Ich lag richtig. Wenige Tage vergingen und ich fühlte mich in der Gesellschaft der Jungs, sowie in der von Caitlin, ziemlich wohl. Was ich nicht ahnte und nicht wissen konnte, war, dass die Jungs sich allmählich sorgten. Genau darum ging es in dem Gespräch, das sie nun führten, als sie alleine waren, während Caitlin und ich im Einkaufszentrum bummelten.
Kai hatte sich vorgenommen, mir gegenüber abweisend zu sein. Er wunderte sich aber darüber, wie schnell ich mich an viele Dinge und Gespräche erinnern konnte. Insgeheim freute er sich sehr darüber, obwohl viele Streits zwischen ihm und mir dabei gewesen waren.
Während er sich darüber Gedanken machte, bekam Luk langsam ein schlechtes Gewissen.
„Diese ganze Sache mit dem Lügen, was ihre Mutter angeht“, begann er. „Ich fühle mich nicht mehr wohl dabei. Sie hat sich an so vieles erinnert und es war Glück für uns, dass bisher nichts darauf schließen ließ, dass sie bei Kai und Ray wohnt. Es ist doch nur eine Frage der Zeit, bis ihr die ersten Streits mit ihrer Mutter wieder einfallen.“
„Man hat immer mal Streit mit seiner Mutter“, wehrte Van diese Theorie ab. „Das kommt mal vor. Sie wird schon nicht direkt daraus schließen, dass sie nicht mehr dort wohnt.“
Jess lachte abfällig.
„Du machst es dir ja sehr einfach.“ Er klang kühl.
„Mach dir keinen Kopf, Jess“, bemerkte Kai. „Es werden nicht wir zwei sein, die dafür gehasst werden. Ihr werdet schon sehen, was ihr davon habt, Van. Ich weiß nur, dass Douphne heute Abend vorbeikommt und ich immer noch den Standpunkt vertrete, ihr die Wahrheit zu sagen. Und ich habe wirklich keine Lust mehr, hier mit hereingezogen zu werden.“
Mit den Worten stand er auf und ließ die Jungs alleine im Café sitzen.
„Bis jetzt kam da doch nichts von Douphnes Seite aus, oder?“ Van war leicht verunsichert und wandte sich an Ray.
Dieser schüttelte den Kopf. „Ich werde heute Abend aber nicht da sein.“
„Schmeißt Kai dich heute Abend raus, um es ihr zu sagen?“ Van war verwundert.
„Nein.“ Ray schüttelte den Kopf. „Es ist Douphne, die mich rauswirft. Sie will mit Kai alleine sein. Sie findet, dass er wenig mit ihr redet und sie weiß nicht, wie sie sich an die guten Zeiten mit ihm erinnern soll, wenn sie keine Gelegenheit dazu hat. Deshalb will sie heute Abend mit ihm reden und hofft auf neue Erinnerungen, die ihr zeigen könnten, dass die beiden befreundet sind.“
„Kai wird es ihr sagen“, grummelte Van.
„Früher oder später wird er das tun“, stimmte Jess ebenso kühl, wie Kai noch eben war, zu.
„Vielleicht wäre es besser so“, bemerkte Luk leise.
Sofort starrte Van ihn entsetzt an, doch bevor er protestieren konnte, kam Luk ihm zuvor.
„Sieh‘ mich nicht so an! Am Anfang fand ich, dass es richtig wäre. Doch Douphne und ich haben uns nie angelogen. Sie konnte sich immer darauf verlassen, dass ich zu ihr gehalten habe und für sie da war. Ich kann sie nicht belügen.“
Jess lächelte knapp.
„Hast du nicht noch ein Date mit Caitlin?“ Freundlichkeit lag in seiner Stimme. „Geh nach Hause und zieh dich um. Wir regeln das hier schon alleine.“
Luk nickte und stand auf.
„Überleg' es dir“, kam es von Van, doch Luk beachtete ihn nicht weiter und ging.
„Ich würde darüber nachdenken, was du tust, Van.“ Jess sah ihn an. „Denn es kann sein, dass sie dich schon morgen hassen wird.“
„Ich will doch nur das Beste für sie!“
„Nur leider weißt du nicht, was das Beste für sie ist.“
„Willst du, dass sie weiter ohne Mutter aufwächst?“ Van wurde ungehalten und stand wütend auf.
„Alles was sie braucht, sind wir“, herrschte Jess ihn an.
„Ist das dein Plan gewesen?“ Van starrte ihn an. „Oder ist er es immer noch? Dass du Douphnes Familie zerstörst?“
„Ihre Familie war doch noch nie in Ordnung!“ Jess stand nun wutentbrannt vor Van und funkelte ihn böse an. „Ihre Mutter hat `ne Macke und ihr Großvater ist fast nie da! Welche Familie, Van? Wir sind ihre Familie, allen voran Kai und Ray! Und wir lieben sie, oder etwa nicht? Ihr liebt sie doch! Wollt ihr das wirklich durchziehen und mir im selben Satz noch immer meinen ach so geheimnisvollen, bösartigen Plan vorhalten?“
„Ist euch eigentlich klar, was wir hier machen?“ Die Frage kam von Ray. „Wir sitzen hier und diskutieren darüber, was besser für Douphne wäre. Dabei können wir es gar nicht bestimmen. Sie muss selber wissen, was sie will.“
„Ja, nur kann sie es uns leider nicht sagen, weil sie sich nicht erinnern kann, nicht wahr?“ Van seufzte.
Während die Jungs weiterstritten, war ich schon längst nicht mehr mit Caitlin unterwegs, doch ich war auch noch nicht bei Kai. Ich schlenderte alleine durch Spellington und mein Weg brachte mich zur Kirche.
Als ich dort stand und zum Balkon hochblickte, trat ein kleiner, alter Mann an meine Seite.
„Daphne-San.“
Ich blickte ihn an und da kam es wie ein Geistesblitz.
„Was tun Mädchen da?“
Erschrocken drehte ich mich um und so viel Todesangst hatte ich wohl noch nie in einem so kurzen Augenblick gespürt. Ich saß mit den Beinen im Freien und als ich mich umdrehte, rutschte ich vom Geländer. Eine alte, faltige Hand schnellte zu meiner, griff zu und zog mich zurück ins Innere des Balkons, bevor ich fiel.
„Ich mich entschuldigen.“ Ich sah einen kleinen Mann mit weißen Haaren, einem freundlichen Gesicht und er lächelte mich an. „Ich seien Noyagi.“
Zuerst starrte ich ihn sprachlos an, dann fand ich meine Manieren wieder.
„Douphne.“ Ich gab ihm die Hand und dabei fiel mein Blick auf meine Uhr. Ich war spät dran. „Es tut mir sehr leid, Mr. Noyagi. Ich muss jetzt weg. Morgen ist das Schulfest der Spellington-High.“
Ich ließ den alten Mann stehen, ohne mir Gedanken über sein Auftauchen zu machen und eilte zur Aula.
