Vor dem Tor fanden wir Béilo auf dem Boden liegend und auf einer Distel kauend vor. Als er uns kommen sah, hüpfte er auf die Beine und sprang ohne ein Wort vor uns her. Unsere Pferde hatten Mühe mit ihm mitzuhalten und er hielt das Tempo durch bis wir alle, samt Reittiere zu erschöpft waren um weiter zu reisen. So ging das die nächsten zwei Tage: Frühstücken, Losreiten, bis zum Abend durchreiten, Abendessen, Schlafengehen und dann wieder von vorne...
Gut 55 Meilen südwestlich von Romino, als die Sonne zum dritten Mal nach unserer Abreise aus der Stadt den Horizont berührte, war uns aufgefallen, dass der Boden nicht mehr ganz so gut geteert war wie bisher. Bis vor kurzem waren die Pflanzen am Wegrand immer bizarrer und der Fluss, der nahe des Pfades floss, immer dreckiger geworden, aber die unnatürliche Verrottung nahm bald wieder ab, den wir reisten jetzt in süd-östlicher Richtung und somit für kurze Zeit auf beinahe der gleichen Zeitebene. Zumindest hatte Kevin uns das so erklärt. Immer öfter flogen weiße Vögel mit seltsamem Geschrei über uns hinweg, sie setzten sich auf Baumstämme, die im stetig breiter werdenden Fluss vorbeizogen.
Auf einer Wiese an der Straßenseite machten wir Rast, dort wollten wir die Nacht verbringen, die ebenso ereignislos bleiben sollte, wie die vorherigen. Selbst meine Alpträume waren seltener und schwächer geworden, vielleicht hatte ich mich auch einfach nur daran gewöhnt.
Keiner sagte ein Wort. Um uns herum war es still, kein Laut bis auf das Zirpen der Grillen. Nur ein einziger verlassener Baum stand nahe unseres Lagers. Das wunderschöne Farbenspiel des Himmels und der sinkenden Diana beruhigte die Seele. Dazu das sanfte Rauschen des Flusses und das Knistern des Feuers, das Chase entfacht hatte und an dem wir uns das Fleisch brieten, das wir auf dem Markt gekauft hatten. Béilo machte uns einen wunderbaren Kräutertee nach einem alten Sniftrezept, der entspannend wirken sollte.
Es schien wie der wahr gewordene Traum vom Paradies. Zu dessen endgültiger Erfüllung für mich fehlte allerdings nach wie vor die wichtigste Person. Wie immer, wenn ich nicht durch irgendetwas abgelenkt wurde, schweiften meine Gedanken ab.
"Komm, komm,... komm zu MIR!" Eine schwarze Hand griff nach meinem Hals und verpuffte zu Rauch, sobald sie ihn erreicht hatte. Zauberbanne umkreisten mich und am Boden zu meinen Füßen konnte ich einen Drudenfuß erkennen. Summender Sing-sang dröhnte, einem Donnergrollen gleich, in meinen Ohren. Grausam wütende Schreie hallten durch die Dunkelheit und fuhren mir in Mark und Bein. Dann war plötzlich alles vorbei.
Denn jemand weckte mich auf:
"Hey, hey! Aufwachen, deine Wachschicht fängt an", flüsterte Chase. Mich streckend setzte ich mich auf. Sanftes Schnaufen der Pferde wehte der Wind von dem Baum herüber, wo wir sie angebunden hatten.
"Ich hatte gerade wieder einen dieser Träume, Chase. Aber diesmal war es anders. Etwas hat mich beschützt, so dass das Böse mich nicht angreifen konnte!" schilderte ich mein Erlebnis.
"Ich wollte es dir eigentlich nicht sagen, aber Béilo hat in deinen Tee, nicht nur die üblichen Kräuter rein, sondern auch irgend so ein Pulver. Er meinte, es stärke die Abwehrkraft deiner Seele."
"Hat wohl funktioniert. Schlaf gut."
Chase legte sich zu Funny und schlief ein.
Von fern erklang der Ruf umherstreifender Wölfe und das Feuer knisterte vor sich hin. Das Rauschen des Wassers im ziehenden Strom und die Sterne, die am dunklen Himmelszelt glitzerten, all diese Schönheit, die ich nicht genießen konnte.
Der wohl tiefste Seufzer der Welt zerriss die vermeintliche Stille... Erschreckend war nur, dass er nicht von mir kam...
