Er stach direkt ins Auge, als er den Raum betrat. Die hellbraunen Haare, die stattliche Statur. Und dann diese unglaublichen Augen. Welche Farbe war das? Ich konnte es von meinem Platz aus kaum erkennen, aber sie wirkten grau, oder nicht? Blau-grau. Ich musste mich stark zusammenreißen, nicht allzu auffällig zu ihm zu starren.
Die Schuluniform, die niemand gerne trug, schien auch ihm zuwider zu sein. Das Hemd steckte lieblos in der Hose, hing an einer Stelle über den Gürtel. Die Krawatte hing lose um seinen Hals und er trug die Schultasche lässig über der Schulter.
Sein Gesichtsausdruck wirkte emotionslos und dadurch beinahe schon arrogant. Trotzdem stand er dort, vor der ganzen Klasse, und wirkte unglaublich attraktiv. Der Neue.
Er musste verschlafen haben. Offenbar fehlte ihm morgens die Zeit, sich vernünftig anzuziehen. Oder es gab einen anderen Grund dafür, dass er so halbherzig gekleidet war. Ja, das musste es sein. Er wirkte nicht verschlafen, also musste es die einfachere Erklärung sein. Es war ihm wohl einfach egal, dass er nicht korrekt gekleidet war. Das passte schon viel eher zu der kühlen Mimik und der distanzierten Körperhaltung.
Und vor allem passte es viel besser zu dem Mann, den ich bereits zuvor gesehen hatte. Für mich war der Neue nämlich nicht wirklich allzu neu. Erst gestern war er mir aufgefallen, zusammen mit Benjamin Grolf und Gary Blansted. Ich versuchte, ihn daher nun zu ignorieren und sah zu Alex herüber. Ich musste mir noch etwas einfallen lassen. Er sollte von der Auseinandersetzung zwischen Ben und Gary erfahren. Sie waren immerhin seine Freunde.
Obwohl ich mich wirklich zusammenreißen wollte, lenkte nun Thalia meine Aufmerksamkeit auf sich und damit auch wieder auf den Neuen. Sie stand auf und ging auf ihn zu, stolzierte beinahe. Es war so klar, dass sie ihre Chance gleich nutzen wollte. Niemand war versessener auf neue, gutaussehende Männer in der Stadt. Ich verdrehte nur genervt die Augen, obwohl ich mir das Schauspiel auch nicht entgehen lassen wollte.
Sie stellte sich dicht neben ihn, sah zu ihm auf und stieß lediglich ein „Hey“ aus. Ihre blonde Hochsteckfrisur saß perfekt. Bei den Mengen an Haarspray war das auch kein Wunder. Ähnliche Mengen befanden sich in ihrem Gesicht. Das Make-Up konnte man heruntermeißeln, ganz wie immer.
Obwohl einige meiner Mitschüler interessiert beobachteten, was sich vor ihren Augen abspielte, schien der Neue sich nicht im Geringsten für sie zu interessieren. Er starrte sie an, doch es machte den Eindruck, als würde er geradewegs durch sie hindurchsehen. Kaum vorstellbar, dass es ihm möglich sein konnte, ihr aufgedonnertes Äußeres zu ignorieren.
„Ich bin Thalia“, fuhr sie nach einer kurzen Pause penetrant fort. „Thalia …“
„Mudo!“ Ihr Name wurde durch den Raum gebrüllt und sie zuckte merklich zusammen.
Im Klassenzimmer herrschte augenblicklich absolute Stille. Während jeder versuchte, auf dem schnellsten Weg zu seinem Platz zu kommen, lehnte der Neue noch immer lässig an der Wand. Er war augenscheinlich völlig unbeeindruckt von dem Gebrüll unseres Mathe- und Sportlehrers Mr. Jason Qurandi.
Er, seines Zeichens stellvertretender Schuldirektor, war ein furchtbarer Lehrer. Er mobbte Schüler, wurde oft beleidigend und machte insgesamt den Eindruck, dass er seinen Job hasste. Er war jeden Tag grauenhaft gelaunt und nicht zögerlich beim Verteilen von Strafarbeiten, weshalb sein Auftauchen beinahe eine Panik auslöste.
