Nach etwa zehn Minuten kehrte die junge Frau wieder zu den beiden Männern zurück - im Schlepptau Alan Summerson.
Dieser eilte auf Viktor zu, reichte ihm die Hand und verbeugte sich leicht. »Was kann ich für Sie tun, mein lieber Graf Draganesti?«
Der Angesprochene neigte leicht den Kopf und erwiderte: »Nun, ich wollte eigentlich einen Ausritt in Begleitung Ihres Neffen machen. Allerdings ist dieser, wie Miss Bennett ... Willow, mir bereits mitteilte, ja leider nicht verfügbar.«
Nervös nestelte Alan an seinem Hemd herum und man konnte ihm sein Unbehagen über den Umstand, dass er dem Adligen nicht gerecht werden konnte, ansehen.
»Ich könnte Luca anrufen und zurückbeordern«, sagte er schließlich.
Doch Viktor schüttelte den Kopf. »Nein! Auf keinen Fall, Mr. Summerson. Ich sagte bereits zu Willow, dass ich das unter keinen Umständen wünsche. Ich kann nicht hierherkommen und erwarten, dass jeder für mich verfügbar ist. Das ist nicht meine Art. Wenn Sie mir jedoch eines Ihrer wundervollen Pferde anvertrauen, dann komme ich hervorragend alleine zurecht.«
Der Gestütsbesitzer entspannte sich wieder zusehends. »Das ist natürlich überhaupt kein Problem. Ich werde Ihnen ein paar der Tiere zeigen, die infrage kommen, und Sie können sich eines aussuchen. Und hier auf dem Gelände können Sie auch nicht verloren gehen. Es ist zwar riesig, aber rundherum eingezäunt und die Pferde finden immer den Weg zurück zum Stall.«
Viktor nickte und wandte sich dann an seinen Butler. »Du brauchst hier nicht stehen und warten. Du hast eine Verabredung, also verschwende nicht deine Zeit. Ich komme zurecht, wie du ja siehst.«
»Gut ... Wenn Ihr nach Hause wollt, dann ...«, antwortete Sebastian, doch Viktor ließ ihn nicht ausreden.
»Wenn ich irgendwann nach Hause will, dann werde ich das auch ohne dich schaffen. Ihr beide macht euch einen schönen Tag. Ich möchte von dir bis frühestens morgen Mittag nichts hören oder sehen. Und jetzt macht euch auf den Weg.«
Schmunzelnd nickte der Butler. »Wie Ihr wünscht, Herr!«
Während Viktor sich wieder Alan zuwandte, öffnete Sebastian Willow die Beifahrertür des Bentley. Die junge Frau stieg grinsend ein und kurz darauf verließen die beiden das Gelände.
»Sie haben nun wieder meine ungeteilte Aufmerksamkeit, Mr. Summerson.«
»Gut! Wenn Sie wollen, zeige ich Ihnen dann jetzt die Tiere«, erwiderte der Angesprochene und Viktor nickte.
Der Gestütsbesitzer führte den Graf hinüber zum Privattrakt des Stalls. Hier waren die Pferde der Familie sowie die enger Freunde untergebracht und Alan zeigte dem Adligen die Tiere, die für einen Ausritt zur Verfügung standen, damit dieser sich eins aussuchen konnte.
Nachdem Viktor sich für 'Winterfire', eine junge Grauschimmelstute, entschieden hatte, rief Alan nach einem Stallburschen, der den Vollblutaraber striegelte und schließlich für den Graf aufsattelte und -trenste.
Der Adlige bedankte sich höflich, nahm dem jungen Mann die Zügel aus der Hand und führte das Pferd aus dem Stall.
