Irgendwann im Januar 2010
Es ist absolut dunkel in meinem Zimmer und es geht kein Lüftchen, unsere Rollos sind einfach großartig und ich liege auf meiner Matratze. Vor ein paar Wochen ist mein Bett kaputt gegangen, wie ich es beinahe mit jedem Bett geschafft habe. Dunkle Gedanken begleiten mich. Ich frage mich, was genau an mir so verkehrt ist. Warum zum Beispiel meine Exfreundin, wenn ich sie überhaupt so nennen darf, mich so sehr verarscht hat. Meine erste Beziehung und alles ist mir so peinlich, dass ich mich noch nicht einmal traue mit irgendwem darüber zu reden, und so brüte ich über dem Schmerz, vielleicht solange bis er mich zerfrisst. Ich liege in meinem Bett und hoffe, dass ich einschlafe. Da blinkt mein Handy auf. „Kommst du on?“, steht in einer SMS von meinem besten Freund. Ich seufzte noch einmal aus, stehe dann aber auf und gehe zu meinem Schreibtisch, dort schalte ich sowohl die Schreibtischlampe als auch den Laptop an. Ich seufze schwer und als der Computer hochgefahren ist, kontrolliere ich erst einmal in der Webcam meine Frisur. Als wäre das nötig. Meine schwarzen Haare, die etwa bis auf ohrenlänge gehen, sind immer unordentlich und ein bisschen, dass muss ich zugeben ist es vielleicht auch gewollt und ein noch ein winzigeres kleines bisschen wirke ich mit der Frisur vielleicht wie ein Emo.
Ich klicke auf den MSN-Messenger Button, schalte gleichzeitig ICQ und Skype und warte. Sogleich werde ich bombardiert.
Meine Freunde schreiben:
Valentina: Pauuuuuuuuuuuuuuulin <3 <3
Sebastian: hey
Und dann fängt es an aus dem Computer herauszuklingen. Ich wurde in einen Gruppenchat eingeladen und werde dazu aufgefordert meine Webcam einzuschalten. Lächelnd stimme ich zu.
„Hey!“, ruft Valentina. „Moin,“ sage ich und dann beginnt eine quirlige Runde in der ich und meine besten Freunde uns alle miteinander unterhalten, und in der ich mich gut fühle. Gleichzeitig chatte ich noch mit vier verschiedenen Leuten, die ich alle aus dem Internet kenne. Es ist nicht so, dass ich die Mädchen, die ich dort kennenlerne alle als potenziale Partnerinnen sehe, mit einigen ist es bloß nett zu chatten und irgendwie hole ich mir vielleicht ein wenig Selbstvertrauen, denn ich bekomme immer wieder gesagt wie gut ich aussehe. Valentina fragt, ob sie am Wochenende zu mir kommen soll, damit wir uns Filme ansehen können. Ich weiß schon, dass wir vermutlich hauptsächlich über ihren Draht zu Sebastian reden werden, willige aber ein. Dann höre ich aus dem Flur, wie jemand die Haustüre aufschließt. „Ich bin kurz mal weg,“ sage ich und deaktiviere die Kamera.
Da ist Mama. In den letzten Wochen streiten wir oft und vielleicht ist das der Grund, aus dem ich ihr ein wenig angespannt entgegentrete. Ich gehe im Kopf durch, ob ich irgendeine Aufgabe vergessen habe zu erledigen, stelle aber erleichtert fest, dass nichts anstand. Ich öffne also die Türe und begrüße sie lächelnd. Meine Mutter ist eine große, blonde Frau und immer gut angezogen. In meinen Augen ist sie perfekt, ich liebe und schätze sie sehr. Vor ein paar Jahren, hat sie alles für uns getan. Sie hat gemerkt, dass es mit meinem Vater nicht mehr auszuhalten ist und da hat sie für uns eine Wohnung organisiert und ernährt uns seitdem alleine, weil mein Vater sich zu fein ist Unterhalt zu zahlen. Sie arbeitet schon immer sehr hart und ist wohl die beste in ihrem Job, oft ist sie bis abends um sechs weg. Sie gibt sich aber Mühe und macht an manchen Tagen Home-Office um bei uns zu sein. Gut oft ist sie eher bei unserer Nachbarin und feiert dort, aber wenn ich nicht zu schüchtern wäre um dazu zukommen, könnte ich viel Zeit mit ihr verbringen. Deshalb macht es mich traurig, dass wir uns zurzeit oft streiten. „Hallo,“ sagt sie etwas gestresst. Sie trägt Einkäufe rein und hievt sie unbeholfen auf den Küchentisch. „Soll ich dir helfen?“, frage ich, sie schüttelt den Kopf. „Nein du weißt eh nicht wo alles hinkommt.“ Ich nicke und drehe mich um, um zurück ins Zimmer zu gehen. Ich blicke auf das MSN Fenster mit meinen Freunden und bemerke, dass Valentina und Sebastian sich verabschiedet haben, sind wohl beide beim Essen. Also klicke ich mich durch die Snoppy Community, ein Portal für überwiegend junge Leute. Man hat eine persönliche Seite, auf der man etwas über sich schreiben und Fotos veröffentlichen kann, außerdem hat jeder dort ein Gästebuch.
