Sie konnte es nicht verstehen. Wieso hatte Malfoy sie nicht an den Werwolf verkauft? Dachte er wirklich, er könne ihren Körper gewinnbringender an den Mann bringen? Auch wenn sie einst – genau genommen vor gar nicht allzu langer Zeit – zusammen mit Ron und Harry die größte Bedrohung für Voldemort dargestellt hatte … jetzt war sie nicht mehr als irgendein Schlammblut! Sie war nie sonderlich attraktiv gewesen und jetzt erst Recht nicht mehr – welcher Todesser sollte für sie zahlen?
Hermine drehte sich auf ihrer Matratze um und ließ den Abend Revue passieren. Sie wusste, dass sie froh sein sollte, dass außer dem Zwischenfall mit dem Werwolf nicht mehr passiert war. Und doch – was sie wirklich verunsicherte, war, was außerhalb des Zimmers geschehen war. Was hatte Snape mit seinem Gespräch bezwecken wollen? Wieso brachte Malfoy jr. ihr so einen Hass entgegen? Vor allem: Wie ernst waren seine Drohungen zu nehmen?
Plötzlich war Hermine hellwach. Wie hatte sie seine Drohungen vergessen können? Konnte sie es wagen, einfach seelenruhig einzuschlafen? Mit klopfendem Herzen lauschte sie in die Dunkelheit, doch nichts war zu hören.
„Das geht nicht!“, sagte Hermine leise zu sich selbst, „ich kann nicht jede Nacht aus Angst vor Draco Malfoy wach liegen! Ich muss gesund und stark bleiben, wenn ich jemals eine Flucht riskieren will!“
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„Leere Worte, wie immer“, dachte sie sich. Seit beinah zwei Wochen hatte sie nun schon nichts mehr von Draco Malfoy gesehen. Eigentlich hatte sie in dieser Zeit außer dem Hausherren überhaupt keinen Menschen zu Gesicht bekommen. Offenbar hatten sich Frau und Sohn dazu entschlossen, der Schlammblut-Sklavin aus dem Weg zu gehen. Keine einzige Nacht war sie gestört worden.
„Hast du mich vermisst, Schlammblut?“
Die Stimme, die sanft und leise von der Küchentür an Hermines Ohr drang, jagte ihr einen kalten Schauer über den Rücken. Sie wusste nur zu gut, wem sie gehörte.
„Du solltest dich umdrehen, wenn dein Herr mit dir redet!“, fuhr Malfoy jr. fort. Beinah neckend fügte er hinzu: „Da ist man mal zwei Wochen weg, schon lässt das Benehmen der Sklaven nach.“
Mit großen Augen drehte sich Hermine um: „Weg?“
„Ja, weg. Meine Mutter und ich haben eine kleine Städtereise auf dem Festland gemacht. Sag bloß, unsere Abwesenheit ist dir entgangen?“
Der neckende, ja beinahe spielerische Tonfall von Malfoy verunsicherte Hermine zutiefst. Sie spürte, wie sich Panik in ihr breit machte, schneller, als es jede Schärfe in seiner Stimme vermocht hätte.
„Hast du dann etwa auch unser letztes Gespräch vergessen?“, fragte er, während er mit einem breiten Lächeln auf sie zuging. Unfähig zu einer Reaktion starrte Hermine ihn nur mit angstgeweiteten Augen an.
„Ahh, ich verstehe!“, meinte Draco und sein Lächeln wurde noch breiter, „du dachtest, ich hätte meine eigenen Worte vergessen.“
Er trat direkt vor sie, packte ihre Haare und riss ihren Kopf gewaltsam zur Seite. Das Lächeln war jetzt vom gewohnten Hass vertrieben, als er ihr fast unhörbar ins Ohr flüsterte: „Glaube mir, das habe ich nicht.“
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Woher kam nur dieser Hass? Hermine konnte es nicht verstehen. Sicher, zu Schulzeiten hatte er ihr auch schon Hass entgegen gebracht, aber das hatte sie auf seine Verachtung für Schlammblüter und den Neid auf ihre guten Noten geschoben. Doch jetzt? Sie war Sklavin, sie war dort, wo sie seiner Meinung nach hingehörte. Warum also war da noch immer dieser Hass, dieser Ausdruck, als hätte sie Schuld an irgendeiner persönlichen Misere von ihm?
Bisher hatte er ihr nicht wirklich etwas getan, doch sie war sich sicher, dass seine Drohungen nicht leer waren. Sie war froh gewesen, dass Lucius Malfoy plötzlich in der Küche aufgetaucht war, offenbar auf der Suche nach seinem Sohn, der nicht zum allsonntäglichen Frühstück erschienen war. Es war beinah zum Lachen, dass sie sich hier, neben dem Stuhl von Malfoy sr., sicherer als anderswo im Haus fühlte. In den letzten zwei Wochen hatte er sich ihr weder sexuell genähert noch ihr auf andere Weise Angst gemacht.
