…And all the roads we have to walk are winding
And all the lights that lead us there are blinding
There are many things that I would like to say to you
But I don’t know how…
[Oasis- Wonderwall]
Der Zustand, der meinen Körper befallen hatte, glich einer Ohnmacht mit offenen Augen. Ich bekam mit, wie sich die Fremden in meine Richtung drehten. Ich schätze, dass ich geschrien habe, weil alle so erschrocken aussahen. Ich bekam mit, wie sich eine Frau über mich beugte und mich ansprach, doch so sehr ich auch versuchte zu verstehen, was sie sagte, ihre Worte kamen nicht bei mir an. Der stechende Schmerz unter meiner Schädeldecke hatte sich in ein dumpfes Pochen verwandelt. Ich dachte an Athene, die griechische Göttin, die auf diese Weise geboren wurde. Sie hatte sich mit ihrem Speer aus dem Kopf des Zeus zu befreien versucht. Mum hat mir diese Geschichte einmal erzählt, als die Kopfschmerzen besonders schlimm waren. Ich kann mich noch daran erinnern, wie ich sie gefragt habe, ob ich in meinem Kopf auch eine Athene sitzen hätte. Sie hat gelächelt und ich habe zurückgelächelt. Dann hat sie sich von mir weggedreht. Damals wusste ich nicht, dass sie weinte.
Ich liege auf dem kalten Asphalt des Bürgersteiges. Ich spüre, wie ich die Macht über meinen Körper zurückerlange und das Pochen in meinem Kopf allmählich nachlässt. Meine Finger fühlen sich kalt an. Ich bewege sie, um zu prüfen, ob das überhaupt funktioniert. Ich starre in das grelle Licht einer Straßenlaterne und frage mich, wie ich überhaupt hierhergekommen bin. Vereinzelte Schneeflocken fallen auf mein Gesicht. Ich blinzle, um zu verhindern, dass sie in meine Augen kommen. Als ich meinen Kopf langsam nach rechts drehe, erkenne ich die Autoschlangen, die Werbeanzeige von McDonalds und den Buchladen, der esoterische Kräuterbücher und Paracelsus-Abschriften führt. Ich befinde mich drei Straßen vor der Bushaltestelle, an der ich hätte aussteigen müssen.
„Geht’s dir besser?“ Ich drehe meinen Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kommt. Und ich will nicht glauben, was ich sehe. Es ist der Typ aus der Straßenbahn, der hier auf dem Bürgersteig neben mir hockt und mich mit einer Mischung aus Besorgnis und Neugierde mustert. Und es dauert eine Weile, bis ich bemerke, dass ich ihn schon wieder anstarre, als wäre er der erste Mensch, den ich seit meiner Geburt auf Gottes schöner Erde gesehen habe. Ich nicke zögerlich und versuche mich aufzurichten, doch mein Körper will nicht so wie ich. Der Typ lächelt ob meines Versuches, mich aufzusetzen. Er streckt eine Hand nach mir aus. „Warte, ich helfe dir auf.“
Seine Hand fühlt sich im Vergleich zu der Meinigen angenehm warm an. Er hilft mir, mich vorsichtig aufzurichten und stützt mich, als ich aufstehe. Meine Beine fühlen sich wie Wackelpudding an und drohen, jeden Moment unter mir zusammenzubrechen. Mir ist ein wenig übel, aber das ist ja nichts Neues. Ich versuche, mich auf den Beinen zu halten, doch das fällt mir sichtlich schwer. Und der Typ merkt das. Ich kralle mich in seine Jacke und komme mir dabei so klein und hilflos vor, dass ich mir wünsche im Erdboden zu versinken. Aber es passiert nicht.
„Willst du dich vielleicht kurz hinsetzen?“, fragt er. Ich werfe ihm einen raschen Blick zu, bevor ich nicke. Er stützt mich, bis wir die metallene Bank erreicht haben, die sie vor ein paar Jahren hier an der Bushaltestelle montiert haben. Sie haben sie an dem Betonmonument der Bushütte festgeschraubt, um zu verhindern, dass sie „abhanden“ kommt. Die Holzbänke, die hier zuvor gestanden haben, waren meistens über Nacht verschwunden und Tage später im Central Park wieder aufgetaucht. Keine Ahnung, wer Spaß an so etwas findet. Ich frage mich, was das für eine Person ist, die Holzbänke verschleppt. Er hilft mir, mich hinzusetzen und nimmt schließlich neben mir Platz. Er sagt nichts. Ich sage nichts. Aber es gleicht keinem ohrenbetäubenden Schweigen, das einen nervös macht, wenn man einander gegenübersitzt und der Gesprächsstoff ausgegangen ist und man sich anschweigt.