„Mr. Noyagi“, erwiderte ich fast lautlos.
„Du erinnern dich?“
„Ich … Ich denke schon.“ Ich starrte ihn fassungslos an.
„Ich hören Daphne-San seien unglücklich gestürzt.“ Noyagi nickte mir aufmunternd zu. „Doch mit Freude ich kann feststellen, dass Erinnerung sehr schnell kommen zurück.“
Ich lächelte. Noyagi wies mich an, ihm zu folgen, bis wir an einer Bank ankamen und uns setzten.
„Daphne-San. Wieder zurück an Lieblingsplatz wie sehen ich.“
Ich sah erneut zum Balkon hoch. Ja, es war mein Lieblingsplatz. Da oben war man alleine und konnte nachdenken.
„Du erinnern dich an letzte Monate vor Entführung?“
„Nein, leider nicht.“
„Du erinnern dich an Jungen mit Namen Jess?“
„Ja, natürlich! Also, ich kenne ihn jetzt, aber ich weiß nicht, welche Rolle er vorher gespielt hat.“ Ich sah ihn verwundert an.
„Versuchen zu erinnern du musst.“ In seinem Blick lag Mitleid. „Es gibt Dinge du musst wissen. Dinge, die niemand gesagt hat. Aus Rücksicht und Liebe. Doch es schlimm seien, aber du es wissen musst trotzdem.“ Ich nickte zögernd. „Daphne-San lehnen zurück und Noyagi helfen beim Erinnern.“ Ich lehnte mich zurück, schloss meine Augen und dachte nach. „Denken an ersten Moment, an dem du sehen Jess.“
Er stellte sich erneut zu mir, lehnte sich lässig an der Wand an und trank einen Schluck aus seiner Bierflasche.
„Ich habe da mal eine Frage.“ Er sprach immer noch ziemlich leise, als wollte er nicht, dass es jemand mitbekam. „Du kannst sie mir bestimmt beantworten.“
Ich verschränkte die Arme und sah ihn an.
„Ray ist wie alt?“ Jess lächelte leicht, als ich ihn nur abweisend anfunkelte. „Wenn das auf dem Bild seine verstorbenen Eltern sind und er hier mit Kai wohnt, drängt sich mir die Frage auf, ob hier irgendjemand verantwortlich ist.“
„Kai ist hier verantwortlich“, erwiderte ich kühl. „Es ist sein Haus.“
„Hm.“ Jess nickte. „Sie sind beide nicht einundzwanzig.“
„Du bist auf einer Geburtstagsparty“, bemerkte ich brüsk. „Schon vergessen? Kai ist einundzwanzig.“
„Gut“, erwiderte Jess, ließ aber nicht locker. „Aber die Allgemeinheit hier ist wie alt? Du bist siebzehn?“
„Achtzehn“, korrigierte ich ihn. „Worauf willst du hinaus?“
Ich wusste es genau, wünschte mir nur, dass er es einfach vergessen würde.
„Ray ist nicht einundzwanzig und somit auch nicht volljährig.“ Sein Blick wanderte zu ihm.
„Vielleicht hat er sich einfach nur etwas später für das Abitur entschieden?“ Ich hoffte, ihn irritieren zu können.
„Kai hat das offensichtlich, ja.“ Jess beugte sich zu mir. „Aber nicht Ray. Ich habe Recht, nicht wahr?“
Ich starrte ihn an und versuchte dabei unfreundlich auszusehen, doch es beeindruckte ihn nicht. „Was willst du?“
Er hielt meinem Blick stand, blinzelte nicht mal. Er wusste es und ich konnte es nicht rückgängig machen. Die Frage war nur, was er mit der Information nun anfangen wollte.
„Nichts.“ Jess lächelte wieder freundlich. „Ich wollte nur wissen, ob ich richtig liege.“
„Und?“ Ich konnte nicht locker lassen. Ich hatte mich verplappert und nun musste ich es wieder gerade biegen.
„Nichts.“ Jess lachte leise und legte die Hand behutsam auf meine Schulter. „Was soll denn deiner Meinung nach jetzt passieren?“
„Du findest heraus, dass Ray gar nicht hier sein dürfte und sagst nichts mehr dazu?“ Das wollte ich wirklich nicht glauben.
„Es ist meine erste Woche hier, Douphne.“ Sein Lächeln verschwand und er sah mich ernst an. „Ich kenne Ray nicht, doch er macht einen netten Eindruck auf mich. Wieso sollte ich also in Frage stellen, was hier läuft? Kai scheint für ihn Sorge zu tragen und wenn das funktioniert, wieso sollte ich mich dann einmischen?“
„Du meldest es also nicht?“ Mir gefiel nicht, in welche Richtung sich das Ganze entwickelte.
„Es ist unser Geheimnis.“ Jess hielt zwei Finger in die Luft. „Versprochen.“
„Wieso habe ich das Gefühl, dass dein Schweigen einen Preis hat?“ Ich war verunsichert, traute ihm nicht.
„Es ist nur ein kleiner Preis“, bemerkte Jess und grinste. „Ich könnte einen Freund in diesem Dorf gebrauchen. Es ist immer so schwer neue Freundschaften zu schließen, findest du nicht auch?“ Sein Blick wanderte zu Kai. Der sah in dem Moment zu uns herüber. Er hatte einen fragenden Gesichtsausdruck, doch ich lächelte ihn schnell an und er wandte den Blick wieder ab. „Ich denke, dass mein Leben hier etwas leichter wird, wenn ich einen Kumpel habe.“
„Kai wird nicht dein Freund, das kannst du vergessen.“ Ich schüttelte energisch den Kopf.
„Das ist mir völlig klar.“ Jess lachte herzlich. „Ich will, dass du mein Kumpel bist.“
Überrascht sah ich ihn an, denn damit hatte ich nicht gerechnet. „Das ist nichts, was man mit einem Knopfdruck einfach anstellen kann.“
„Natürlich, du hast Recht.“ Jess legte den Arm um mich, zog mich an sich. „Du könntest ja für den Anfang einfach nett 'Hallo' sagen, wenn du mich siehst. Das wäre schon ein Fortschritt, findest du nicht?“
Ich hatte wohl kaum eine Wahl. Ich war mir nicht sicher, ob er mich wirklich erpressen wollte oder ob er meine Loyalität zu Ray einfach schamlos ausnutzte, doch ich wollte kein Risiko eingehen.
„Immer nett, neue Freunde zu finden.“ Ich konnte selbst hören, dass meine Stimme kühl klang und zwang mich zu lächeln.
Ich konnte kaum fassen, dass meine Erinnerung einfach so zurückkam. Ich strengte mich lediglich an und schon kamen sie vor meinem geistigen Auge.
„Was passieren danach?“ Mr. Noyagi gab mir einen weiteren Denkanstoß.
