"Na toll!", fluchte Julia genervt, sie war ganz ihrer Natur schon wieder viel zu spät dran und jetzt hatte ihr Rad auch noch einen Platten. "Mann ey, das kann doch nicht wahr sein!", fauchte sie. Eigentlich wollte sie schon vor zwanzig Minuten bei Elias sein, doch durch eine Diskussion mit ihrer Mutter wurde sie viel zu lange aufgehalten. Rasch griff sie die Luftpumpe aus ihrem Rucksack und pumpte so gut es ging ihren Reifen auf. Auch wenn sie sich oft eilen musste, weil sie die Zeit vergaß, hasste sie es zu spät zu kommen. Vor allem dann wenn sie einen Freund wie Elias treffen wollte. Es war kühler geworden, der Regen am Nachmittag hatte die Temperatur auf ein erträgliches Maß herabgesetzt. Der kühle Fahrtwind kribbelte auf ihrer samtigen Haut.
Als sie in der Louise-Otto-Straße ankam, stoppte sie an Hausnummer 15. Das schöne, zweistöckige Haus, sah nicht nur von außen recht groß aus. Der Garagenbau und der Garten um das Gebäude hatten für Julia früher den Begriff "Villa" geprägt. Als sie von ihrem Rad abstieg und fröstelnd die Strickjacke aus ihrem Rucksack fischte, erblickte sie den alten Süßkirschenbaum. Dessen Früchte noch nicht rot gefärbt waren. Doch bald würden sie luden zum pflücken und essen ein. Ganz gebannt von dem leicht rauschenden Baum, bemerkte Julia nicht wie Elias aus der Tür getreten kam. "Guten Abend Julia.", begrüßte Elias sie, "Du bist spät, wir haben auf dich gewartet."
"W..Wir?", stammelte Julia, "Redest du jetzt im Plural von dir oder werde ich Tante?"
Beide lachten als sie den Flur des Haus betraten. Elias flüsterte ihr ins Ohr: "Ich hoffe es ist in Ordnung das Swenja da ist." Für einen Moment wollte Julia umdrehen, das Haus verlassen und nie wieder zurück kommen." Im nächsten Moment hatte sie ihr Lächeln aufgesetzt, dass all ihre Gefühle zu verschleiern wusste. "Nein. Kein Problem ich will nur das du mir die Weimarer Republik erklärst. Wenn sie das nicht stört, bin ich zufrieden.", sie hoffte innständig, dass weder ihr zittern, noch ihr Missmut gegenüber Swenja zu Tage trat. Glücklicherweise bemerkte der sonst so aufmerksame Elias nichts. Sie gingen zu zweit auf die Terrasse wo Swenja sie schon freundlich begrüßte. Eigentlich hatte Julia nichts gegen Swenja, zumindest früher nichts. Denn seit Swenja mit Elias zusammen gekommen war, nagte ein kleiner Eifersuchtsgnom in Julias Herzen. Bis dahin waren die beiden seit der Mittelstufe die besten Freunde und Julia war immer seine Nummer eins. Seit sie sich nach Julias Umzug kennen gelernt hatten, waren die beiden unzertrennlich gewesen. Egal was, sie taten es gemeinsam. Beide verstanden sich auf Anhieb und Elias hatte meist ein besseres Gespür bei Julias Gefühlen, als ihre Freundinnen Jenny und Fabia. Elias war ein von Grund auf herzlicher und intelligenter Mensch, Julia gönnte ihm eine Beziehung von ganzem Herzen. Allerdings gönnte sie Swenja ihr nicht die Beziehung mit Elias.
Julia fühlte sich etwas fehl am Platz, als sie neben Elias saß, aber er sie nicht mehr als nötig beachtete. Natürlich erklärte er ihr genau und gewissenhaft die Weimarer Republik von ihren Anfängen nachdem ersten Weltkrieg bis zur Machtübernahme der Nationalsozialisten. Elias hielt wirklich jedes seiner Versprechen.
Nach gut einer Stunde in der Abendsonne sagte Julia: "Ich hole uns was zum Trinken, ok?"
Weniger weil sie durstig geworden war, sondern weil sie dem "immer-näher-Rücken" von Elias und Swenja nicht länger beiwohnen wollte. Die beiden Turteltauben gurten kurz was sie gerne mitgebracht hätten, ehe sie ihre Schwingen wieder gehend Wolke sieben ausrichteten.
Lautlos seufzend stand Julia auf und schlendert langsam in die Küche. Bloß nicht zu schnell! Zeit schinden war jetzt angesagt. Sie kannte dieses Haus sehr gut, kein Winkel war ihr unbekannt, so oft war sie schon hier gewesen. Als sie die Getränke beisammen hatte, überlegte sie was sie noch mitbringen könnte um mehr Zeit zu verbrauchen. Doch im Gegensatz zu ihrer Meinung war ihre längere Abwesenheit Elias entgangen und so riss der Junge seine beste Freundin aus den Gedanken.
"Julia? Was stehst du denn hier in der Küche herum?"
"Ich.", sagte sie gedehnt.
"Denkst du darüber nach, warum Christian mit dir gesprochen hat?"
Sie sah ihn entsetzt an: "Woher weißt du das?"
"Er hat mir gesagt, dass er dich wegen des Sommerfestes sprechen wollte.", Elias senkte Kopf und Stimme, "Er hat Interesse an dir."
"Du verarschst mich, oder?", giftete Julia mit funkelenden Augen. "Du weißt wie es mir letztes Jahr ging, er hat mir mein Herz gebrochen. Warum sollte er jetzt was von mir wollen?", fragte Julia sich auf einen Stuhl fallend lassen.
Elias seufzte und setzte sich zu Julia: "Vielleicht er gehört zu denen, die nicht sofort erkennen, dass der Mensch den sie lieben, vor ihnen steht."
Dabei war sein Gesicht ihr so nah und der Ernst so in Augen so erdrückend, dass sie unwillkürlich schlucken musste. Hoffentlich wurde sie nicht rot. Elias hatte recht, vollkommen recht.
"Wie Recht du doch hast.", flüsterte Julia ihm entgegen. "Ich war recht überrascht, als er sich zu mir setzte.", gab sie zu und konnte ihr einstudiertes Lächeln nicht über die Lippen bringen.
"Ich habe ehrlich gesagt noch eine kleine Überraschung für dich.", sprach Elias eröffnend, "Ich hoffe das war in deinem Sinne, ich habe ihm gesagt er soll heute mal vorbeischauen. In etwa zehn Minuten dürfte er da sein."
Entgeistert blickte sie Elias an. Sollte sie freuen? In ihrem Bauch bewegte sich etwas und Schmetterlinge waren das sicher nicht!
"Ich sehe doch total Scheiße aus: Eine alte Jeans und meine Schmundelstrickjagge.", schnell huschte sie ins Bad und kotrollierte bzw. kämmte ihre braunwelligen Haare.
"Du bist bezaubernd wie immer.", äußerte Elias die Getränke zur Terrasse bringend. "Du machst dir zu viele Sorgen."
Hatte Elias gerade wirklich "bezaubernd" gesagt? Bevor sie sich über diese unqualitative Aussage echofieren konnte, klingelte es an der Tür. Es war weder Zeit sich über seine Aussage aufzuregen noch zu freuen.