„Das tut mir leid, wegen vorhin.“, sage ich. Ich erkenne aus den Augenwinkeln, wie den Kopf in meine Richtung dreht und mich ansieht. Seine Blicke scheinen auf meiner Haut zu brennen. „Was tut dir leid?“, fragt er. Ich wende ihm mein Gesicht zu. Er hat die Hände in den Seitentaschen des dunklen Pullis vergraben. „Dass ich dich so angestarrt habe.“, antworte ich leise. Weil es mir immer noch peinlich ist. „Mir tut’s nicht leid.“ Ich registriere, wie sich seine Lippen zu einem Lächeln verziehen und ich starre ihn schon wieder an. Diesmal aber vor Unglauben, weil ich mir sicher bin, dass jeder andere- Macht nichts- gesagt hätte. Jeder andere. Und weil ich keine bessere Idee habe, beschließe ich einfach, ihn nicht darauf anzusprechen. „Und ich wollte mich bedanken.“, fahre ich fort. „Obwohl ich keine Ahnung habe, wie du mich aus der Straßenbahn gebracht hast.“, füge ich mit einem schwachen Grinsen hinzu. So wirklich will mir das noch nicht gelingen. Meine Gesichtsmuskulatur fühlt sich ein wenig taub an. So, wie nach einer Narkose. Kurz bevor sie aufhört zu wirken. Ich will nicht darüber nachdenken, was das zu bedeuten hat, obwohl in mir plötzlich ein leichtes Gefühl der Panik aufkommt. Das vorhin war doch nicht normal, oder?! Ich will nicht, dass es nochmal von vorne losgeht.
„Was ist los?“, höre ich ihn fragen. „Wieso?“ „Weil du aussiehst, als hättest du einen Geist gesehen.“ Er lacht leise auf, aber mir ist nicht nach Lachen zumute. Plötzlich spüre ich die Übelkeit wieder in mir aufkommen. Ich beuge mich instinktiv nach vorne und greife mit der Hand nach der Armlehne der Bank. Ich höre mich selbst würgen. Ekel überkommt mich, bei diesem Geräusch. Weil es mich unweigerlich an eine Zeit erinnert von der ich dachte, dass sie jetzt endgültig vorbei ist. Ich würge heraus, was sich in meinem Magen befindet. Ich muss etwas Falsches gegessen haben. Das rede ich mir ein, bis es wie eine Mantra in meinem Kopf widerhallt. Als ich mich wieder zurücklehne, sieht der Typ mich skeptisch von der Seite an.
„Jetzt im Ernst. Was ist los mit dir? Bist du krank?“ Krank? Könnte sein. Vielleicht habe ich mir etwas eingefangen. Ich schüttle den Kopf. „Ich weiß es nicht.“ „Hast du so etwas öfter?“ Ich sehe ihn an und sein Blick trifft direkt auf den Meinigen. „Manchmal.“, sage ich. „Warst du schon mal beim Arzt?“, fragt er und ich höre mich selbst im selben Atemzug trocken auflachen. "Ständig.“, sage ich. Er hebt die Augenbrauen. „Nein, ich mein’s Ernst.“ Ich sehe ihn weiter an. „Ich auch.“ Ich kann den darauffolgenden Blick nicht deuten, den er mir zuwirft. Ich weiß nicht, ob er mir überhaupt Glauben schenkt, oder ob er mich für einen Lügner hält, denn er sagt nichts dazu. Aber was habe ich schon zu verlieren?
„Ich bin Tyler.“ Ich sehe, wie sich sein Mund bewegt, aber es dauert ein wenig, bis seine Worte bei mir ankommen. Ein schwaches Lächeln legt sich auf meine Lippen. „Will.“ Ich bin müde. Ich will einfach nur noch schlafen. Ich fahre mir mit den Händen über das Gesicht. Ich fühle mich wie gerädert. „Dir geht’s wirklich nicht gut. Sag mir wo du wohnst, ich bring dich nach Hause.“ „Das musst du nicht. Ich komm schon klar.“, starte ich einen schwachen Widerstandsversuch, der von Anfang an zum Scheitern verurteilt ist. „Ich kann nicht verantworten, dass du irgendwo nochmal umkippst, also stell dich nicht so an, Will.“
„Ich kippe nicht um.“, protestiere ich. „Nein, natürlich nicht.“ Die Ironie, die in seiner Stimme mitschwingt, gefällt mir. Seine Stimme gefällt mir. Ich muss unweigerlich lächeln.