Ich bekomme eine Push-Benachrichtigung darüber, dass mir jemand einen Eintrag in mein Gästebuch geschrieben hat. Ich klicke ihn an und bemerke, dass es jemand mit dem Username: TimeToPretend17 ist, der Beitrag ist ein riesiges GIF in glitzernden, lilafarbenen Buchstaben: „HDL“. Ich kenne TimeToPretend17 allerdings nicht, sie kann mich also auch nicht liebhaben. Interessiert klicke ich ihr Profil an. TimeToPretend17 ist ein Mädchen von siebzehn Jahren. Sie hat schulterlanges rot gefärbtes Haar, dass sie leicht toupiert trägt, dazu einen schrägen Pony und ihre blass grauen Augen sind schwarz umrandet. Ich muss mir eingestehen, dass sie mir gefällt, deshalb schreibe ich ihr eine Nachricht.
Paulin1993: Kenne ich dich?
Ich klicke noch einmal auf ihr Profil, im Moment ist sie nicht online, also erwarte ich sobald keine Antwort. Valentina und Sebastian sind auch nicht online, also klicke ich ein wenig rum. Schaue mir die Leute an, die in TimeToPretend17s Gästebuch etwas geschrieben haben und aus der Küche höre ich meine Mutter fluchen: „Nie hilft mir jemand, immer muss ich alles alleine machen.“ Mein Bauch zieht sich ein wenig zusammen. Ich habe ihr doch Hilfe angeboten? Was soll ich jetzt tun? Ich schlucke, versuche mich auf den Computer zu konzentrieren. Wenn ich sie ansprechen würde, würde sie mich nur noch mehr anmeckern, wir würden uns erneut streiten und das ist etwas, dass ich verhindern möchte. „Paulin? Kommst du mal Bitte?“, ertönt es dann. „Ja Moment!“, rufe ich und scrolle noch ein Letztes Mal über das Profil eines Mikel19s der öfter einmal auf dem Profil von TimeToPretend17 etwas hinterlässt. „Nein, jetzt.“ Der Ton in Mamas Stimme wird scharf und ich weiß, dass wir uns streiten werden. Trotzig erscheine ich in der Küche. „Ja?“, sage ich, mein Ton ist schnippisch. „Warum, stellst du deinen Teller nicht in die Spülmaschine?“ Ich muss mir ein Seufzen verkneifen. „Die lief noch, als ich zur Schule gehen wollte.“ „Dann hättest du sie ja ausräumen können, als du aus der Schule kamst?“ Beim Sprechen öffne ich kaum mehr den Mund, meine Stimme gleicht einem Zischen „Weil ich dann nicht mehr daran gedacht habe.“ „Aber du musst doch gesehen haben, dass die Spülmaschine fertig ist. Warum hast du sie nicht ausgeräumt?“ „Es ist mir nicht aufgefallen.“ „Das kann ich mir nicht vorstellen, du warst sicherlich einfach wieder zu faul, so wie immer.“ „Soll ich sie jetzt ausräumen?“ Sie dreht sich um. „Nein, das habe ich jetzt schon getan. Wie immer.“ Ich merke ihrer Stimme an, dass sie sauer ist, allerdings weiß ich auch nicht, was ich tun soll, wenn sie so ist. Ich bin so unaufmerksam, aber ich wollt einfach nur noch ins Bett, als ich ankam. Ich kann nicht mehr viel sagen, weil sie anfängt auf mich einzureden. Sie sagt, wie hart ihr Tag gewesen ist und dass sie alles für uns gemacht hat, und all das weiß ich. Und ich schätze es. Im Moment spuken mir viele Dinge durch den Kopf, doch die kann ich ihr nicht erzählen. Würde sie sie hören wollen? Meine Gedanken drehen sich, ich bin durcheinander und als Mama zur Ruhe kommt sagt sie, dass ihr neuer Freund uns nächste Woche besuchen wird. Alles was ich antworte ist: „Aha,“ und ich weiß, dass es sie fertig machen wird, ich weiß, dass sie wütend wird und trotzdem kann ich nicht anders. „Er möchte euch endlich kennenlerne, ich denke es wird ernst.“ „Aha.“ Sie setzt sich auf den Küchenstuhl und zündet eine Zigarette an. „Paulin, ich möchte, dass du mir zuhörst. Das ist mir wichtig.“ „Aha.