Thorstein schluckte schwer und wich ein wenig zurück, um Rúna mehr Freiraum zu geben. Sie hatte nur wenige Worte gebraucht, um ihm klarzumachen, wo sein Platz war und wo sie sich ab jetzt sah. Nie waren sie weiter entfernt gewesen von ihrem 'Ich will alles, was du mit mir tun möchtest.' oder auch nur dem leisen 'Hilf mir, Thorstein!'. Spätestens durch das Brandeisen auf ihrem Rücken hatte er alles verschenkt, was er mit Rúna vielleicht hätte haben können. Bitterkeit stieg in ihm auf, als er gezwungenermaßen unter ihrem drängenden Blick nickte. "Bleib noch ein wenig liegen und ruh dich aus", versuchte er hinauszuzögern, dass sie sein Lager ein für allemal verließ. "Ich werde Teitr holen, damit er dir hilft."
Entschlossen, den Alten zu bitten, noch einmal an Rúnas Vernunft zu appellieren und sie zum Bleiben zu bewegen, verließ Thorstein sein Lager und ging aus dem Haus. Als die Tür hinter ihm zuklappte, raufte er sich Bart und Haar. Wie nur, bei Thors Hammer, sollte er mit dieser Situation zurechtkommen, die sich störrisch wie ein festgefahrener Karren immer wieder gegen ihn stemmte?
Halblaut fluchte der Steuermann vor sich hin, hilflos nach einer Lösung suchend, als ihm das leise Klappern noch entfernter Hufe ans Ohr drang. Eine feine Staubfahne lag über dem Weg nach Straumfjorður und mit einem Aufatmen dachte sich Thorstein, dass die Völva tatsächlich gekommen war. Nun würde Rúna bleiben müssen, wo sie war. Dafür würde die resolute Heilerin schon sorgen. Doch nicht nur Jorunn hatte sich auf den Weg zum Moorseehof gemacht.
Ein Bote war mit Nachrichten und Bitten in Ragnars Siedlung gekommen. Ein Abgesandter Horiks hatte den Jarl aufgesucht und ihm in einem langen Gespräch unter vier Augen die Pläne des Königs und dessen Befehle unterbreitet. Bis weit in den neuen Tag hinein hatten sie gesessen und sich beraten. Danach war der Jarl hinauf in die küstennahen Felsen gestiegen und hatte lange auf das Treiben in seinem Dorf hinabgestarrt. Erst am späten Abend war der Anführer still auf sein Lager und zu seiner Gefährtin zurückgekehrt und hatte sie in seine Arme gezogen.
"Im kommenden Jahr wird alles anders sein, meine Geliebte", hatte er ihr zugeflüstert und die Schildmaid musste spüren, wie sich der Krieger in ihren Armen anspannte.
"Es wird zum Krieg kommen, Lathgertha", erklärte er leise. "Und ich kann noch nicht sagen, was ich davon halten soll. Horik wird gegen Harald ins Feld ziehen und gegen Haithabu(1) … Es wird sich vieles verändern und ich weiß nicht, was Harald tun wird, sollten wir nicht siegen." Danach hatte das Paar lange wach gelegen und Ragnar hatte mit seiner Gefährtin alles Wissen geteilt, dass der Bote ihm vermittelt hatte. Sie hatten lange sinniert, was Harald Klak damals auf die widersinnige Idee gebracht haben könnte, sich überhaupt gegen Horik zu stellen.
Es war gerade einmal drei Jahre her, dass sich der König und seine Brüder mit dem machthungrigen Sohn Hemmings eine erbitterte Schlacht geliefert hatten. Dieser hatte sich als Lehnsmann Kaiser Ludwigs verdingt und mit dessen Hilfe den Süden Jütlands und Haithabu für sich erobern können. Dort war er geblieben und Horik hatte Dänemark und Schonen für sich beansprucht. Nur langsam waren der Frieden und ein vorsichtiger Handel zwischen der Stadt und Horiks Vasallen wieder zustande gekommen. Nun aber wollte der König Vergeltung. Und obwohl der Anspruch auf den dänischen Thron durchaus Horik gebührte, würde der Erbe aus der jüngeren Linie Göttriks gewiss nicht kampflos von dannen ziehen.