„Lass dich doch überraschen.“ Mehr sagte er dazu nicht.
„Ein Überraschungsgast wäre wohl ein Ehrengast und der bist du nicht“, wies ich ihn darauf hin und gab mir Mühe, nicht allzu unhöflich dabei zu klingen.
„Und ich dachte, wir beide hätten etwas Besonderes.“ Er grinste mich an.
„Diese Tatsache kann wohl niemand abstreiten“, grummelte ich und verschränkte die Arme.
„Pass auf.“ Sein Grinsen verschwand und sein Ausdruck wurde ernst. „Ich weiß, dass unser Start etwas holprig war ...“
„Was du nicht sagst.“ Ich starrte ihn abweisend an.
„Ich bin ein wirklich netter Mensch, Douphne“, wies Jess mich darauf hin und lächelte plötzlich so aufrichtig, wie er es bisher noch nie getan hatte. „Vielleicht gibst du mir einfach die Chance, dir das zu zeigen. Ich würde wetten, dass du mich ins Herz schließt.“
„Setz nur nicht zu viel Geld“, ermahnte ich ihn. „Ich will dich schließlich nicht ruinieren.“
Es ging um eine Einladung zum Essen, an so viel konnte ich mich erinnern. Ich versuchte, mich an das Essen selbst zu erinnern, doch es kam mir nicht in den Sinn. Stattdessen etwas anderes.
„Du willst mein Freund sein?“ Mir standen die Tränen in den Augen.
In dieser Sekunde wollte ich, dass er es war.
„Douphne, was ist los?“ Jess rieb mir mit der Hand über den Arm, um mich zu beruhigen.
Sein Blick war ernst, voller Sorge.
„Ich habe Angst“, antwortete ich ehrlich und sah ihm flehend in die Augen.
„Angst?“ Jess wirkte verwirrt. „Wovor hast du Angst? Vor jemandem da drin?“
„Douphne“, rief Mom. „Das Essen ist fertig!“
„Ich kann da nicht reingehen.“ Mir steckte die Angst in den Knochen, mein Körper war wie gelähmt.
Jess warf einen Blick in den Flur und sah dann wieder mich an. „Du wirst mir erklären müssen, was passiert ist.“
„Ich kann nicht“, stammelte ich nur.
Er zog mich mit Nachdruck an sich, schloss mich in seine Arme. Es war ein komisches Gefühl, doch in diesem Moment schaffte es auch ein Gefühl von Sicherheit für mich.
„Douphne!“ Mom rief energischer.
„Hör zu.“ Jess sprach leise. „Wir gehen jetzt da rein und ich bleibe an deiner Seite. Wenn du kannst, dann sagst du mir, vor wem du solche Angst hast und ich sorge dafür, dass diese Person nicht in deine Nähe kommt. Einverstanden?“
Ich nickte zögernd und wünschte mir in diesem Moment tatsächlich, dass er mich nicht losließ.
„Nein“, hielt ich Jess unvermittelt an. „Die Jungs sind noch nicht hier. Kai wird ihn umbringen. Oh Gott ...“
Ich war schier am Verzweifeln.
„Dieses Essen ist ein Test für Kai“, stammelte ich, um es Jess klarzumachen. „Kai muss sich heute benehmen, sonst wird meine Mutter mir den Umgang mit ihm verbieten.“
„Und du meinst, das kann er nicht?“
„Nicht, wenn er ihn sieht.“ Ich schluchzte. „Jess, er wird die Kontrolle verlieren.“
„Wegen dem Kerl, vor dem du Angst hast?“ Er hakte erneut nach und ich nickte bloß.
Er legte den Arm um meine Schultern und schob mich voran.
Was hatte das zu bedeuten? Jemand war bei uns eingeladen gewesen, vor dem ich Angst hatte? Wer war das? Wie kam es dazu?
„Was soll das?“
„Das sollte ich dich fragen, oder?“ Jess seufzte. „Was habe ich dir getan? Die letzten Tage mal weggelassen. Habe ich heute irgendwas Schlimmes gemacht? Ich bin Kai doch aus dem Weg gegangen.“
„Ich rede nicht davon, sondern was du hier machst.“ Ich deutete mit den Augen auf das Geschirr.
„Du hast mich eingeladen“, erwiderte er nur.
„Aber der Abend ist vorbei, geh nach Hause.“ Es klang nicht genervt, bloß erschöpft.
Ich war müde.
„Ich weiß, dass man Kai akzeptieren muss, um dir näher zu kommen.“ Er stellte ein Glas weg. „Das hab’ ich verstanden.“
„Dann frage ich mich, was du noch hier willst.“ Ich meinte es wirklich nicht unfreundlich, aber ich verstand nicht, was ihn noch in meinem Haus hielt.
„Es ist nun mal nicht einfach, sich mit Kai anzufreunden oder bei ihm einen gewissen Respektrang zu erreichen.“ Jess sah mich an.
„Van und Luk haben es geschafft.“
„Du hast es geschafft.“
„Ja und ich weiß heute noch nicht, warum.“ Ich warf ihm einen Blick zu.
Jess erwiderte ihn, sagte aber nichts. Ich nahm mir einen Teller und spülte weiter.
„Kannst du dir vorstellen, wie schrecklich es war, als er damals auf die Spellington-High gekommen ist?“ Es war keine Frage mit Antworterwartung. „Es war furchtbar! Er war arrogant, unfreundlich und hat sich sofort in die falsche Clique reingehängt. Ray kam kurz nach ihm. Ben, ein Freund von Alex, hat versucht mich umzubringen. Kai hat mir das Leben gerettet, hat die Kugel abbekommen, die mich treffen sollte.“ Jess wirkte erstaunt. „Der Verlobte meiner Mutter war ein Betrüger und Mörder. Er hat mich am Tag der Hochzeit in das Kühlhaus der Schlachterei gesperrt. Kai suchte mich und fand mich rechtzeitig. Er wärmte mich auf und brachte mich zur Kirche, um die Hochzeit zu verhindern. Er achtet aus irgendeinem Grund auf mich und er mag es nicht, wenn sich Leute in meiner Nähe aufhalten, die er nicht einschätzen kann.“
„Also ein ganzes Stück Arbeit, wenn man mit dir befreundet sein möchte.“ Jess lächelte.
Ich gab ihm den letzten gespülten Teller in die Hand und sah ihn wieder an.
„Das heute war ein guter Anfang“, wies ich ihn darauf hin. „Ich danke dir für deinen Beistand und dafür, dass du Kai vorgewarnt hast.“
„Dafür sind Freunde doch da.“ Er legte das Handtuch zur Seite und stupste mit dem Finger mein Kinn an.
Ich hatte Jess nicht gemocht. Mochte ich ihn jemals oder spielte er mir das nur vor? Eine Sache versetzte mir einen Stich. Kai hatte mir das Leben gerettet. Vermutlich hatte ich deshalb angefangen, ihn zu mögen. Ich wusste schließlich, wie ich bin. Ich musste um diese Freundschaft gekämpft haben.