Es dauerte nicht lange, bis er merkte, dass es jemanden im Raum gab, der ihm nicht Folge leistete. Sein Blick sprach Bände.
„Du!“ Er deutete ungeniert mit dem Finger auf den Fremden. „Setzen!“
Der Neue stieß sich mit dem Fuß von der Wand ab und ging langsam auf ihn zu. Eine Weile lag eine unheilvolle Ruhe im Raum. Ohne einen Ton von sich zu geben, warf er schließlich eine Mappe auf das Lehrerpult.
Inzwischen kochend vor Wut, weil es so lange dauerte, nahm Mr. Qurandi sie und schlug die erste Seite auf. „So.“ Er wandte sich gereizt den restlichen Schülern zu. „Kai McKenzie besucht von nun an diese Klasse.“
Ich warf einen Blick zu Alex und Gary. Alex grinste still in sich hinein, amüsierte sich scheinbar wieder über Qurandis Autoritätsversuch. Gary allerdings starrte bloß mit einem glasigen Blick auf seinen Tisch. Ob er ihn auch wiedererkannte? Anscheinend, denn er wirkte keineswegs begeistert.
„Parker!“ Dass mir kein erschrockener Laut entfuhr, war auch alles. Ich hasste es, wenn Qurandi meinen Namen so brüllte, doch widerwillig hob ich die Hand. „McKenzie, das ist Miss Parker. Neben ihr ist ein freier Platz. Wenn Sie also Fragen haben, stellen Sie sie ihr und zwar erst nach dem Unterricht.“
Gemütlich näherte Kai sich und ließ sich auf den Stuhl fallen, der ihm zugeteilt wurde. Ich spähte zu ihm herüber, um sicherzugehen, ob er vielleicht wirklich Fragen hatte. Es war kein Wunschkonzert. Wenn Qurandi wollte, dass ich mich um den Neuen kümmere, dann tat ich besser daran, es auch zu tun.
Der Neue war wirklich faszinierend. Noch immer wirkte er kühl, distanziert und unnahbar, aber ich konnte nicht ignorieren, dass mich sein Verhalten neugierig machte.
Was kann ich dir aber vorab erst mal über mich erzählen?
Mein Name ist Douphne Parker. Der grinsende Idiot in meiner Sitzreihe war Alexanders Matthews und mein bester Freund.
Eigentlich war er ein sympathisches Kerlchen. Meistens jedenfalls, wenn er mich nicht gerade um sieben Uhr an einem Sonntagmorgen aus dem Bett holte. Er war stets korrekt gekleidet und gehörte durchaus zur witzigen Sorte Mann, der einen im richtigen Moment zum Lachen bringen konnte. Nur sieben Uhr morgens … Dafür gibt es wohl einfach nicht den richtigen Witz.
Alex war selten in festen Händen. Das lag wohl daran, dass er schon früh karrierefixiert war und eine Beziehung als Ablenkung empfand. Er war gerne früh auf, am liebsten den ganzen Tag unterwegs und mit Dingen beschäftigt, für die sich viele Frauen einfach nicht interessierten.
So kam es, dass er Schülerdetektiv wurde. Du lachst vermutlich, aber so war es. In der Schule war es ein Freizeitangebot, doch Alex war davon so begeistert, dass es ihn nicht mehr losließ.
Was im Dorf passierte, von Unfällen bis Einbrüchen, faszinierte ihn. Er steckte in alles seine Nase herein und spielte gerne den Ermittler, völlig gleich, wem er damit auf die Nerven ging. Du hältst ihn für verrückt? Das eigentlich Verrückte daran war, dass durch seine Hilfe schon so manches aufgedeckt werden konnte.
Wo Alex war, war auch ich. Wem ging er also bevorzugt mit seiner Spionage auf den Wecker? Mir natürlich. Schlimmer noch. Man brachte mich damit sogar in Verbindung, nannte meinen Namen in diesen Zusammenhängen. Naja, mitgefangen, mitgehangen, was? Obwohl ich dir sagen kann, dass es nicht immer nur von Vorteil ist, in einem kleinen Dorf auf diese Weise noch bekannter zu werden, als man sowieso schon war.