Alan folgte ihm. »Tun Sie mir einen Gefallen, Graf. Bedenken Sie bitte, dass es heute sehr warm ist. Lassen Sie ...«
Doch Viktor brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. »Keine Sorge, ich werde dieses edle Tier nicht im vollen Galopp über die Wiesen jagen. Danach steht mir nicht der Sinn. Ich möchte lediglich einen gemütlichen Ausritt machen. Das Pferd leidet genauso unter der Hitze wie ich, also machen Sie sich darüber bitte keine Gedanken.«
Alan nickte erleichtert. Er hatte Graf Viktor nichts unterstellen wollen, aber leider hatte der Gestütsbesitzer schon genug erlebt in dieser Hinsicht. »Verzeihen Sie mir, Graf Draganesti, ich wollte Sie nicht beleidigen.« Alan hielt die Stute fest, während Viktor sich in den Sattel des Pferdes schwang, welches nervös tänzelte.
»Schon gut. Ich kann Ihre Sorge nachvollziehen. Ich werde Ihnen das Tier heil und unversehrt zurückbringen.«
Damit trieb Viktor die zierliche Stute voran und verließ den Hof durch dasselbe Tor, durch das Luca vor einer Weile gefahren war ...
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Zur gleichen Zeit lenkte dieser das Motorrad von dem Hauptweg hinunter auf den schmalen Waldweg, der zu dem kleinen See führte, den der junge Mann sich als Ziel auserkoren hatte. Das Gewässer lag idyllisch inmitten der Bäume auf einer Lichtung.
An der Hütte seines Onkels, die unmittelbar am Ufer stand und früher oft an Angler und Jäger vermietet worden war, hielt Luca schließlich an. Er stellte die Harley im Schatten der knorrigen, alten Eiche hinter dem Gebäude ab, nahm seine Sachen und schloss die Tür auf.
Das Häuschen war relativ groß. Die circa vierzig Quadratmeter verteilten sich auf ein Wohnzimmer mit Kochnische, in der es sogar einen Gasherd sowie einen Kühlschrank gab, der allerdings aufgrund des fehlenden Stromanschlusses nicht funktionierte, sowie ein Schlafzimmer und ein kleines Bad, in dem es nur kaltes Wasser gab.
Ebenso funktionierte natürlich das elektrische Licht nicht. Alan hatte schon vor Ewigkeiten den Strom kappen lassen, weil sich immer wieder Jugendliche unbefugten Zutritt verschafft und Sauforgien hier gefeiert hatten. Und nachdem einer dieser jungen Leute fast im See ertrunken wäre, hatte der Gestütsbesitzer die Konsequenzen gezogen und die Location unattraktiver gemacht. Zu diesem Zeitpunkt war auch der Zaun um das gesamte Gelände gezogen und Kameras installiert worden. Von Zeit zu Zeit wurde die Hütte an gute Bekannte vermietet, die aus ihrem Alltagstrott heraus wollten, aber keine Lust auf herkömmlichen Urlaub hatten oder einfach mal ein Wochenende aus der täglichen Hektik ausbrechen wollten. Aber das kam nur selten vor.
Luca bedauerte das nicht. So konnte er hierherkommen, wann immer er wollte.
Der junge Mann legte seine Sachen auf einen der beiden alten Sessel, nachdem er diese von den Bettlaken, die als Schutz gegen den Staub dienen sollten, befreit hatte. Dann riss er alle Fenster des Raumes auf, um den Mief des Unbewohnten herauszulassen. Anschließend ging er in das angrenzende Zimmer, um auch hier das Fenster weit aufzumachen. Er nahm dort ebenfalls das Laken weg, welches auf dem Doppelbett ausgebreitet worden war und deckte auch die Nachttischchen ab. Dann schnappte er sich die Zudecken und brachte diese zum Lüften nach draußen, hängte sie in die Sonne über das Geländer des Stegs, der zum Wasser führte. Das Gleiche machte er mit den Kissen. Da er sich entschieden hatte, hier zu übernachten, wollte er das nicht in dem muffigen Zeug tun.
Für einen Moment blieb er am Ufer stehen und ließ den Blick schweifen.
Die Sonne fiel ungehindert auf die glitzernde Wasseroberfläche und hatte den See leicht aufgewärmt. Luca überlegte einen Moment, dann zog er seine Klamotten aus und tauchte keine zwei Minuten später in die kühlen Fluten ab. Er genoss die angenehme Temperatur, die ihm bei der Hitze sehr gelegen kam.