„Was passierte als nächstes?“ Noyagi musterte mich.
„Du kannst ganz schön fies sein.“ Jess stellte sich dicht neben mich und sprach leise.
„Nicht jetzt, okay?“ Ich hatte wirklich nicht den Kopf frei. „Vielleicht weichst du mir einfach mal für fünf Minuten von der Seite. Meinst du, das wäre möglich?“
„Mach mich nicht so an, Douphne.“ Er war überrascht, dass er es nun war, der meine Laune abbekam. „Ich habe dir nichts getan.“
„Nein, du rückst mir nur nicht von der Pelle“, erwiderte ich brüsk. „Thalia hat Recht. Du bist mir so schnell nicht mehr von der Seite gewichen, dass es kaum schneller hätte gehen können, wenn es meine Absicht gewesen wäre. Ständig tauchst du neben mir auf, bist immer ganz Ohr und willst immer alles wissen. Dabei machst du einen auf freundlich und rücksichtsvoll, aber ich frage mich ganz ehrlich, warum du das tust.“
„Weil ich dachte, dass wir Freunde werden können.“ Jess klang verletzt.
Er hatte diesen traurigen Blick aufgesetzt, doch ich war bereits in Rage.
„Warum?“ Ich konnte mich selbst nicht mehr halten. „Wieso willst du ausgerechnet mein Freund sein? Es gibt doch wirklich genug andere Menschen auf dieser Schule.“
Er starrte mich eindringlich an, offensichtlich noch verletzter, als zuvor.
„Ich habe dich gesehen und fand dich toll.“ Es versetzte mir einen Stich. „Du hast nett gewirkt, deshalb bin ich zu dir gegangen. Ich war die ganze Zeit nett zu dir, das hier habe ich nicht verdient.“
Waren Jess und ich wirklich Freunde? Schließlich kam mir etwas in den Sinn, wovon ich glaubte, dass Ray es mir erzählt hatte.
„Ah, da ist es wieder“, erwiderte Jess mit einem abschätzenden Lächeln. „Diese unfreundliche Art, sich beim Nachnamen zu nennen.“
„Du hast mich noch nie richtig unfreundlich gesehen!“ Kai stieß ihn von sich.
Jess geriet ins Stolpern und fiel rücklings zu Boden, mit dem Kopf genau an die Kante der ersten Treppenstufe. Kai beugte sich über ihn und drückte ihn fest auf den Boden.
„Ich weiß nicht, warum du eigentlich hier bist“, fuhr er ihn drohend an. „Doch ich will wissen, was Douphne damit zu tun hat! Was willst du von ihr?“
„Bloß ihr Vertrauen.“ Jess grinste. „Und ich bin näher dran, es zu kriegen, als du es dir vorstellen kannst.“
Dann wusste er sich nicht anders zu helfen. Kai schien so wütend zu sein und ihn nicht mehr loslassen zu wollen, dass Jess ihn ruckartig von sich stoßen wollte. Kaum hatte er das getan, wurde ihm klar, dass es ein Fehler war.
Kai fiel kopfüber die steinerne Treppe herunter. Er überschlug sich auf den Stufen auf und als er unten ankam, blieb er regungslos auf dem Rücken liegen, stöhnte aber vor Schmerzen.
Jess hatte Kai stürzen lassen? War er wahnsinnig geworden? Wie konnte ich so einen Menschen gemocht haben, wo mir doch alle erzählten, wie gut Kai und ich uns verstanden?
Jess lächelte und hielt mir einen Zettel hin. „Gute Nachrichten. Ich denke, du wirst es erkennen.“
Man musste kein Genie sein, um zu erkennen, was es war. Der Zettel von Carol. Ihre Story über mich.
„Woher hast du den?“
„Ich hatte eine kleine Auseinandersetzung mit ihr, habe sie getroffen. Zufällig.“
„Natürlich“, spottete Kai leise. „Rein zufällig.“
Jess ignorierte ihn.
„Ich habe ihr den abnehmen können.“ Er deutete auf das Blatt in meiner Hand.
„Danke, aber sie kann es jederzeit neu schreiben.“ Es war ein wirklich netter Zug von Jess, aber es brachte nichts.
„Das wird sie nicht tun.“ Er schüttelte siegessicher den Kopf. „Natürlich kann sie es Tag für Tag ihrem Tagebuch mitteilen, aber diese Story wird niemals in einer Zeitung erscheinen. Gar nichts mehr von ihr wird das jemals.“
Ich sah ihn fragend an.
„Ich habe gute Kontakte, sehr gute. Ich habe mich an die Abteilungsleiterin der Redaktion gewandt und ihr von den Geschehnissen erzählt. Carol ist ihren Job los. Für immer. Man sorgt dafür, dass sie nie wieder eine Stelle bekommt. Zumindest nicht in der Reichweite, dass sie dir damit etwas anhaben könnte.“
Hätte ich es gekonnt, hätte ich ihn umarmt und wahrscheinlich nie wieder losgelassen.
„Jess, ich …“ Ich war fassungslos.
„Keine große Sache“, tat er es ab. „Ich verschwinde wieder. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, damit du ruhig schlafen kannst. Bis dann. Lukasz.“ Sein Blick fiel auf Kai. „Ja ...ähm … Ich geh‘ mal lieber.“
Allmählich war ich verwirrt. Mochte ich Jess oder nicht? Zu Kai war er so merkwürdig und Kai war zu ihm unfreundlich. Zu mir schien Jess immer nett gewesen zu sein. Hatten Kai und Jess Differenzen? Stand ich dazwischen?
Ich schwamm vor und als ich mir die, durch den Wasserfall verursachten, klatschnassen Haare aus dem Gesicht gewischt hatte, war Jess mir plötzlich so dicht auf die Pelle gerückt, dass ich mich beinahe erschreckte.
„Nur wir zwei, ganz allein?“ Er grinste und ich wusste, dass er wieder seine Scherze machte.
Trotzdem hatte ich Schmetterlinge im Bauch, als er mir so nahe war.
„Mach ruhig deine Witze.“ Ich lächelte.
„Wenn wir hier also nicht heimlich rummachen wollen ...“ Er lachte. „Wozu sind wir dann hier?“
„Ich muss dir wohl danken“, bemerkte ich. „Du bist der einzige, der nett zu Ian ist.“
„Ah“, stieß Jess aus und sah zur Seite. „Ja, ich bin nett zu deinem Freund. Aber ganz ehrlich? Ich mag ihn auch nicht besonders.“
Ich sah ihn überrascht an.
„Ich weiß, was ihm nachgesagt wird und ich finde ihn ziemlich überheblich, wenn er in deiner Nähe ist“, fuhr er fort und musterte mich schließlich eindringlich. „Außerdem finde ich, dass er Kai provoziert.“
„Wie bitte?“ Ich war verwirrt.