Alex und ich besaßen inzwischen unseren Schulabschluss, doch wir beschlossen, auf der Spellington-High zu bleiben, um das Abitur in Angriff zu nehmen. Beinahe all unsere Mitschüler trafen dieselbe Entscheidung. Es sollte also eigentlich kaum eine Veränderung darstellen, für weitere drei Jahre die Schulbank zu drücken. Das dachte ich damals wirklich. Heute schmunzle ich bloß darüber.
Außer Alex gab es in meinem Leben noch jemanden. Benjamin Grolf und Gary Blansted waren Freunde von Alex. Ich verbrachte deshalb viel Zeit mit ihnen, aber eigentlich mochte ich weder den einen, noch den anderen.
Ich könnte dir vermutlich nun haufenweise Geschichten über die beiden erzählen, aber ich habe ihre Anwesenheit nie genossen, also gibt es nichts, das ich dir über Gary erzählen möchte.
Mit Ben würde ich gerne ebenso verfahren, aber da er für einen gewaltigen Wendepunkt in meinem Leben verantwortlich ist, komme ich wohl später nicht daran vorbei, dir von ihm zu erzählen.
Außer den männlichen Personen in meinem Leben gab es da noch jemanden, mit dem es nicht immer einfach war. Thalia Mudo und ich führten seit dem Kindergarten eine ständig wechselnde Freundschaft. Die meiste Zeit empfand ich sie als sehr anstrengend und lästig, doch irgendwie trennten sich unsere Wege trotzdem nie vollständig.
Auch Alex kannte ich bereits seit Kindertagen. Im Prinzip, und so traurig das auch klingen mag, war er mein einziger und bester Freund.
Kai McKenzie sprach den gesamten Schultag kein Wort mit niemandem. Thalia versuchte immer wieder das Gespräch zu suchen, doch er ließ sie jedes Mal abblitzen. Er schien sich für nichts wirklich zu interessieren und als der Schulgong ertönte, der das Ende des Schultages verkündete, hatte man ihn noch immer kein Wort sagen hören.
Während mein Blick an ihm haftete, als er seine Bücher in den Spind räumte, stellte Alex sich zu mir und grinste mir schadenfroh entgegen. „Mathe war doch heute mal richtig cool.“
„Sicher“, erwiderte ich nur tonlos, wandte dabei aber meinen Blick immer noch nicht von dem Neuen ab.
„Hast du Qurandis Gesichtsausdruck gesehen, weil er ihn ignoriert hat?“ Alex schien mal wieder mit Humor an die Sache heranzugehen, das tat er immer.
Als ich aber trotzdem nicht reagierte, folgte er meinem Blick. Dann grinste er erneut und tat, was er scheinbar nicht lassen konnte. Er stolzierte zu seinem Schließfach, lehnte sich dagegen und sprach den Neuen an.
Sehr langsam, um bloß nicht in das Bevorstehende hereingezogen zu werden, folgte ich ihm. Ich kannte Alex‘ aufdringliche Art nur zu gut und war mir sicher, dass es den Neuen stören würde. Es musste einen Grund dafür geben, wieso er den ganzen Tag mit niemandem sprach und vermutlich lag es daran, dass er einfach nicht wollte.
„Hey.“ Alex versuchte cool und lässig zu wirken. Ich mochte ihn unglaublich gern, aber das war er nicht. „Woher kommst du?“
Kai legte sein letztes Buch in den Spind und wandte sich schließlich, ohne einen Gruß zu erwidern, von Alex ab. Unsere Blicke trafen sich, als er an mir vorbeiging. Ich lächelte leicht, doch er sah mich nur einen kurzen Moment ausdruckslos an, dann ließ er uns stehen.
„Wohl nicht sehr gesprächig, was?“, rief Alex es ihm verärgert hinterher.
Er kam auf mich zu und ich lächelte ihn schadenfroh an. „Hättest du doch jetzt mal deinen Gesichtsausdruck sehen können.“
Sein Blick hing noch immer an Kai und er schüttelte den Kopf, während ich ihm ebenfalls hinterherschaute und beinahe noch faszinierter war, als vorher. Wieso nur mied er den Kontakt?
Schließlich machten Alex und ich uns gemeinsam auf den Weg, wie jeden Tag.
„Gary hat es heute ganz schön eilig gehabt“, sprach er das Thema an, das ich bisher gekonnt gemieden hatte.