„Granger, mein Kaffee!“, riss da die Stimme eben jenen Malfoys sie aus ihren Gedanken. Hermine schalt sich innerlich – wenn Lucius Malfoy eines hasste, dann war es eine leere Kaffeetasse am Frühstückstisch. Rasch griff sie nach dem Kännchen mit Milch, füllte einen Schluck in die leere Tasse und goss anschließend den heißen Kaffee hinzu. Zu ihrer Überraschung schenkte der Hausherr ihr ein Lächeln, fast unmerklich zwar, aber für sie deutlich erkennbar.
Auch seine frau und sein Sohn hatten das Lächeln bemerkt, und als Lucius Malfoy dann einen genüsslichen Schluck nahm und dabei seiner Frau direkt in die Augen schaute, verfinsterte sich deren Gesicht. Wortlos, aber mit kaum gezügelter Wut in den Augen, erhob Narzissa sich vom Tisch und verließ den Raum.
„Meine Frau hat nie gelernt, dass ich erst die Milch und dann den Kaffee eingeschenkt haben will“, kommentierte Malfoy senior und nahm einen weiteren Schluck.
„Ja, ganz toll, Vater“, entfuhr es Draco, „ganz toll, wie du das Schlammblut nutzt, um deine Frau zu beschämen. Du bist so peinlich …“
„Draco!“, herrschte sein Vater ihn an, „ich erlaube nicht, dass du in diesem Tonfall mit mir redest! Du darfst es deiner Mutter gleich tun und dich entfernen!“
Seine Hände zu Fäusten geballt und mit kalter Mordlust in den Augen stand er auf, warf Hermine einen vielsagenden Blick zu und verließ ebenfalls den Raum.
„Ahh, endlich Ruhe“, seufzte der alte Malfoy“, ich hasse diese Unruhe und schlechte Laune am frühen Morgen!“
Der kurze Streit der Familie lag Hermine schwer im Magen, denn sie wusste, dass Sohn und Frau des Hauses ihr die Schuld geben und die Wut an ihr auslassen würden.
„Granger, sei so lieb, öffne das Fenster, da kommt Bernadette mit dem Tagespropheten!“
Mit einem Nicken folgte sie dem Befehl. Während sie zum Fenster ging, fragte Hermine sich, ob der alte Malfoy sich bewusst war, dass seine zuvorkommende Art sie in Schwierigkeiten brachte. Sie wurde das Gefühl nicht los, dass er das absichtlich machte. Vorsichtig öffnete sie das große, altehrwürdige Fenster des Speisesaals und ließ die prächtige, schneeweiße Familieneule ein. Ein leises Gurren übermittelte den Dank, ehe die Eule zu ihrem Besitzer flatterte und mit so viel Grazie, wie eine Eule eben besaß, die Zeitung neben ihm auf den Tisch ablegte.
„Danke, Bernadette“, murmelte Lucius Malfoy geistesabwesend, während er das Gefieder des schönen Tieres mit einer Hand streichelte und mit der anderen die Schlagzeile des Tages begutachtete.
„Wie es scheint, hat der Lord erste Erfolge in Russland zu verzeichnen“, sagte er nach einem kurzen Augenblick, „lange genug gedauert hat es ja.“
Hermine konnte sehen, wie die Augen ihres Herren die Zeilen überflogen, wie sich sein Gesicht dabei unmerklich verfinsterte und die Hand, die eben noch die Eule gestreichelt hatte, vergessen in der Luft hing. War die Meldung etwa doch nicht so positiv? War in Russland etwas vorgefallen, was die Todesser zurückgeworfen hatte?
„Offenbar konnte er ein Nest von rebellischen Zauberern ausfindig machen … und auslöschen. Sie waren laut diesem Artikel Schuld daran, dass seine Bemühungen nicht recht voran kommen wollten in den letzten Wochen“, fuhr er fort.
„Das sind doch gute Neuigkeiten, oder nicht?“, fragte Hermine mit schlecht gespielter Begeisterung in der Stimme. Noch immer konnte sie nicht recht ausmachen, warum der Artikel so einen negativen Eindruck auf den Hausherren gemacht hatte.
„Findest du, ja?“, kam die Frage zurück, „Du musst dich nicht verstellen, Granger, es glaubt dir eh keiner, dass du dich für die Sache des Dunklen Lords begeistern könntest … oder hast du plötzlich deine Ansichten geändert?“
Ein misstrauischer Ausdruck war in seine Augen getreten, und wieder konnte Hermine nicht einordnen, was dieses Misstrauen ausgelöst hatte. Natürlich hatte sie ihre Ansichten nicht geändert und natürlich wusste er das, wieso sollte er ihr also misstrauen, wenn er so klar wusste, woran er ist? Glaubte er, sie würde versuchen, die Überläuferin zu spielen, um ihm dann in den Rücken zu fallen? Er sollte besser wissen, dass das für sie nicht in Frage kam. Warum also dieses Misstrauen?