Seit wann stellte Jess sich auf Kais Seite?
„Ich hätte auch nicht gedacht, dass es mal so sein würde“, bemerkte er. „Aber es ist mir schon oft aufgefallen.“
„Er hat nicht ein böses Wort über oder zu ihm gesagt“, verteidigte ich Ian.
Jess seufzte. „Er wartet, bis Kai dich ansieht und genau in diesem Moment küsst er dich, oder fasst dich an. Sogar ich würde ihm dann gerne an die Kehle springen, daher finde ich es erstaunlich, dass Kai sich so gut zusammenreißt.“
„Es ist mir nicht aufgefallen“, gab ich zu. „Ich will nicht, dass er das tut. Es ist nicht in Ordnung und außerdem ist es kindisch.“
„Ganz meine Meinung.“ Jess sah mir plötzlich tief in die Augen. „Ich finde, dass Ian nicht der Richtige für dich ist, aber es ist deine Entscheidung.“
„Ich dachte, dass wenigstens du mit ihm auskommst“, erwiderte ich ruhig.
„Wie könnte ich ihn mögen, solange er mit dir zusammen ist.“ Jess wandte sich ab, bevor ich darauf reagieren konnte und ließ mich alleine.
Jess flirtete mit mir? Ich bekam Kopfschmerzen. Was war Jess für mich? Was war ich für ihn?
„Ich bin total verliebt in dich.“ Seine Lippen wanderten zu meinem Hals.
Seine Hand glitt dabei über meine Brust und er griff an das untere Ende meines Nachthemdes, um es hochzuziehen.
Ich blockte es intuitiv ab, weil ich es nicht wollte, doch Ian zog mich zum Bett, drückte mich mit Nachdruck mit dem Rücken auf die Matratze und beugte sich über mich. Er schob das Nachthemd über meine Hüfte nach oben und seine Hand verschwand darunter.
Ich versuchte, mich etwas zu winden, doch ich hatte keine Chance, als er sich auf mich legte. Ich wusste, worauf es hinauslief und ich war mir sehr sicher, dass ich es nicht wollte. Es fühlte sich nicht gut an, dass er mich anfasste und es war an der Zeit, ihm das zu sagen und ihn davon abzuhalten.
„Ian ...“ Er küsste mich energischer und fasste mir plötzlich in den Schritt.
Ich griff nach seinem Arm, um ihn davon abzuhalten, doch er war wesentlich kräftiger als ich. Seine Hand glitt kurz über meinen Bauch, dann schob er sie unter meinen Slip und fasste mir erneut zwischen die Beine. Ich wollte sie zusammendrücken, doch er lag dazwischen, also griff ich mit der Hand an seinen Kopf und drückte dagegen.
Er hörte für einen Moment auf, mich zu küssen und ich sah ihn an.
„Hör auf“, ermahnte ich ihn energisch, als seine Hand unter meinem Slip auf und abglitt. „Ich will das nicht, lass‘ es sofort sein!“
Ian hielt inne und sah mich verwundert an.
„Es gibt keinen Grund, weshalb wir es nicht tun sollten“, flüsterte er und küsste meinen Hals, während seine Hand noch immer in meinem Schritt lag.
„Ian“, fuhr ich ihn laut an.
So laut, dass er tatsächlich von mir abließ und sich aufsetzte. Er sah genervt aus und ich stand vom Bett auf und eilte zur Türe. Nicht etwa, weil ich flüchten wollte, aber ich wusste, dass ich laut genug gesprochen hatte, damit die Jungs mich hörten, falls sie oben waren.
Ian schien das ebenfalls klar zu sein. Hatte er nur deshalb von mir abgelassen?
„Was denn? Kommt Kai jetzt zu deiner Rettung herbeigeeilt?“
Ich zuckte zusammen, als er mich anschrie.
„Hör auf mit dem Scheiß“, ermahnte ich ihn, wütend darüber, dass es nur zwei Sekunden gedauert hatte, bis sein Groll sich gegen Kai richtete.
„Was denn?“ Er kam auf mich zu. „Glaubst du etwa, dass Kai es gerade hingenommen hätte, abgewiesen zu werden?“
„Soll das jetzt dein Ernst sein?“ Ich sah ihn wütend an. „In dieser Situation vergleichst du dich mit ihm? Reicht es dir immer noch nicht? Musst du jetzt wieder anfangen, einen anderen schlechtzumachen?“
Ich hörte in der Tat Schritte vor dem Zimmer, doch es kam niemand an die Türe.
„Ich sage bloß die Wahrheit.“ Ian kam näher. „Der liebe Kai will dir doch auch nur an die Wäsche, deshalb lässt er dich hier wohnen! Glaubst du etwa, er würde seelenruhig neben dir im Bett liegen, ohne es zu versuchen? Sein Ruf ist ihm da meilenweit voraus. Er würde sich nicht so einfach abspeisen lassen!“
„Doch, das würde er“, wies ich ihn selbstbewusst darauf hin. „Kai würde mich nicht zu etwas drängen, das ich nicht will. Er würde es erst gar nicht versuchen. Und selbst wenn, dann würde er ohne zu zögern aufhören, wenn ich ihn darum bitte!“
„Bist du dir da wirklich sicher?“
Ja, das war ich. Ich hatte bereits mit Kai in einem Bett geschlafen und er hatte mich nicht angefasst, hatte lediglich beruhigend den Arm um mich gelegt. Er hatte es, auch wenn es nicht echt gewesen war, sofort hingenommen, als ich im Schwimmbad einen Rückzieher gemacht hatte. Ganz abgesehen davon, dass er ein großer Feind davon war, eine Frau bedrängt zu sehen.
„Es ist mein gutes Recht, nein zu dir zu sagen“, ermahnte ich Ian.
„Klar.“ Er klang plötzlich richtig bösartig, drückte mich mit seinem Körper an die Türe und strich mir mit der Hand die Innenseite des Oberschenkels hoch. „Zu mir sagst du nein, aber für Kai würdest du vermutlich jederzeit die Beine breitmachen!“
Ich stieß ihn weg, holte aus und verpasste ihm die kräftigste Ohrfeige, die ich aufbringen konnte.
„Fass mich nicht an, Ian!“ Ich schrie ihn an und er wirkte verdutzt.
Vor der Türe konnte ich ein Stimmengemurmel hören und plötzlich hörte ich eine Türe knallen.
„Kai ist ein Mann, der du niemals sein wirst.“ Ich war wütend und zeigte drohend mit dem Finger auf Ian.
„Da kann ich ja froh sein“, schnaubte der verächtlich, doch er sah wohl langsam ein, dass er zu weit gegangen war.