„Das liegt vermutlich an seinem Streit mit Ben.“ Ich sah mich um. Einerseits, um zu prüfen, ob der in der Nähe war, andererseits in der Hoffnung, einen Ausweg aus diesem Gespräch zu finden. „Ich habe Ben und seine neuen Freunde gestern gesehen.“
Alex wich meinem Blick aus und sah mit einer schuldbewussten Miene auf den Boden. „Ja, die habe ich auch schon gesehen.“ Er räusperte sich kurz, beschleunigte dann seine Schritte.
Ich blieb abrupt stehen und verschränkte die Arme vor der Brust. „Vor der Tatsache, dass du uns schon wieder in deine Spionageaktion reinziehen wolltest?“
„Es tut mir leid“, erwiderte er und drehte sich zu mir. „Okay, hör‘ mal. Ich mag Ben und finde es nicht gut, wenn du dich ständig mit ihm anlegst. Es ist bloß eine seiner Phasen. Das wird wieder vorbeigehen, also vielleicht könntest du ihn einfach mal in Ruhe lassen, auch wenn er gerade nicht deinen Anforderungen entspricht?“
Bitte was? Ich stieß einen abschätzenden Laut aus. Sollte das sein Ernst sein? Eine seiner Phasen? Ben war schon lange dabei, sich merkwürdig zu verändern. Er war launisch und wirkte immer öfter unberechenbar. Das schob ich nicht auf eine Phase, sondern eher auf einen psychischen Knacks. Nun stand mein bester Freund vor mir und verteidigte die Tatsache, dass Ben mit einer Schlägertruppe um die Häuser zog und sogar Gary angegangen war?
Ja, es stimmte. Ich konnte Ben nicht leiden. Mit wem er seine Zeit verbrachte, war mir also eigentlich herzlich egal, solange ich ihn dafür nicht um mich haben musste. Da ich ihn aber zwangsläufig ertragen musste, weil Alex ihn mochte, konnte ich nicht wegsehen, wenn er sich verhielt, wie ein psychopathischer Schläger.
„Was interessiert es mich eigentlich?“ Ich zuckte mit den Schultern, ging an Alex vorbei und die Auffahrt zu meinem Haus hoch. „Er ist dein Freund, nicht meiner.“
Meine Geduld für Alex, seine Ermittlungen und seine Freunde hatte immer ihre Höhen und Tiefen, doch zu dieser Zeit stand es darum besonders schlecht.
Heute wird mir nachgesagt, dass ich erst einige Monate später anfing, mich zu verändern, doch ich denke, dass dieser Tag der Startschuss für meine weiteren Entscheidungen war.
An diesem Tag leitete ich eine Tradition ein. Ich beschloss, wieder zurück zur Schule und in das danebenliegende Café ‚Lukasz’s‘ zu gehen, um mich abzureagieren.
Auf dem Weg dahin kam ich am Bolzplatz vorbei und wurde davon überrascht, dass Ben dort erneut sein Unwesen trieb. Dieses Mal waren seine neuen Freunde nicht dabei. Nur einer von ihnen und ich blieb neugierig stehen.
Es war Kai McKenzie, dessen Hand in diesem Augenblick an Bens Hals schnellte und ihm die Kehle zudrückte. „Droh‘ mir nicht!“
Ich erstarrte. Am liebsten wollte ich das Atmen einstellen, um möglichst unauffällig zu wirken. Stattdessen verschwand ich in hockender Haltung hinter einem Baum, um nicht entdeckt zu werden. Mich zu verstecken, schien mir in diesem Moment irgendwie angebracht zu sein.
„Jeder hat eine Schwachstelle, McKenzie“, hörte ich Ben sagen und ich meinte, ein kleines Lachen in seiner Stimme erkennen zu können. „Verscherz‘ es dir nicht mit mir, denn wenn ich deine finde …“
Plötzlich kehrte Ruhe ein und ich hörte Schritte, die sich entfernten. Weil ich vermutete, dass die Luft rein war, kam ich hinter dem Baum hervor und wischte mir den Dreck von den Händen. Damit fertig, ging ich einen Schritt nach vorn, als ich Kai nicht nur sprichwörtlich geradewegs in die Arme lief.
