Als Thorstein, auf Jorunn gestützt, in das Haus Rollos eintrat, schien die Zeit einen Moment lang stehenzubleiben. Der Bruder des Jarl, der auf einem Hocker am Feuer saß, starrte den Freund zuerst nur ungläubig an. Dann, als er seine Unhöflichkeit bemerkte, sprang er auf und half dem Verletzten, in den Raum hineinzukommen. Lächelnd folgte die Völva den Männern, als Rollo seinen Kampfgefährten an Rúnas Lager führte.
Die junge Frau, die durch ihre Lage den Eingang des Hauses nicht hatte sehen können, erstarrte schmerzhaft, als sie sah, wer da an ihr Lager trat. Das durfte nicht sein, nicht schon heute! Bei allen Göttern, die ihr heilig waren, wünschte sie sich, der Mann an ihrem Lager sei ein Gebilde ihrer überlasteten Fantasie. Wenn er sie heute verstieß und zu Ragnar zurückschickte, würde sie das nicht mehr aushalten. Ja, sie wusste, dass er sie nicht bei sich behalten konnte, nun, da sie so besudelt war. Doch sie hatte so sehr gehofft, noch ein wenig Zeit zu bekommen, Zeit, um sich für das Unvermeidliche stark zu machen, Damit er nicht sah, was er ihr antat. Jetzt gerade aber war sie noch nicht so weit. Es würde sie zerbrechen.
Unfähig, Thorstein sofort in die Augen zu sehen, zog Rúna ihre Decke ein wenig höher und begann, den Saum des Stoffes unruhig in den Fingern zu kneten. Eine ruhige Hand schob ihre Beine ein wenig zur Seite. Dann ließ sich ihr Gefährte vorsichtig an ihrem Lager nieder. "Du bist wach, Rúna", begann er. "Das beruhigt mich ein wenig. Wie fühlst du dich?"
Unglücklich sah die junge Frau nun doch auf. Wie friedlich Thorsteins Gesicht aussah. Sie wollte es ihm nicht schwerer machen als nötig. "Es sieht schlimmer aus, als es ist", wiegelte sie ab. "Bestimmt kann ich morgen schon wieder aufstehen. Das Leben wird so oder so weitergehen." Sie hörte selber, wie bitter ihre Stimme bei diesen Worten klang. Sie konnte ihre Gefühle schon immer schwer vor diesem Mann verstecken.
Der Steuermann aber sah, wie sehr sie sich quälte. Liebevoll löste er ihre zur Faust geballten Hände aus der Decke und bettete sie dann in seinen Schoß. Mit einer Hand hielt er ihre Finger dort locker fest, damit sie nicht sofort vor ihm zurückwich. Mit der anderen strich er ihr sanft über die bläulich verfärbte Wange. "Ich würde dich jetzt gern einfach nur in den Arm nehmen und dich trösten", ließ er Rúna wissen. "Meinst du, das würde dir gut tun? Oder ist dir so viel Nähe heute zu viel?"
Rúna schluckte. Sich von Thorstein trösten zu lassen, würde ihr ganz gewiss helfen. Da war sie sich sicher. Auch, wenn sie seine Beweggründe nicht so recht verstand - Hätte er sie nicht besser meiden sollen? - war sie nicht stark genug, dieser Verlockung von Wärme und Geborgenheit standzuhalten. Seufzend richtete sie sich auf und rutschte ein wenig näher. Als der Steuermann nun einladend seine Arme ausbreitete, lehnte sie sich vorsichtig bei ihm an. Und als sich seine Arme um sie schlossen, war es in diesem Augenblick, als sei nie etwas geschehen.
Runa wusste, dass sie sich belog. Die letzte Nacht konnte nicht rückgängig gemacht werden. Ragnar hatte sie für ihr ganzes Leben gezeichnet, selbst, wenn die Narbe an ihrem Hals irgendwann verblassen würde. Mit einem Mal verwischte sich der Zauber des Augenblicks zu einem düsteren Grau und hinterließ eine bodenlose Leere in ihr. Es war als fiele sie immer weiter hinein in eine undurchdringliche Dunkelheit, deren Ende sie nicht sehen konnte. Mit einem Mal war auch die unsägliche Angst wieder da, der Ekel und der Schmerz.
Thorstein spürte, wie Rúna in seinen Armen zu zittern begann. Sie war nahe daran, zusammenzubrechen. Das hatte er schon geahnt, als er Jorunn bat, sie sofort sehen zu dürfen. Snót hatte ihm einmal gesagt, dass es kaum etwas Schlimmeres für eine Frau gab, als von einem Mann gegen ihren Willen bestiegen zu werden. Eine Macht, die stark genug war, die Grenzen des eigenen Körpers zu überrennen und ihn sich gefügig zu machen, stellte sich auch Thorstein schrecklich vor. In der letzten Nacht hatte er einen solchen Übergriff schon befürchtet und sich dabei vorgestellt, wie es sein musste, von einem stärkeren Wesen so weit unterworfen zu werden, dass nichts gegen dessen Willen eine Sicherheit bot. Die Demütigung, diesem Übergriff wehrlos ausgesetzt zu sein, konnte er sich aber nicht vorstellen.