„Er hat mich schon oft schlecht behandelt.“ Ich wurde wieder ruhiger, als die Anspannung langsam wich. „Aber er würde mich niemals so behandeln, wie du es gerade getan hast.“
Ich erinnerte mich daran. Kai hatte mir davon erzählt, dass ich mit einem Ian zusammen gewesen war. Das war allerdings die erste eigene Erinnerung, die ich daran hatte. Wieso fiel es mir ein, obwohl ich an Jess dachte?
„Da konnte wohl jemand nicht die Klappe halten, was?“ Jess sah mich nicht an.
„Komm mir nicht so.“ Ich klang mehr verzweifelt, als wirklich wütend. „Was hat Ian erzählt? Du verschwindest?“
„Habe ich vor, ja.“
„Aber warum?“ Ich ging einen Schritt auf ihn zu und griff nach seinem Arm.
„Wofür sollte ich bleiben?“ Er sah mich sanftmütig an.
„Wir sind endlich Freunde, Jess“, wies ich ihn darauf hin. „Das wolltest du doch die ganze Zeit.“
„Und das klappt ja beinahe genauso gut, wie die Sache mit dir und Ian.“ Sein Tonfall war sarkastisch.
„Es hat funktioniert.“ Ich griff mit meinen Händen auf Brusthöhe an sein T-Shirt.
Es war eine Geste, um ihn am Gehen zu hindern.
„Hat es nicht.“ Jess schüttelte den Kopf und legte seine Hand an mein Gesicht. „Also, wieso sollte ich bleiben?“
„Weil du mir wichtig bist und ich es möchte.“ Ich starrte ihn flehend an.
Er glitt mit den Fingern durch meine Haare und spielte an ihnen herum.
„Ich habe gehofft, dass du das mal so sehen würdest.“ Er sprach leise. „Doch ich habe Mist gebaut. Ich habe einen Fehler gemacht und deshalb muss ich zurück.“
„Es spielt dir doch sicher in die Karten, dass ich dich anflehe, zu bleiben, oder?“ Ich versuchte es auf diese Tour. „Gehörte es nicht zu deinem Plan, dass ich dich mögen sollte?“
„Vermutlich hast du Recht“, stimmt er mir zu und lächelte sympathisch. „Aber manchmal ist etwas wichtiger, als der Plan. Ich bin gerade nicht besonders stolz auf mich, weil ich etwas getan habe, was ich nicht hätte tun sollen.“
Wovon sprach er wohl?
„Jess, ich bitte dich.“ Ich nahm seine Hand.
„Wieso ist es dir so wichtig?“ Ich ahnte, dass er auf meinen Vater anspielte, doch das war gar nicht der wahre Grund, um ihn zu halten.
Ich hatte in seiner Nähe ständig Schmetterlinge im Bauch.
„Weil du mein Freund bist“, sagte ich schließlich. „Weil ich dich gernhabe ...“
Jess sah mich eine Weile einfach nur an. Ich hielt seine Hand immer noch fest und als er schließlich nickte, fiel ich ihm vor Freude um den Hals.
„Ich denke, dass ich einiges verschieben kann“, bemerkte er. „Wenn es dir so wichtig ist.“
Seine Arme schlossen sich fest um meinen Rücken.
„Irre wichtig.“ Und das stimmte.
Jess wollte weg? Von welchem Fehler sprach er?
Bevor ich Mr. Noyagi fragen konnte, was das alles zu bedeuten hatte, wurde es mir plötzlich bewusst. Es prasselte alles auf mich ein. Jess fühlte sich schlecht wegen Ian. Ich erinnerte mich an ein Gespräch mit Caitlin.
„Ich denke über Jess nach.“ Die Antwort kam prompt, als hätte sie es bereits seit längerem im Kopf.
„Wieso tust du das, wenn nicht mal Kai und ich das tun?“ Ich war müde und ich war das Thema leid.
„Das ist es ja.“ Ich merkte, wie sie aus dem Bett kroch und plötzlich sah sie mich über die Bettkante hinweg an. „Ich weiß, dass Kai nichts von ihm hält. Ich sehe, dass du Jess aus dem Weg gehst, würde aber gerne wissen, was in dir vorgeht. Ist es wirklich das, was du willst? Denkst du jetzt wirklich schlecht von Jess, oder tust du nur so, damit du keinen Streit mit Kai hast?“
Ich antwortete nicht und erst zu spät wurde mir klar, dass sie das wahrscheinlich falsch interpretieren würde.
„Wenn du dich wegen irgendetwas wunderst, kannst du doch ruhig fragen.“ Ich drehte mich auf die Seite und sah sie an. „Eine Antwort scheitert nicht, weil du Kais Cousine bist. Du bist meine Freundin und kannst mich alles fragen.“
„Egal, was ich dich jetzt frage?“ Ich nickte und Caitlin nahm es im Dämmerlicht wahr. „Hängst du an Jess?“
Sie schien mich dabei sehr genau zu beobachten.
Ich wollte gerade antworten, als sie mich unterbrach. „Du hast für ihn geschwärmt, aber ist es vielleicht mehr? Würdest du ihn auch mögen, wenn er nicht wüsste, wo dein Vater ist?“
„Er weiß es“, antwortete ich nur.
„Hast du ihn mal gefragt, ob er es dir sagt?“
„Nein“, erwiderte ich. „Denn ich weiß, dass er es nicht tun würde. Er macht aus seinem ganzen Aufenthalt bei uns ein Geheimnis, dann wird er mir das bestimmt nicht sagen.“
„Aber mögen tust du ihn trotzdem?“ Caitlin musterte mich. „So als Menschen, wie er eigentlich zu dir war, bevor du herausgefunden hast, dass er gelogen hat.“
Ich antwortete nicht.
„Du hast ihn ziemlich gemocht“, vermutete sie und ich nickte nur. „Und obwohl er dich belogen hat, magst du ihn immer noch, oder?“
Ich sah sie an. Mir war die Antwort klar und ihr ebenso.
„Du hast Jess sehr schnell sehr gern gehabt, das habe ich dir angesehen.“
„Wie hast du es gemerkt?“ Ich war ein wenig erstaunt darüber, dass es tatsächlich jemandem aufgefallen war.
„Als wir bei Van in der Disco waren, warst du erst so schlecht drauf“, erklärte sie. „Und als Jess plötzlich reinkam, hast du gestrahlt und bist sofort zu ihm hingegangen. Als er dich aber so kühl behandelt hat, habe ich deinen enttäuschten Blick gesehen. Da war mir klar, dass du ihn magst.“
„Du kannst gut beobachten“, bemerkte ich nur.
„Du bist verliebt in Jess, nicht wahr?“ Ihre Stimme klang sanft. „Warst du schon, als du mit Ian zusammen warst.“
Ich lächelte nur leicht. Sie hatte sich langsam herangetastet, um mir nun die entscheidende Frage zu stellen.