“ Zum Glück geht in diesem Moment die Haustüre auf. Mein Bruder Mathis kommt rein. Man merkt wie dieses Gespräch sogleich an Spannung verliert. „Heeeey!“, ruft er und stapft in sein Zimmer um dort seine Tasche abzuwerfen, dann kommt er in die Küche und wirft sich auf den Stuhl gegenüber von Mama. „Was haltet ihr davon, wenn wir gleich bei Luigis Pizza bestellen?“, schlägt diese vor und wir beiden nicken. Eine Stunde später sitzen wir am Küchentisch und essen. Mama isst Pizzabrötchen mit Aioli, Mathis eine Pizza Margherita und ich vegetarischen Nudelauflauf. Man hört keinen Mucks und Mama hat wie immer eine Flasche Wein dazu bekommen. Luigis Pizza liegt eigentlich nur 700 Meter entfernt, aber trotzdem sind sie immer erst nach einer Stunde da, und dann bekommt man zur Entschädigung eine Flasche Wein und das ist gut, denn Meine Mutter hat eine komplizierte Nahrungsmittelunverträglichkeit und kann deshalb keine Schokolade essen, so sagt sie. Deshalb ist ein Glas trockener Rotwein für sie wie diese Schokolade. Wir bestellen oft bei Luigis Pizza, fast jeden Tag. Ich wundere mich manchmal, wie wir uns das leisten können, denn eigentlich haben wir nicht viel Geld, aber Mama hat das schon im Blick. „Ich fahre ab Morgen nach Aachen zu Alexander und mache da Home Office,“ sagt sie plötzlich in die Stille hinein, dabei hält sie ihr Handy in der Hand. „Okay,“ antwortet Mathis. „Ich lasse euch hundert Euro zum Einkaufen da.“ Das macht sie in den letzten Monaten auch immer häufiger. Seitdem sie mit Alexander zusammen ist. „Jetzt gleich gehe ich zu dem Claudia hoch.“ Claudia ist unsere Nachbarin, sie wohnen auch in unserem Haus und Mama ist sehr gut mit ihnen befreundet, abends hören sie gerne zusammen Schlager Musik und singen dabei laut. Manchmal ist sie danach betrunken, dann sitzt sie hinterher in der Küche und singt mit Kopfhörern auf den Ohren total schief, man hört es sogar aus dem Hausflur heraus. Das Haus in dem wir wohnen ist ein Mehrfamilienhaus, darin gibt es sieben Wohnungen. Wir wohnen im Erdgeschoss. Jeder hat sein eigenes Zimmer, was vorher als wir mit Papa zusammen gewohnt haben nicht so gewesen ist. Mathis und ich mussten uns ein Zimmer teilen, und es ist großartig, dass ich jetzt alleine sein kann, denn ich bin gerne allein. Nur manchmal macht mich mein Kopf auch fertig, deshalb bin ich froh, dass es das Internet gibt, deshalb setze ich mich, als Mama sich verabschiedet gleich wieder an den Laptop. Valentina und Sebastian sind auch wieder online, aber diesmal chatten wir lediglich miteinander. Ich öffne im Browser die Snoppy Community und bemerke gleich, dass TimeToPretend17 mir geschrieben hat.
TimeToPretend17: tut mir leid. wollte nur etwas ausprobieren
Paulin1993: schade
TimeToPretend17: why?
Paulin1993: Du siehst interessant aus. Ich hätte dich gerne kennengelernt.
TimeToPrentend17: jetzt sehe ich gerade dass ich dich auch gerne kennenlernen würde. Also wie heißt du?
Paulin1993: Wie der Name schon sagt – Paulin und du?
TimeToPretend17: paulin? Das hab ich noch nie gehört. Ich heiße marie.
Paulin1993: ja, es ist eher ein französischer Name, da bin ich geboren. Schön dich kennenzulernen Marie. Was sind deine Hobbies?
So fange ich an, eine ganze Weile mit Marie zuschreiben. Ich stelle fest, dass sie ein intelligentes Mädchen ist, dass gerade in der 12. Klasse ist. Sie möchte später Philosophie studieren, und das ist ihr auch gleich anzumerken. Die Unterhaltungen mit ihr, zeigen mir wie intelligent sie ist und ich muss zugeben, dass ich anfange sie wirklich interessant zu finden.