"Verliebt in eine Illusion", summte Béilos tiefe Stimme von der Tanne herüber, auf der er zu schlafen pflegte.
"Nicht nur du..." Der Snift hatte sich melancholisch angehört, also hakte ich nach.
"Meinst du Káilanba?"
"Ja."
"Warum dann Illusion, du weißt doch, dass sie existiert."
Er lachte und leichter Sarkasmus schwang darin mit. "Und wer garantiert mir ihr Überleben seit jenem Tag vor drei Jahren?"
"Ich weiß es nicht."
"Was willst du tun, wenn du die Fürstin befreit hast?"
"Ich weiß es nicht", sagte ich wieder nur. "Ich kann es nicht sagen."
Seltsam. Ich hatte noch nicht darüber nachgedacht. Vielleicht weil es ungewiss war, ob wir sie wirklich retten konnten. "Und du? Was machst du, wenn wir tatsächlich auf Káilanba treffen? Sie heiraten und zu Kevin ziehen?" Lange Zeit blieb es still, dann antwortete er endlich:
"So was in der Art, ja..." lachte er in sich hinein. "Sowas in der Art..."
"Eine Familie wäre schön," überlegte ich laut und spann den Gedanken weiter: "Mit Kindern und vielen Freunden und Bekannten. Ein großes Haus - am Bach errichtet – mit weiten Feldern und Hügeln, auf denen Schafe und Ziegen weiden, und..."
"*prust* Hahahahahhahahahha uhuhuhuhuhuhahahhaha... das klinkt wie aus einem hübschen Menschenmärchen: …und alle lebten glücklich und zufrieden bis an ihr Ende… ", platzte der Katzenmensch los. Minutenlang lachte er so gackernd vor sich hin, so dass es ein Wunder war, dass die anderen seelenruhig weiterschliefen, lediglich die Pferde schnaubten laut auf, bevor sie weiterschliefen.
"Ich find das nicht lustig, wenn ich dir schon meine Pläne erzähle und du dir die Schnauze fuselig lachst!" Beleidigt verschränkte ich die Arme.
"Ich habe auch Wünsche und Träume", gab er noch immer von gelegentlichen Glucksen geschüttelt zu. " Einst waren die Snift ein weit verbreiteter Volksstamm. Wir sprachen mit den wilden Tieren, mieden die Menschen und lebten friedlich – soweit die Naturgesetzte das erlauben – vor uns hin. Da wir um zu überleben allerdings andere Tiere jagen und fressen mussten, aber auch aufgrund unserer eigensinnigen Kultur, wurden wir von den wenigen Menschen, die uns kannten, verachtet, gehasst und gefürchtet... Eines Tages waren die Jagdgründe erschöpft, kein Wild ließ sich mehr finden. Uns blieb nur eine Möglichkeit – wir rissen das Vieh von den Menschen... Glaub mir, Flash, es wurden mehr Snift im Krieg absichtlich von Menschen getötet, als du glaubst ... Ich habe nur den einen Wunsch: Jemandem aus dem Volk der Katzenmenschen, meinem Volk, zu begegnen. Jemandem, der so aussieht und so denkt und lebt wie ich. Du kannst dir nicht vorstellen, wie einsam es sein kann auf dieser Welt, wenn man das Gefühl hat, der Einzige seiner Art zu sein. Wie es ist, von den Menschen respektiert werden zu wollen, selbst wenn das bedeutet, dass ich unsere kulturellen Rituale preisgeben, ja sogar rechtfertigen müsste. Aber vor allem: Keine Angst mehr..."
"Was für eine Angst sollte einen Snift wohl quälen?", fragte ich nachdenklich, ob der Dinge, die er mir so brockenhaft an den Kopf geworfen hatte und schürte das Feuer an, welches schon kurz vor dem Verlöschen war.
"Du würdest dich wundern, wie groß die Panik vor Gewehren, Pistolen, ja sogar vor einfachen Bogenschützen sein kann!"
Ich hielt inne. "Was für Pilzkohlen?"
"Pistolen, Gewehre, Granaten, Giftgasbomben, und so weiter! Alles Dinge mit denen die Dämonen auf Grumáron um sich schmissen. Waffen aus anderen Zeitebenen, einzig und allein zur Vernichtung von Leben erfunden! Sie krachen, stinken, splittern, zerreißen, töten..." Seine Stimme sank zu einem geflüsterten Geschnaube ab. "Nein, Flash, du täuschst dich, wenn du glaubst, dass Snift keine Angst kennen würden...Mit jedem Schritt durch diese Stadt war mir zu jeder Zeit bewusst, wie viele Möglichkeiten den dort Lebenden zur Verfügung standen, um sich unliebsamer Gäste zu entledigen."
Ich blieb stumm nach dieser Ansprache, solange stumm, bis die ersten Sonnenstrahlen meine Nackenhaare kitzelten.
Mit Höllenlärm, den ich durch das Schlagen meines Schwertes auf einen unserer neu erworbenen Töpfe erzeugte, gelang es mir endlich die anderen zu wecken.
"Meine Güte, Béilo, was hast du bloß in den Tee getan, die kriegt man ja gar nicht mehr wach! Los! Wir müssen aufbrechen!" Einmal wach und gut ausgeschlafen fiel es uns nicht schwer, das Lager abzubrechen und auch unsere Reittiere wirkten ungewohnt fit.
"Dieser Tag wird wunderbar!", streckte sich Funny. Wir gönnten uns ein gutes Frühstück mit Brot und Gurken. Béilo bevorzugte ein rohes Kleintier, welches es außer unserer Sichtweite verschlang.
Bald stiegen wir auf und ritten weiter. Gothank blieb bei uns, er hatte die Nacht auf dem Boden bei uns verbracht, weil er immer noch sauer auf seinen Freund war. Auch als wir losritten blieb er lieber auf Funnys Schulter sitzen.
Es war keine zwei Stunden her, dass wir aufgebrochen waren, als ein Stück vor uns gewaltiges Grollen die Luft zerschmetterte. Der Fluss, der mittlerweile schon zum reißenden Strom angeschwollen war, schien mitten in seinem Lauf einen Knick zu machen und steil nach unten abzufallen. Ebenso wie das Gewässer, fiel auch der Weg steil ab, so mussten wir unsere Pferde an den Zügeln nehmen und sie nach unten führen, von wo aus wir die beste Aussicht auf einen lang gezogenen Wasserfall hatten.
"Wundervoll!" Unten angekommen staunten wir nicht schlecht über den faszinierenden Anblick der sich uns bot: Vor unseren Füßen lag meilenbreit ein Sandstrand der am Meer entlang führte, in das der Wasserfall stürzte. Im grellen Sonnenlicht flogen kreischend weiße Vögel über die unendlich blaue See hinweg. Große Fische sprangen in einiger Entfernung aus dem Wasser um gleich darauf elegant wieder darin einzutauchen. Der blaue, wolkenlose Himmel spiegelte sich mit all seiner Schönheit auf der glitzernden Wasseroberfläche.
"Kommt, das Meer bewundern können wir, wenn wir unsere Aufgabe erfüllt haben." Der Katzenmensch gönnte keinem eine Pause, am wenigsten sich selbst und so zog die Truppe weiter, die ausgezogen war, um die Fürstin zu retten – aber wohin eigentlich?
"Äh, langsam, langsam, weiß einer wo wir jetzt lang müssen? Kevin hat doch kein großes Wasser erwähnt, oder?"
"Natürlich, dafür haben wir ja die Karte, Funny." Chase kramte ein wenig in Askrims Satteltaschen herum, bis er die Rolle fand, auf der sich die Karte befand. Lange betrachtete er die nun vor ihm liegende Karte von Furanta... Er drückte auf ihr herum, suchte, drehte und wendete sie in allen möglichen Winkeln und fluchte schließlich nur noch laut in der Gegend herum:
"Dieses Mistding nützt uns gar nichts! Wie soll man sich da denn bitte schön auskennen?"
"Gib mal her." Funny grabschte nach der Karte und Chase zog sie spielerisch weg. Jedes mal wenn sie glaubte sie könne die Karte greifen hielt Chase das Schriftstück noch ein Stück höher, so dass sich Funny hüpfend danach stecken musste. Beide lachten ausgelassen während sie dieses Spiel bis zum Äußersten trieben... Ein Schatten huschte jäh über ihnen hinweg. Im nächsten Augenblick stand Béilo neben den Beiden und drückte Funny die Karte in die Hand.
"Ihr solltet vorsichtiger sein bei dem was ihr tut. Und dabei geht es mir weniger um Flashs Gefühle, als viel mehr um unsere Sicherheit. Denn wo Licht ist, ist auch Schatten. Wo gelacht wird, braucht es nicht lange um zum Weinen gebracht zu werden. Dämonen können Gefühle riechen, das wusstet ihr doch! Oder etwa nicht?"
"Aber! Um uns herum ist nur Flachland, wie sollen sich hier Monster anschleichen?"
"Wirf einen Blick auf die Karte, Funny. Dann wirst du sehen, warum ich vorsichtig bin..." Nachdenklich faltete Funny die Karte auf und vergrub die Nase darin.
"Das gibt es doch nicht!", staunte sie. "Ein Wald, ein Dämonenwald direkt vor uns, keine zwölf Meilen entfernt! In der Karte steht: Hütet euch vor diesem Wald. Kuck mal Chase, sie haben sogar einen Infokasten dazu geschrieben." Chase beugte sich zu ihr und las.
"Ja. Ihr hattet nur Augen für das Meer, doch ich sah gen Osten, unseren Weg genauer an. Die Dämonen dort warten schon auf uns... warten in der tiefen Dunkelheit auf Beute..."
"So ein Mist! So kurz vor Olim." Chase, der das Prinzip der Karte langsam begriff, sah sich den Infokasten genau an, den Funny ihm deutete.
"Na und? So ein kleiner Wald ist doch nichts Schlimmes. Ich weiß ehrlich gesagt gar nicht, was ihr wollt...?", witzelte ich. Sie sahen mich an, als ob mich ein brennender Pfeil im Hintern getroffen und ich das nicht gemerkt hätte. "Was ist!?"
"Oger, Baumgeister, Gremlins, Bandwürmer von der Länge eines Schlosskorridors... um nur einige der Gefahren zu nennen, die uns dort erwarten könnten...", sprach Chase finster von dem Schriftstück aufblickend in die Runde.
"Ganz zu schweigen von den Greifen und Drachen, die gerade jetzt ihre Brut aufziehen und deshalb besonders aggressiv sind", ergänzte Béilo das Schauerkabinett.
"Nebenbei hatten wir bis jetzt noch Glück mit dem Wetter, sind Dämonen nicht in der Lage es zu verändern? Kann schließlich ebenso gut zu regnen anfangen, während wir im kalten Wald sind...",
bemerkte Funny.
"Ihr vermaledeiten Schwarzseher!" maulte ich. "Wenn ihr nicht mitwollt, dann sagt es gleich." Wütend packte ich Falum. "Von mir aus könnt ihr heimkehren... oder hier versauern! Es ist mir gleich! Ich werde jedenfalls nicht hier herum hocken und auf ein Wunder warten. Los Falum," ich stieg auf, die verstörten Blicke der Anderen ignorierend. "Ich habe keine Zeit mir um irgendetwas Sorgen zu machen, was passieren KÖNNTE! Leider ist mir das erst jetzt bewusst geworden. Zu lange schon trödle ich herum, irgendwo, bloß nicht da, wo ich sein sollte... Heeiiaaah!" Mir war endgültig der Kragen geplatzt. Andauernd warten, andauernd Umwege und immer wieder neue Hindernisse, als ob sich die ganze Welt gegen mich verschworen hätte!
Falum antreibend ritt ich allein in mein sicheres Verderben. Was tat ich nur, mir war alles zu langsam, zu zäh verlaufen. Ich wollte einfach nur weg.
Wenige Minuten später erreichte ich den Wald.
"Falum, mein Freund," redete ich sanft auf mein Pferd ein und stieg ab. "Wenn du lieber hier bleiben willst, kann ich das verstehen. Die anderen kommen sicher bald und werden dich mit nach Hause nehmen." Der Kornhoffner schnaubte ungehalten. "Versteh mich doch! Ich kann nicht mehr verantworten, dass einer meiner Freunde wegen mir in Gefahr gerät." Beleidigt stupste er mich in die Seite.
"Au, hey! Mein Bein ist zwar geheilt, aber einen Teilschmerz werde ich wohl für immer behalten..." Er wieherte. "Schon gut, schon gut. Ich nehm dich ja mit. Aber sag nicht ich hätte dich nicht gewarnt!" Viele Augenblicke lang standen wir so da. Dann wandte ich mich grimmig dem Gestrüpp vor mir zu. "Hm.“ Grummelnd lachte ich böse in mich hinein. „Eigentlich dumm, vor einem Wald Angst haben, sind doch nur BÄUME!" Ich schrie das letzte Wort heraus mit aller Kraft und all dem Schmerz, den die Erinnerung mit sich brachte - ein Schwarm Vögel stieg kreischend aus dem Blätterdach - ... und dann ging ich mit gezücktem Émalon hinein...