„Wieso tust du vor Kai so, als ob Jess dir gleichgültig ist? Und wieso vermittelst du Jess diesen Eindruck?“
„Ist das nicht klar?“ Ich setzte mich auf und schüttelte leicht den Kopf. „Kai würde mich nicht verstehen. Ich verstehe ja selber nicht, weshalb ich nicht wütend genug bin, um Jess fallenzulassen. Es ist nicht nur wegen meinem Vater. Ich habe mich wirklich in ihn verliebt. Ich konnte ihn mal nicht ausstehen, aber irgendetwas war da, was mich dazu gebracht hat, ihm zu trauen. Aber Kai hatte wie immer Recht. Ich konnte Jess nicht trauen. Wieso tue ich also Kai und Jess gegenüber so, als ob mich das alles kalt lässt? Kai versteht es nicht und Jess kann mich nicht leiden. Das wäre bloß demütigend.“ Caitlin sah mich nur an. „Außerdem ist es einfacher so zu sein. Es fällt mir nicht schwer, so zu Jess zu sein, denn im Prinzip, weiß ich, dass ich dumm bin. Dass da aber in Wahrheit noch Gefühle für Jess dahinterstecken, das gestehe ich mir doch selber nur ungern ein.“
„Tust du doch gerade.“
„Ja, vor dir, Caitlin.“ Ich sah sie nun eindringlich an. „Weil du meine Freundin bist. Weil ich endlich mal ein Mädchen habe, dem ich etwas erzählen kann. Ich hatte sonst immer nur die Jungs. Du musst mir versprechen, dass das unter uns bleibt und dass du Kai nichts davon erzählst.“
„Natürlich tut es das.“ Damit war für uns beide das Gespräch beendet und bald darauf schliefen wir ein.
Ich liebte Jess. Ich hatte mich trotz all seiner Fehler in ihn verliebt.
Bevor ich mich fragen konnte, was daraus geworden war, nahm Mr. Noyagi meine Hand. „Du dürfen keine Angst haben vor Trauma.“
„Was ist?“ Robin hastete zu mir herüber.
Er ließ sich auf die Knie fallen und tastete, wie ich es getan hatte, nach dem Puls.
Ich fiel zurück. Das konnte nicht wahr sein. Robin begann mit Erster Hilfe und ich lag neben ihm im Dreck und betete innerlich. Ich starrte ihn an und dann das Mädchen, das regungslos vor ihm lag.
Es war Thalia Mudo. Ich stieß einen lauten Schluchzer aus und mich überkamen die Tränen. Ich weinte bitterlich und jeder weitere Schluchzer endete in einem klagenden Schrei.
Plötzlich wurde ich an den Armen gepackt und von ihr weggezogen.
„Nein!“ Ich versuchte, mich dagegen zu wehren. „Nicht Thalia!“
Die Person, die mich gepackt hatte, stellte sich vor mich und ich starrte Jess direkt in die Augen.
„Schwacher Puls“, rief Robin.
In dem Augenblick, wo ich es hörte, sackte ich zusammen. Jeder Muskel meines Körpers gab nach und ich wäre beinahe mit den Knien auf den Boden geschlagen, wenn Jess mich nicht festgehalten hätte.
Er hob mich hoch und trug mich ein Stück weiter in die Höhle, weg von den Verletzten und weg von Thalia, die um ihr Leben kämpfte.
„Douphne!“ Es war Enya.
Sie torkelte über das Geröll und ließ sich neben Thalia auf die Knie fallen.
Es ging ihr gut. Wenigstens ging es Enya gut. Ich musste an Ray denken und daran, wie toll er sie fand.
Thalia durfte nicht sterben. Sie hatte keinen Ray, durfte nicht gehen, ohne zu wissen, dass ich sie gernhatte, auch wenn sie mich oft zur Weißglut trieb.
„Es geht ihr gut!“ Jess rief es Enya zu und legte dann seine Hände an mein Gesicht. „Das wird wieder.“
Er sah mir in die Augen und strich mir über die Wange.
„Kai, Ray und Caitlin sind draußen. Alles wird gut, siehst du? Enya geht es besser und Thalia wird das hier überstehen, um uns alle danach wieder fleißig zu nerven.“
Er grinste, bis er schließlich eine Reaktion von mir bekam.
„Es geht mir gut“, murmelte ich nur.
„Gut, ich bringe dich hier raus.“ Kaum hatte er es ausgesprochen, erzitterte die Erde erneut.
Ein Nachbeben? Jess drückte mich an die Wand und beugte sich über mich, als wir erneut von einer Staubwolke überrollt wurden und weitere Felsbrocken von der Decke fielen.
Als die Stille nach einer gefühlten Ewigkeit erneut zurückkehrte, zitterte ich am ganzen Körper. Ich fror, aber ich hatte auch unglaubliche Angst. Als der Staub sich legte und Jess mir erneut in die Augen sah, konnte ich diese Angst auch in seinem Blick erkennen.
„Douphne!“ Ich hörte Enyas Stimme.
Sie klang panisch und mein Blick fiel auf die Felswand, die sich vor Jess und mir auftürmte. Wir waren abgeschirmt. Nun waren wir alleine. Instinktiv krallte ich mich an ihm fest.
„Uns geht es gut!“ Ich rappelte mich auf und stellte mich vor das Geröll. „Was ist mit euch?“
„Es ist niemand mehr verletzt worden!“
Ich atmete erleichtert aus. Es würde einfach nur eine Weile dauern, dann würde man uns aus der Höhle befreien und alles würde gut werden. Thalia käme in ein Krankenhaus und nächste Woche würden wir schon Geschichten über unsere unglaubliche Klassenfahrt erzählen.
Ich rang mir ein Lächeln ab und drehte mich zu Jess. Als ich ihn ansah, erstarb mein Lächeln wieder. Von seinem Optimismus war nichts mehr zu erkennen. Er sah sich wie ein Irrer um und tastete die Wände ab.
„Was tust du denn?“ Ich wischte mir die Tränen weg und folgte ihm.
„Ich kann hier nicht bleiben.“ Mehr sagte er nicht.
Er lief noch weiter in die Höhle hinein, bis er an dem Geländer zum Stehen kam, das einen davor bewahren sollte, in die Tiefe zu stürzen. Er atmete tief ein und wieder aus.
Ich folgte seinem Blick und sah das Wasser, das in der Tiefe glänzte. Noch vor wenigen Stunden hatte ich den kleinen Fluss bewundert, jetzt war er mir zuwider.
Jess schlug gegen das Geländer. Ich warf ihm einen mahnenden Blick zu.
„Was soll das denn?“ Ich griff nach seinem Arm und hielt ihn zurück, während er sich mit der anderen Hand noch immer daran abstützte. „Das bringt uns jetzt nicht weiter!“
„Lass los!“ Er fuhr mich an.
In dem Moment gab das Geländer unter seinem Gewicht nach und er verlor das Gleichgewicht.
Ich versuchte, ihn zu halten, doch wir fielen gemeinsam in die Tiefe.