Lange flüsterten Ragnar und Lathgertha in jener Nacht noch miteinander. Sie beschlossen, zunächst nur ihre engsten Getreuen in die Pläne Horiks einzuweihen. Und als am Mittag des folgenden Tages Thorsteins Knecht erschien, um die Völva auf den Moorseehof zu rufen, beschlossen beide, Jorunn auf ihrem Ritt dorthin zu begleiten - Ragnar, um mit Thorstein über die drohenden Kämpfe zu sprechen und Lathgertha, um zu sehen, ob Rúna, die ihr gefallen hatte, wirklich so schwer erkrankt war, dass der Hofherr die Völva rufen ließ. Es mochte gut sein, so dachte die Gefährtin des Jarl lächelnd, dass der Freund ihres Mannes nach dem Tod seiner Gefährtin nun übermäßig vorsichtig wurde, wenn es um die Gesundheit einer neuen Geliebten ging.
Sie nutzte die Gelegenheit, noch ein paar warme Kleider und auch Schuhe für Rúna einzupacken. Wer wusste schon, wann wieder einer von ihnen zu dem abgelegenen Gehöft reiten würde. Und es erschien ihr richtig, die junge Frau ein wenig zu fördern und zu unterstützen. Gewiss wäre es auch Thorstein recht, wenn sie der neuen Gefährtin an seiner Seite einen besseren Platz einräumte. Denn dass der Steuermann die Heilerin auf den Hof rief, obwohl er in Rúna nur eine Sklavin sah, glaubte die Kriegerin keine Augenzwinkern lang.
So waren sie am Morgen losgezogen und als sie sich nun mit den langen Schatten des späten Nachmittags dem Hof näherten, sahen sie schon von weitem, dass Thorstein an dem großen Hoftor der Umfriedung stand und ihnen entgegensah. Mühelos trieben sie ihre Pferde zu einem letzten schnellen Trab. Dann klapperten die Hufe der Tiere über den festen Lehm zwischen den Gebäuden. Die beiden verbliebenen Knechte eilten herbei, um Jorunn und Lathgertha beim Absitzen behilflich zu sein und nahmen dann auch gleich die Pferde der drei in Empfang.
Ein wenig humpelnd kam auch der alte Teitr heran und nach einer freundschaftlichen Begrüßung ließen sich Thorstein und Ragnar für ein Horn Met und ein paar erste Worte auf der breiten Bank vor dem Wohnhaus nieder. Die Sonne wärmte dieses geschützte Fleckchen an der südlichen Hauswand und der Jarl war froh, nach dem langen Ritt seine Beine ausstrecken zu können. Genüsslich nahm er einen Schluck aus dem Horn, lobte wohl auch die Qualität des Bieres und verwickelte dann seinen Freund in eine lange Diskussion über die unerwarteten Pläne ihres Königs.
Teitr aber führte die beiden Frauen ins Innere des Hauses und Jorunn trat entschlossen an Rúnas Lager.
"Was machst du nur für Sachen, Mädchen", begrüßte sie die junge Frau leise und freundlich. "Keinen ganzen Mondumlauf ist es her, dass du meine Hütte verlassen hast und nun musst du schon wieder das Lager hüten …"
Ein wenig überrascht starrte sie auf die Verbände, die Rúnas Rücken bedeckten. So richtig hatte Thorsteins Knecht sich nicht äußern wollen, was der Sklavin eigentlich fehlte. Wenn sie die geröteten Wangen und die kleinen Schweißperlen auf Rúnas Stirn richtig deutete, hatte die junge Frau auf jeden Fall Fieber. Auch die aufgerichteten Härchen an ihren Unterarmen ließen darauf schließen. Also tastete die Heilerin zunächst nach Rúnas Stirn, während sie weiter nachforschte.
"Hast du dir den Rücken verletzt, meine Liebe?"
Jorunns Stimme war leise, freundlich und jagte auch der Angesprochenen keine Angst ein. Dennoch wusste Rúna nicht, was sie auf die Frage der Heilerin antworten sollte. Hatte Thorstein ihr denn nicht längst alles erzählt? Hilflos sah sie einen Moment lang zu Teitr auf, dann senkte sie beschämt die Augen auf das Laken.
"Es ist nichts weiter Schlimmes, Frau Jorunn", versuchte sie leise abzuwiegeln. "Sicher habt Ihr Besseres zu tun, als Euch erneut um mich zu kümmern!"