Zärtlich streichelte er Rúnas Nacken und hielt sie eng an sich gedrückt, während sie schluchzte. Er versuchte, ruhig zu bleiben, damit seine Gelassenheit auch ein wenig auf sie überging. Doch während er versuchte, die Frau in seinen Armen zu trösten, tauschte er nicht nur mit Jorunn einen offenen Blick. Auch Rollos stumme Musterung erwiderte er ernst.
"Ich werde dich nicht mehr aus den Augen lassen, solange wir noch in Straumfjorður sind", flüsterte er Rúna leise zu. "Es war ein großer Fehler von mir, dich als Botin gestern zu Ragnar zu schicken." Er schluckte und vergrub sein Gesicht in Rúnas offenem, zerzausten Haar. Ihr Geruch stieg zu ihm auf und dieser Duft war so vertraut, dass er sein Gesicht auf ihrem Kopf ruhen ließ.
"Es tut mir so leid!", versicherte er ihr. "Ich hätte es wissen müssen …"
Jorunn trat zu ihnen und auch Rollo kam einen Schritt näher. "Ich werde ebenfalls für dich da sein", versicherte die Heilerin ihrer Schülerin. "Wenn ihr diesen Winter nicht auf den Hof zurückkommt, weil es Thorstein, wie ich befürchte, noch nicht gut genug für diesen einsamen Ort geht, werde ich dich vor der ganzen Siedlung unter meinen persönlichen Schutz stellen." Sie schnaufte. "Das hätte ich längst tun sollen, doch ich hielt es nicht für nötig …" Traurig betrachtete sie das eng umschlungene Paar. "Auch mir tut es leid, Rúna, dass ich die Gefahr nicht gesehen habe, der ich dich hier ausgesetzt habe …"
Rollo trat nun dicht hinter Thorstein. "Rúna hat mir von euren Plänen erzählt", ließ er den Mann wissen, den er mehr und mehr als Freund sah. "So, wie du nun hier sitzt, nehme ich mal an, du bleibst dabei?"
Erstaunt wandte Thorstein den Kopf, um Rollo anzusehen. Was ging es den Bruder des Jarl an, dass er seine Frau liebte? Doch dann sah er die Ernsthaftigkeit im Blick des Mannes. Es war sinnlos, ihm auszuweichen.
"Ich liebe Rúna", versicherte er dem Krieger. "Und ich werde mich jedem entgegenstellen, der ihr noch einmal zu nahe kommt. Sie ist meine Gefährtin!"
Erstaunt sah Thorstein, dass Rollo zustimmend nickte. "Wenn das so ist, dann werde ich dich bei dieser Aufgabe unterstützen, so wie du mir in jedem vergangenen Kampf zur Seite gestanden hast. Und ich möchte diesen neuen Bund zwischen uns mit einem kleinen Geschenk besiegeln, wenn du einverstanden bist."
Sprachlos starrte der Steuermann den sonst so ruppigen Krieger nach dessen Worten an. Es dauerte eine ganze Weile, bis er zumindest ein zustimmendes Nicken zustande brachte.
Doch die kleine Geste reichte Rollo völlig. Entschlossen trat er vor Jorunn und nahm ihr das kleine Bündel, im dem Solvig schlief, aus dem Arm. Dann sah er dem kleinen Mädchen noch einmal in das friedliche Gesicht und legte es dann zwischen Rúna und Thorstein auf das Lager.
"Ich weiß, dass du die Menschen ein wenig anders siehst als es gemeinhin üblich ist, meine Freund", ließ er dann den erstaunten Thorstein wissen. "Und auch, wenn ich mich ungern gegen unsere Sitten stelle, werde ich es heute einmal für euch tun." Der Bruder des Jarl, der auch gleichzeitig eigentlich der Zweite Mann der Siedlung hätte sein sollen, es aber dennoch nicht war, richtete sich würdevoll auf. Mit einem Blick auf Jorunn, die ebenso wie er ihren Platz außerhalb der Hierarchie hatte, nahm er eine ernste Miene an.
"Dieses Kind, Thorstein, diese freie Waise aus meinem Haus, gebe ich, ohne eine Gegenleistung zu erwarten, in eure Obhut - in deine Obhut Thorstein und in deine Obhut, Rúna. Und damit aus all dem Unrecht hier nun doch noch etwas Gutes werden kann, verpflichte ich mich, sie ebenso als mein Mündel zu betrachten."
Die Würde des Mannes bröckelte ein wenig, als er sich nun an Jorunn wandte. "Ich wollte wirklich nicht, dass Solvig stirbt, nicht auf eine so schmerzhafte und gnadenlose Weise." Er schluckte. "Doch als der Brand ausbrach, glaubte ich nicht, dass er bis zu dieser Scheune gelangen könnte. Und als ich sie dann hätte befreien müssen, war ich so darauf bedacht, Ragnar und seinen Männern zu helfen, dass ich es, Odin möge mir vergeben, wirklich vergessen habe. Also lasst es mich an ihrem Kind irgendwie wiedergutmachen."
Noch einmal drückte er Thorstein aufmunternd die Schulter. Dann wandte er sich ab. "Ich lasse euch ein wenig allein", erklärte er leise. "Ich denke, das braucht ihr jetzt." Und er brauchte es auch. Dieser Tag war so verrückt, so unglaublich, dass er selbst einen harten Krieger wie ihn zu einem planlosen, verweichlichten Wesen voller unnützer Empfindungen machen konnte.