Wann war das gewesen? Ich war mit Jess alleine in einer Höhle verschüttet gewesen, nachdem wir von der Gruppe getrennt wurden?
„Fein“, stimmte er wütend zu. „Also, was? Ich bin ein Arschloch? Damit hast du ja Erfahrung, bist doch auch mit Kai befreundet.“ Es klang abfällig.
„Nein“, widersprach ich laut. „Du wirst es nicht wie Ian machen und einem anderen die Schuld in die Schuhe schieben! Du hast ganz alleine Mist gebaut, hast alles hinter meinem Rücken gemacht, anstatt mich direkt anzusprechen. Du hast mich angelogen und mir den Freund vorgespielt, obwohl du mich überhaupt nicht leiden kannst!“
„Sag mir nicht, wie das gelaufen ist!“ Jess kam auf mich zu und zeigte mit dem Finger auf mich. „Ich weiß es besser, als du!“
„Ja, ganz genau!“ Ich schlug nach seiner Hand und er warf mir einen verwunderten Blick zu. „Du wusstest zu jedem Zeitpunkt genau, woran du bei mir warst! Doch ich habe wirklich geglaubt, dass wir Freunde sind und dass du mich gernhast! Du hast mich verletzt, Jess, und das mit voller Absicht! Dir ist es egal, wie es mir gerade geht, hauptsache, du bist fein raus!“
Jess drehte sich wütend weg und schlug mit der Hand gegen einen Felsen.
„Scheiße!“ Er ließ seinen Arm sinken. Blut tropfte von seiner Hand auf den Boden. Er hatte genau gegen eine Spitze gehauen. „Wie kann man nur so sein, wie du? So anstrengend und nervig?“
„Wieso fragst du dich so etwas denn? Ich bin doch Zeitverschwendung!“
Jess hielt sich die nicht verletzte Hand an den Kopf und schien fassungslos. „Ich habe Kopfschmerzen!“
„Könnte an der Verletzung liegen“, wies ich ihn darauf hin und in meiner Stimme schwang etwas Ironie mit.
„Oder an dir?“
„Da läuft etwas nicht so, wie der Herr es wünscht und schon kriegt er Migräne“, höhnte ich.
„Würdest du bitte mal für einen Moment still sein, damit ich nachdenken kann?“ Er griff nach meinem Arm und sah mich wütend an.
„Nachgedacht hast du nicht, als du mir Ian auf den Hals gehetzt hast!“ Ich hielt seinem Blick stand und stellte fest, dass Jess sich binnen weniger Sekunden vollkommen zu beruhigen schien.
„Dass ich Ian falsch eingeschätzt habe, tut mir wirklich sehr leid.“ Er ließ mich los und wandte den Blick ab.
Seine Stimme klang schuldbewusst.
„Ist dir klar, wie die Sache hätte laufen können, wenn ich mit ihm alleine im Haus gewesen wäre?“ Ich schüttelte den Kopf und sprach leise, obwohl uns keiner hören konnte.
„Natürlich!“ Jess klang ernst und starrte mich plötzlich eindringlich an. „Das ist mir verdammt bewusst, Douphne! Glaubst du etwa, dass ich das gewollt hätte? Ich hätte ihn am liebsten erschlagen, als ich es erfahren habe! Ich würde niemals zulassen, dass du verletzt wirst!“
Ich lachte abfällig. „Weil du es ja auch schon zu genüge getan hast.“
Er schwieg. Es schien ihm wirklich leidzutun, zumindest sah er so aus. Er stand einfach da, Blut lief ihm vom Kopf aus, den Arm herunter und weiteres Blut tropfte aus der Verletzung an seiner Hand. Er war nass und fror, doch er stand einfach nur regungslos da und sah mich traurig an.
Jess hatte mich belogen. Deswegen erinnerte ich mich an Ian, wenn ich an ihn dachte. Wieso verstand ich mich trotzdem mit ihm?
„Bist du jetzt eigentlich wütend, oder bist du es nicht?“ Er sprach leise.
Ich seufzte.
„Ich war es.“ Ich hob den Blick und sah ihm in die Augen. „Du hast mir wehgetan, Jess. Ich bin verletzt, aber nicht mehr wütend ...“
„Ich wollte das wirklich nicht.“ Er wirkte geläutert. „Glaubst du mir das?“
„Was wolltest du denn?“ Ich machte einen Knoten in den Verband, als ich fertig war. „Was hast du gedacht, wie das laufen würde?“
Jess lächelte mild. „Ich dachte, dass ich einfach nach Spellington komme, nett zu dir bin, dich für mich einnehme und du mich als Freund akzeptierst.“
Ich schmunzelte leicht.
„Ich wusste nicht, dass es so schwer sein würde und dass ich Gegenwind von allen Seiten bekomme, insbesondere von Kai. Ich habe dich kennengelernt und fand es anstrengend, mich in deiner Nähe aufzuhalten. Ich fand es nervig, mich so bemühen zu müssen und war deshalb auch oft genervt von dir.“
Jess sah mich an und schien aufrichtig zu sein. Endlich konnten wir darüber sprechen.
„Du bist toll.“ Er nahm meine Hand. „Du bist eine nette und aufrichtige Person. Du kümmerst dich um deine Freunde, bist loyal, aber auch ziemlich naiv, weswegen man das Gefühl hat, dass man dich beschützen muss. Ich habe lange gebraucht, um das zu merken und fing an, dich zu mögen. Da hatte ich aber bereits Ian auf dich angesetzt. Der Schaden war schon angerichtet und ehe ich ihn beheben konnte, hatte dieser Idiot die Grenze bereits überschritten.“
Ich senkte den Blick. „War alles gelogen? Jedes nette Wort und jede Umarmung?“
„Anfangs schon“, gab Jess ehrlich zu. „Aber dann trafen wir uns oft und ich fing an, es so zu meinen. Was ich im Schwimmbad gesagt habe, war mein voller Ernst.“
Ich sah ihn verwirrt an.
„Ich konnte Ian nicht mögen, solange er mit dir zusammen war.“
„Soll das ein Witz sein?“ Im Inneren begann ich erneut, mich aufzuregen. „Was sollte es dich kümmern? Du hast ihn doch erst dazu gebracht, sich mir an den Hals zu werfen.“
„Werd' jetzt bitte nicht wieder wütend.“ Er rutschte näher an mich heran. „Ich will mich nicht mit dir über Ian streiten und darüber, dass ich einen Fehler gemacht habe. Ich weiß, dass es einer war und ich fühle mich furchtbar deswegen. Ich habe dich wirklich gern, Douphne.“
Ich schüttelte den Kopf und versuche, Abstand zu gewinnen, doch er hielt mich fest.
„Glaub' mir das bitte.“
Ich wollte es so dringend, doch woher sollte ich wissen, dass er es ernst meinte?
„Dich zu mögen, macht den Grund für meine Anwesenheit nicht leichter. