich und ein Grollen entwich seinen bebenden Lefzen.
»Ich habe euch gesehen. Zuerst in der Burg und dann ... dann mit unserem Onkel.«
»Verdammt Junge, noch einmal. Wir sind nicht eure Feinde, sonst würden wir uns schwerlich hier ...«, er deutete mit ausladenden Händen wie Armen theatralisch auf ihr Umfeld. »... mit euch in ausgerechnet diesem Wald aufhalten.« Noch bevor der Junge erneut aufbahren konnte, fuhr der Fremde fort. »Ja, wir sind Alrics Begleiter. Dürfen wir uns jetzt bitte um deinen Bruder kümmern?«
Erst nach dieser, wenn auch kurzgehaltenen, Erklärung erinnerte er sich an den vor Schmerz wimmernden. Er entspannte sich, senkte die Arme und öffnete wiederstrebend die noch geschlossene Linke.
»Er wird doch wieder, oder?« Sein Blick glich wieder dem eines unschuldigen Kindes, welches er nun einmal war und seine Stimme brach. »Bitte, ihr müsst ihm helfen.«
»Er wird wieder, ganz bestimmt.«
Mit kundigen Handgriffen betastete ein weiterer das Bein des Verletzten und sprach beruhigend auf den Leidenden ein. »Das meiste sind nur Schürfungen, Veyed. Dein Fuß jedoch sitzt nicht da, wo er im Grunde hingehört. Ich muss ihn richten und schienen.« Er sah auf zu ihm. »Es wird wehtun. Meinst du, du schaffst es?«
Man konnte deutlich sehen, wie er schwer schluckte und sich ein fiebriger Glanz, über dessen Augen legte. Heiser gab er sein Einverständnis und nickte dabei. »Ich muss.«
Der Mann winkte seine zwei Begleiter herbei. Einer der beiden hielt dem Jungen ein mit Leder umwickeltes Holzstück zwischen die Zähne. »Beiß darauf, hörst du?«
Er hatte noch nicht vollends ausgesprochen, als es unheilvoll knirschte, ähnlich dem Knarzen einer rostigen Türangel. Ein unbeschreibarer Klagelaut durchbrach die Stille des Waldes und ihr Hund stimmte jaulend mit ein. Kayden glaubte hektisch schlagende Flügelschläge von auftobenden Vögeln hören zu können, sehen konnte er jedoch nicht einen.
Die Brust seines Bruders hob und senkte sich im Takt seines stockenden Atems. Sein Mund stand weit offen und das Stück Holz lag entzwei gebissen daneben. Die Augen hielt er geschlossen.
»Hab keine Furcht, es geht ihm den Umständen entsprechend gut. Wir schienen jetzt sein Bein und bringen euch hier weg.«
»Aber ... was ist mit ihm?« Er kniete sich neben seinen, wie erschlagen daliegenden, Bruder. »Veyed?«
»Er ist bewusstlos. Es ist besser, wenn wir ihn ruhen lassen.« An seine Begleiter gerichtet, erhob er die Stimme. »Holt die Pferde. Less, zu mir.«
Anstatt dem Geheiß folge zu leisten, setzte sich dieser neben Kayden und schob den Kopf unter dessen Hand.
»Du scheinst einen neuen Freund gefunden zu haben. Geb gut auf ihn acht.«
Kayden schluckte und legte nunmehr den seinen Kopf auf den seines Hundes.