Ich schreckte zurück und als mir sein wütender Gesichtsausdruck auffiel, konnte ich ihm nicht länger in die Augen sehen.
„Wie lange stehst du da schon?“ Es klang ruppig und er starrte mich herrisch an.
Wow, was stimmte nicht mit ihm? Er baute sich vor mir auf, schüchterte mich ein. Ich runzelte die Stirn wegen seines Verhaltens, als er sich ein paar Schritte von mir entfernte. Es verschlug mir die Sprache.
Kai erweckte den Eindruck, dass man ihn nicht reizen sollte, also schwieg ich lieber. Er vermied den Blickkontakt, rieb sich mit der Hand durch das Gesicht. Er wirkte gestresst und fuhr sich mit den Fingern über die Augen.
Zuerst wollte ich mich von ihm abwenden und das Weite suchen, doch dann entschied ich mich um und machte einige Schritte auf ihn zu. So schlimm konnte er schon nicht sein, oder? Außerdem siegte meine Neugier zu oft über meine Vernunft.
Kai steckte die Hände in seine Hosentaschen, ließ die Arme locker hängen und trat einen kleinen Stein weg. Er drehte mir den Rücken zu, schlenderte lässig auf und ab.
„Du musst wissen, dass ich neu hier bin und keine große Lust habe, mich für Leute einzusetzen, die ich nicht kenne.“
Er legte Rechenschaft für den vorigen Tag ab, das war mir klar. Ich wurde aber nicht aus ihm schlau. Erst redete er kein Wort, nun wollte er sich erklären? Sein Verhalten machte mich neugierig, doch gleichzeitig schüchterte mich der aggressive Ton in seiner Stimme ein.
„Du solltest dich gegenüber Ben nicht so vorlaut verhalten, wie du es gestern getan hast“, ermahnte er mich.
„Also soll ich lieber wie ein liebes, schüchternes Mädchen vor ihm weglaufen?“ Ich lachte leise.
Noch nie hatte ich mich vor Ben zurückgenommen und ich würde mit Sicherheit nicht heute damit anfangen, weil ein Fremder mir dazu riet.
„Bist du denn nicht genau das?“ Kai musterte mich abschätzend.
War das der einzige Schluss, zu dem er gekommen war? Er kannte mich einen Tag und ging davon aus, dass ich nichts weiter war, als ein liebes Vorstadtmädchen? Vielleicht stimmte es zum Teil. Ich war ein Lieblings-Typ. Lehrer mochten mich, weil ich nicht störte und selten auffiel. Das war es auch schon. Ich war unscheinbar, stach nie heraus. Durchschnitt eben, aber glücklich.
Kai schlenderte zu mir und blieb neben mir stehen. Ich wandte meinen Blick abrupt von seinem Gesicht ab, da mir sein eiskalter Gesichtsausdruck nicht zusagte, doch dann bemerkte ich die Verletzungen an seinem Arm. Er war übersäht von Kratzern, blauen Flecken und Blutergüssen.
Mir lag die Frage schon auf der Zunge, als er es merkte und mich barsch ausbremste. „Stell‘ mir jetzt keine dummen Fragen, ja? Ich will keine Belehrungen, traurigen Blicke oder sonst was!“
Obwohl seine Worte hart klangen, lag eine Spur von Erschöpfung in seinen Augen. Als er dann auch noch die Hände aus den Taschen zog, wich ich erschrocken zurück. Mein Blick haftete an einer Wunde, die noch nicht besonders alt zu sein schien und sie befand sich direkt an seinem Handgelenk.
„Hast du das von Leuten wie Ben?“ Ich stellte die Frage mindestens genauso nervös, wie erschüttert.
„Nein.“ Ein Lachen lag in seiner Stimme.
„Aber du …“ Sein Bick brachte mich in diesem Moment zum Schweigen.
Kai war definitiv anders, als jeder Mensch, den ich bislang kennengelernt hatte. Er war verschlossen, abweisend und tatsächlich ziemlich unfreundlich. Mein Drang, Qurandis Anweisung nachzukommen, sank gegen null. Kai McKenzie wollte mit Sicherheit keine Fragen über die Schule oder das Dorf stellen und ich verspürte nicht mehr den Wunsch, auf ihn zuzugehen.