„Nein, Herr“, erwiderte sie mit leiser Stimme, „selbst wenn die Sache mich überzeugen würde – was sie nicht tut – so wäre ich niemals in der Lage, einem Mann gegenüber loyal zu sein, der meinen besten Freund getötet und viele andere Freunde und geliebte Menschen in die Sklaverei gezwungen hat …“
„Das klingt schon eher nach der Gryffindor, die ich erwartet habe“, kommentiere Malfoy, „niemals aufgeben, immer für das Gute, das Richtige einstehen, keine Niederlage akzeptieren. Nicht wahr, so seid ihr doch, ihr Löwen, oder?“
Der Tonfall war plötzlich schärfer geworden und Hermine war sich nicht sicher, ob die Charakterisierung, die sie als so positiv, gar als Lob empfand, von ihm nicht als Beleidigung gemeint war.
„Richtig. Ich werde niemals aufhören zu glauben, dass Voldemort eines Tages besiegt wird und die Welt wieder so sein kann, wie sie sein sollte!“, erklärte sie mit fester Stimme, bemüht, sich die eigene Unsicherheit und Verwirrung über das Gespräch nicht anmerken zu lassen.
„Glauben?“, schnaubte Lucius Malfoy, „du glaubst daran? Hast du jemals gesehen, dass Glaube irgendwas bewegt? Wenn du nicht handelst, ändert sich nichts. Wer abwartet und denkt, die Zeit wird’s schon richten, ist ein Narr. Meinst du, der Dunkle Lord wäre heute da, wo er ist, wenn er nur geglaubt und nicht gehandelt hätte?“
Irritiert und verärgert kniff Hermine die Augen zusammen: „Was wollt Ihr damit sagen? Was erwartet Ihr? Ich bin Eure Sklavin, schon vergessen? Erwartet Ihr, dass ich Euch meine Pläne offenbare, dass ich Euch gegenüber zugebe, dass ich überhaupt welche hätte? Ihr macht Euch keine Vorstellung davon, was meine derzeitige Lage für mich bedeutet … und Ihr seid schuld daran!“
Ärger blitzte in den Augen des älteren Zauberers auf und mit einem Ruck erhob er sich von seinem Stuhl. Hermine, die direkt neben seinem Platz gestanden hatte, bemerkte jetzt mehr als je zuvor, wie viel größer dieser Mann war. Nicht nur der Zauberer Lucius Malfoy, sondern auch der Mann war mächtiger als sie und sie tat vermutlich besser daran, ihn nicht zu reizen.
Er baute sich vor ihr auf, beide Arme auf die Tischplatte gestützt, und zwang sie damit, bis an die Kante zurückzuweichen. Gefangen zwischen dem Tisch und der hohen Gestalt des Mannes fehlte ihr plötzlich der Mut, ihm Widerworte entgegen zu werfen.
„Ich bin schuld, Schlammblut?“, zischte er, „Ich? Du hast dich fangen lassen, du und deine kleinen, dämlichen Freunde. Die einzige Schuld, die ich trage, wenn du so willst, ist es, auf der Gewinnerseite zu stehen. Und das hat nichts mit Schuld zu tun, sondern mit Klugheit.“
Unerwartet flackerte ihr Temperament wieder auf und ließ sie Worte sagen, ehe sie sich selbst daran hindern konnte: „Klugheit, ja? Ich würde es eher Feigheit nennen … oder Machtgeilheit. Kaum war Euer Herr damals gefallen, seid ihr angekrochen gekommen und habt Euch beim Ministerium eingeschmeichelt. Und kaum war er zurück, seid Ihr wieder vor ihm in den Staub gefallen. Das ist eine Art von Klugheit, die ich sicher nie verstehen werde!“
Kaum hatte sie die Worte gesagt, bereute sie es bereits wieder. Sie war gut gefahren die letzten Wochen mit ihrer unterwürfigen, höflichen Art, ihr Herr hatte ihr nichts getan und sie beinah menschlich behandelt. Doch ihre Worte jetzt würden gewiss nicht unbestraft bleiben. Dennoch – sie waren gesagt, sie drückten aus, was sie dachte, und Hermine war zu stolz, jetzt klein beizugeben. Ohne mit der Wimper zu zucken erwiderte sie den harten Blick der blauen Augen.
Plötzlich, von einem Wimpernschlag zum nächsten, änderte sich der Ausdruck in Malfoys Gesicht. Das wortlose Starren dauerte an, doch seine Augen waren weicher. Hermine meinte, so etwas wie Erleichterung darin lesen zu könne. Verwirrt flackerte ihr Blick kurz auf den Boden und so entging ihr, wie die Augen ihres Herrn auf ihre Lippen fielen. Ehe sie den Mut aufbringen konnte, den Blick wieder zu heben, wurde der stumme Blickkontakt durch eine Stimme unterbrochen.
„Na, Lucius, müssen wir schon so früh am Morgen unsere Sklavin maßregeln?“