Nachdem er eine Weile herumgeschwommen war und sich abgekühlt hatte, kletterte er über die Leiter am Steg aus dem Wasser und legte sich am Ufer in die Sonne. Er schloss die Augen und wie so oft, wenn er zur Ruhe kam, wanderten seine Gedanken zu Viktor.
Warum war das nur alles so kompliziert? Immer wenn er, Luca, glaubte, er könne dem Adligen vertrauen, kam der nächste Hammer. Und der letzte war wirklich nicht von schlechten Eltern gewesen. Der junge Mann seufzte leise. Mit allem hatte er gerechnet, aber dass es sich bei Viktor ausgerechnet um einen Vampir handelte, wollte einfach nicht in sein Hirn. Nicht, dass er Angst vor ihm hatte. Nein! Im Gegenteil. Er fand das Ganze sogar äußerst interessant und reizvoll. Aber sein Verstand wollte einfach nicht wahrhaben, dass es so war. Trotzdem sehnte Luca sich nach der Nähe des anderen Mannes, auch wenn er Viktor um eine Pause gebeten hatte, um nachdenken zu können, seinen Kopf von allen Zweifeln freizubekommen und sich wirklich klarzuwerden, was er wollte. Dass er sich in den gutaussehenden Grafen mit den wunderschönen braunen Augen verliebt hatte, stand für den jungen Mann außer Frage. Allerdings war eben die Tatsache, dass Luca es hier mit einem Vampir zu tun hatte, schon etwas, das ihn ins Grübeln brachte und ihn sich fragen ließ, ob das überhaupt funktionieren konnte.
Er schreckte aus seinen Gedanken, als er das Klappern von Hufen vernahm, das vom Holz der kleinen Brücke, die über einen schmalen Graben führte, welcher als natürlicher Abfluss für den See fungierte, widerhallte.
Luca richtet sich ein Stück auf, stützte sich auf den Unterarmen ab, drehte den Kopf und sah in die Richtung des Geräusches, nicht darüber nachdenkend, dass er hier vollkommen nackt herumlag.
»Das kann doch nicht sein Ernst sein«, entfuhr es ihm, als er Pferd und Reiter erkannte.
Langsam stand er auf und verschränkte die Arme vor der Brust, während sein unerwünschter Besuch sich weiter näherte.
»Was willst du hier?«, fragte Luca genervt.
Schmunzelnd hielt Viktor die Stute an und stieg ab. »Nun, ich habe einen Ausritt mit dir machen wollen, aber da du nicht da warst, habe ich mir ein Pferd ausgeliehen und mich eben alleine auf den Weg gemacht.«
»Und du bist rein zufällig ausgerechnet hier vorbeigekommen. Wo der See ja auch gar nicht versteckt liegt.« Der Sarkasmus in Lucas Stimme war nicht zu überhören.
»Glaub es oder nicht. Ich habe dich tatsächlich nicht bewusst gesucht. Aber ich kann sofort wieder verschwinden, wenn es dein Wunsch ist. Allerdings hätte ich gerne ein paar Minuten Verschnaufpause für das Pferd«, erwiderte der Vampir trocken und musterte Luca ungeniert, der sich in demselben Moment seiner Nacktheit wieder bewusst wurde.
»Guck nicht so«, schnaubte er und merkte, dass ihm die Hitze ins Gesicht stieg. Er hob seine Boxershorts nebst Jeans vom Boden auf und zog diese an. »Und ja, es ist mein Wunsch. Es ist das Beste, wenn du dich wieder auf Winterfire schwingst und deinen Ritt fortsetzt. Ich möchte einfach nur meine Ruhe haben, möchte von niemandem behelligt werden und bitte dich, das zu respektieren. Und ich denke auch nicht, dass ausgerechnet du die Gesellschaft bist, die ich im Moment hier haben will«, erwiderte Luca und sah dem Vampir fest in die Augen.