Die Völva lachte auf. "Gewiss gibt es immer viel für mich zu tun", ließ sie Rúna gutmütig wissen. "Doch da mich Thorstein wegen dir hergebeten hat, sollte ich nun auch seinen Wünschen nachkommen."
Resolut wandte sie sich nun an den Alten, der respektvoll hinter ihr gewartet hatte. "Also erzähle du, Teitr, da es das Mädchen offenbar beschämt und ich ihr bei diesem Fieber auch nicht zu viel zumuten will."
Und obwohl sie Freunde waren, konnte Teitr nicht anders. Auch wenn Rúnas Hand ihn mehrmals bittend stoppen wollte, berichtete er detailiert, was geschehen war und ließ auch die Gründe dafür nicht außer Acht. Vielleicht war es ganz gut, dass die verletzte junge Frau nun einmal einen anderen Blickwinkel des Erlebten zu hören kam. Denn als Teitr schwieg, nachdem er zuletzt erzählt hatte, wie sehr sich Thorstein selbst für sein Tun verachtete, lief ihr eine einzelne Träne über ihre Wange und sie ließ es wehrlos zu, dass Jorunn die Verbände löste und die Wunden auf ihrem Rücken betrachtete. Offenbar machte sie sich über das Gehörte Gedanken, denn sie schien gar nicht zu bemerken, wie die beiden Frauen an ihrem Lager entsetzt die Luft anhielten, als sie das ganze Ausmaß ihrer Verletzungen sahen.
Selbst Jorunn starrte einen Moment lang sprachlos. Bläuliche dunkle Striemen bedeckten Rúnas gesamten Rücken und dort, wo Thorstein das Brandeisen geführt hatte, waren tiefe, rostbraune Wunden zu sehen, deren Ränder in einem ungesunden hellen Rot schimmerten. Die Völva schluckte ihren Schrecken als erste hinunter. Immerhin hatte sie schon viel gesehen und zumindest fand sie keine Spur des befürchteten gelben Eiters vor, der jedes Leben bedrohte und auch Fliegen oder gar Maden waren durch die Pflege der Männer ferngehalten worden. Hier gab es zumindest noch Hoffnung, auch wenn sie Thorstein gern selbst die Peitsche zu spüren gegeben hätte für diese Schweinerei.
Sachlich gab die Völva nun Anweisung, was sie herbeigeschafft haben wollte und breitete wenig später auf Thorsteins Tisch ihr Kräuterbündel aus. Lathgertha ging ihr zur Hand und so hatten die beiden Frauen bald darauf einen reinigenden Heilumschlag für Rúnas Wunden fertiggestellt und der unvermeidliche Weidenrindensud köchelte über dem Feuer. Teitr wurde ausgeschickt, um ein Huhn zu schlachten und nach Jorunns Wünschen eine nahrhafte Brühe für die Verletzte zuzubereiten. Die Entschlossenheit, mit der die Völva all ihre Wünsche und Anweisungen bekanntgab, ließ keinerlei Widerspruch zu.
Gegen Abend war das Nötigste getan. Rúnas Wunden waren neu versorgt. Sie hatte ein wenig gegessen und nachdem Jorunn ihren Rindensud mit ein paar Blättern Bilsen verstärkt hatte, schlief die junge Frau nun ruhig und tief.
Die Völva aber war noch nicht fertig. Mit einer Miene, die nichts Gutes vorhersagte, verließ sie das Haus und trat zu den beiden Männern, die noch immer über den bevorstehenden Krieg sprachen. Aufmerksamkeit heischend baute sich die Alte dicht vor Thorstein auf, der aus seiner sitzenden Position passender Weise zu ihr aufschauen musste.
"Es ist sehr wahrscheinlich, dass Ragnars Sklavin heute Nacht stirbt", begann sie wenig einfühlsam und mit leichter Übertreibung.
"Und ich denke, du schuldest ihm und auch mir eine Erklärung, wie es so weit kommen konnte und warum du nun auf einmal glaubst, sie retten zu müssen. Der Weg hierher ist weit. Für eine Frau ihres minderen Wertes war das ein bisschen viel verlangt, meinst du nicht?"
(1) Die Erbschaftskriege zwischen Horik und Harald Klak sind historisch.