Erschrocken fuhr ich nach oben. Es wirkte alles so hell um mich herum, dass ich im ersten Moment gar nichts erkennen konnte. Gleichzeitig schien mein Gehirn zu explodieren und etliche Muskeln zu reißen. Bei einer Vision verkrampfte gewöhnlich mein ganzer Körper und da ich so lange keine mehr hatte, war mein Körper diese enorme physische und psychische Belastung gar nicht mehr gewöhnt. Neben meinem Bett standen Elli und Schneewittchen. Letztere schaute mich schuldbewusst an.
„Es tut mir so leid. Du kamst ins Rutschen und ich wollte dich auffangen. Ich habe nicht soweit gedacht.“
Ach ja. Wir waren spazieren. „Wie lange war ich weg?“ Es fiel mir schwer zu sprechen. Elli reichte mir eine geöffnete Flasche Wasser und beantwortete meine Frage. „Etwa zwei Stunden.“ Ich nahm ihr die Flasche ab und nahm einen großen Schluck. Zwei Stunden. Das war lange.
„War ich nur abwesend oder ohnmächtig?“ Ich schätzte ohnmächtig. Als ich noch regelmäßig Visionen hatte, war mein Körper darauf so trainiert, dass ich nur für ein bis zwei Minuten abwesend wirkte. Doch die letzte Vision war Wochen her, weshalb mein Körper wohl mit voller Wucht reagiert hatte.
„Ohnmächtig. Jedenfalls zum Schluss.“ Die Stimme von Jessica klang zittrig. Ich ignorierte es.
„Wieso zum Schluss?“
Sie trat nervös von einen Fuß auf den anderen. „Zuerst hast du dich nur verkrampft. Deine Augen waren geschlossen und deine Atmung flach. Doch dann hast du dich plötzlich aufgebäumt. Dein Kopf viel nach hinten, als ob jemand daran gezogen hat. Und deine Augen waren in Panik aufgerissen, dein Mund wie im Schrei geöffnet – aber es kam kein Laut. Dann bist du zusammengesunken.“ Als sie tot war. Ich nickte. Langsam versuchte ich meine Gliedmaßen zu strecken. Mein ganzer Körper knackte.
„Ich muss was essen. Sonst kippe ich noch mal um. Was mit viel Zucker.“ Ich sagte es eher zu mir als zu den anderen. Sie reagierten jedoch sofort und sahen sich nach etwas essbaren um. Derweil war ich erstaunt, dass ich so ruhig war. Normalerweise brachte mich eine Vision für Stunden aus der Fassung, aber diesmal nicht. Wahrscheinlich, weil es diesmal um mich ging, obwohl mich das eigentlich noch verwirrter hätten machen müssen. Ich schätzte jedenfalls, dass ich die Amalia aus der Vision war. Und Jessica starb, weil sie mich und ein paar Andere retten wollte. Nach dieser Erkenntnis hatte ich sofort ein schlechtes Gewissen und die Gewissheit, dass ich ihr vertrauen konnte. Schon reichte mir Elli eine große Portion Karamelleis. Woher sie das gezaubert hatte wusste ich nicht, doch es war mir auch egal. Mit einem riesigen Appetit schaufelte ich einen Löffel nach dem anderen in meinen Mund. Jessica und Elli setzten sich gegenüber von meinem Bett und beobachteten mich. Ich seufzte, legte mein Eis beiseite und sah sie an.
„Ich weiß, dass es euch brennend interessiert, was ich gesehen habe. Doch glaubt mir. Ihr solltet es nicht wissen. Besonders du nicht.“ Ich sah Jessica an. „Ich vertraue dir jetzt. In meiner Vision waren wir Freunde, daher brauche ich dir wohl meine „Gabe“, wie es Elli nennen würde, nicht zu verheimlichen. Ich sage das so sicher, weil meine Visionen immer eintreten. Egal ob ich es zu ändern versuche oder nicht. Egal wie schlimm sie auch sein mögen. Egal ob der, um den es in meiner Vision geht, davon weiß oder nicht.“ Ich musste an meine Mom denken, die es schon mehrere Jahre gewusst hatte. „Sie treten ein. Ich kann dir kein Datum sagen. Und ich würde es auch nicht tun. Niemand sollte wissen wann und wie er stirbt.“ Meine Worte schienen drohend im Raum zu schweben. Mein Magen knurrte, weshalb ich mich wieder meinem Eis zuwendete. Doch so richtig schmeckte es nicht mehr.
„Also ist es wirklich wahr. Du siehst die Zukunft.“ Es erstaunte mich, dass Jessica mich nicht weiter über die Vision ausfragte. Wahrscheinlich war sie sogar meiner Meinung.
„Ich sehe nur wie jemand stirbt und nicht die Lottozahlen vom nächsten Sonntag.“ Obwohl mir das lieber gewesen wäre.
„Das ist egal. Selbst wenn du nur das Wetter vorhersehen würdest – du siehst die Zukunft. Verdammt.“
„Und sie spürt ihn auch.“, ergänzte Elli freundlicherweise. Schneewittchen (Ja, ich nannte sie in Gedanken immer noch, obwohl wir nun Freunde waren) sah mich schockiert an. Ihr Gesicht entfärbte sich.
„Wie erlebst du ihn? Also den Tod. Bist du Beobachter oder selbst die Person?“
Meine Antwort kam sofort. „Ich bin die Person. Besser gesagt denke und fühle ich, als ob ich die Person bin. Wenn der Mensch stirbt, sterbe ich auch. Jedenfalls fühlt es sich so an.“
Jessica sah michbekümmert an. „Und kannst du die Vision stoppen?“ Ich schüttelte den Kopf. „Seit wann hast du die Visionen?“ Für einen Moment musste ich überlegen. Meine erste Vision hatte ich von dem Tod meiner Oma. Kurz danach die von meiner Mom. Wie alt war ich da?
„Ich dürfte zehn Jahre alt gewesen sein.“ Es tat unglaublich gut dies alles jemanden zu erzählen, der mir auch glaubte. Nun stellte mir Elli weitere Fragen.
„Und waren deine Visionen immer gleich? Ich meine, hast du sie immer als gleich empfunden? Ich zum Beispiel kann Emotionen viel besser lesen, wenn ich im emotionalen Stress bin. Die Pubertät war demzufolge die Hölle.“ Sie lächelte gequält, während ich versuchte mich an meine ersten Visionen zu erinnern.
„Na ja … am Anfang war es noch nicht ganz so schlimm. Ich weiß nicht so recht wie ich es beschreiben soll.“ Ich sah auf das schon längst geschmolzene Eis in meiner Schüssel. „Ich hörte von Anfang an die Gedanken der Person und spürte, was er spürte. Hatte er Durst, dann hatte ich auch Durst. Seine Angst war auch meine Angst. Und als dann der Tod kam, spürte ich ihn genauso wie jetzt. Der einzige Unterschied zu heute ist, dass ich damals noch Fremdbeobachter war. Ich sah die Person von außen. Heute ist es, als ob ich sie selbst bin.“ Ich erinnerte mich an meine erste Vision. „Ihr könnt euch das vielleicht nicht vorstellen, aber die früheren Visionen waren leichter für mich. Zwar fühlte ich die Schmerzen beim Sterben, aber ich konnte sie von mir trennen. Die Visionen waren wie Träume, bei denen ich zu mitfühlend war. Zudem waren sie noch selten und nur bei Personen, die mir nahe standen.“ Sie nickten, obwohl ich mir nicht vorstellen konnte, dass sie es wirklich verstanden hatten. Es war aber auch unglaublich schwer zu beschreiben. „Mit der Pubertät änderten sich meine Visionen. Sie wurden intensiver und immer häufiger.“ Ich musste an meine „Grenzvision“ denken. Die Vision, seit der ich in der Person gefangen war, die starb. Elisabeth schlug die Hände vor ihren Mund. „
Woran hat du gerade gedacht? Du müsstest deine Aura sehen. Es muss was sehr schlimmes gewesen sein.“
Ich schluckte. „Ich … ich habe an die Vision gedacht, wo ich zum ersten Mal die Person selbst war und nicht nur der Beobachter.“ Jessica sah mich mitfühlend an. So wie sie aussah hätte sie mich am liebsten in den Arm genommen. Doch das hätte alles nur schlimmer gemacht. „Ich war vierzehn. Und wir saßen im Ethikunterricht. Unsere Klasse hatte einen neuen Lehrer bekommen. Frisch aus dem Studium, hoch motiviert. Lena, meine damals beste Freundin, fand ihn von Anfang an unglaublich süß. Jedes Mal, wenn wir Ethik hatten, zog sie sich an diesen Tag ein hautenges, weit ausgeschnittenes Oberteil an. Sie sagte immer, dass sie nur das betont, was eh schon da ist. Kein Grund etwas zu verstecken.“ Ich seufzte. „Naja… eines Tages hatten wir wieder Ethik. Sie schaukelte provokant mit ihren Stuhl, da sie wusste, dass unser Lehrer sie dann ansieht. Plötzlich rutschte der Stuhl weg und sie fiel nach hinten. Ich wollte ihr helfen und berührte sie.“
Ich stockte. Elli verzog das Gesicht. Meine Aura sprach Bände. „Ich berührte sie und zum ersten Mal hatte ich eine Vision, in der ich in dem Körper der Totgeweihten war. Seit dem habe ich in Visionen keine eigene Identität mehr. Es war einer meiner Schlimmsten Visionen.“ Elli reichte mir eine Packung Taschentücher, die ich sicherheitshalber annahm. „Meine Vision begann in einem Wald. Ich rannte und hatte panische Angst. Ich wollte schreien, doch meine Stimme war wie zugeschnürt. Und dann wurde ich geschnappt. Ich wurde auf den Boden gerissen und meine Arme fixiert. Er zwang mich ihn anzusehen. Nannte mich Schlampe und Hure. >Das wolltest du doch
Wir schwiegen ein paar Minuten, bis ich die Kraft hatte weiter zu reden. „Ich bin aus meiner Trance erwacht und hatte einen völligen Nervenzusammenbruch. Ich habe die ganze Klasse zusammengeschrien. Zu Lena habe ich immer wieder gesagt, dass unser Lehrer sie vergewaltigen würde. Doch sie hörte gar nicht auf mich. Lena war über mein Verhalten viel zu sehr geschockt.“ Ich erinnerte mich daran, wie keiner sich traute in meine Nähe zu kommen. Ich schrie Lena immer und immer wieder an, bis sie weinend den Klassenraum verlies. „Und die Krönung war, dass ausgerechnet mein Lehrer mir helfen wollte. Gerade hatte er meinen Arm berührt um mir hoch zu helfen, als ich eine Vision seines Todes hatte.“ Ich atmete tief durch. „Er war betrunken. Schluckte alle möglichen Tabletten. Selbstmord. Und seine letzten Gedanken galten Lena, als er sie vergewaltigt hatte. Ich spürte bis zum Schluss kein Bedauern.“ Unbeschreibliche Wut kochte in mir hoch. „Seit diesem Tag kam ich von einer psychologischen Behandlung in die Nächste. Ich musste die Schule wechseln. Niemand wollte etwas mit mir zu tun haben. Von Lena hörte ich erst wieder etwas, als ihr Tod letztes Jahr in den Nachrichten ausgestrahlt wurde. Zwischenzeitlich hatte die Polizei sogar mich im Visier, weil ich damals alles so genau beschrieben hatte. Aber da ich zum Todeszeitpunkt mit meiner Mom gerade zur Kur war, verwarfen sie das schnell wieder. Sie suchten aber dennoch den Ethiklehrer auf und fanden ihn tot, mit einem Abschiedsbrief in der Hand. In dem Brief hatte er alles gestanden.“ Ich nahm mir ein Taschentuch und zupfte daran herum. „Eine Therapeutin sagte mal zu mir, dass ich meinen Lehrer erst auf die Idee gebracht habe, sie zu vergewaltigen. Ich hoffe bis heute, dass das nicht stimmt. Naja … jedenfalls kann ich seit diesem Tag niemanden mehr berühren, ohne seinen Tod zu sehen. Und ich sehe ihn immer und immer wieder- auch wenn mich die Person mehrmals berührt. Für meine Mom war diese Tatsache besonders schlimm, weil ich immer in Tränen ausbrach, wenn sie mich umarmt hatte.“ So erzählte ich noch weitere Visionen und wie sie dann wirklich eingetreten waren, bis es schließlich dunkel wurde und wir vor Müdigkeit kaum die Augen aufhalten konnten.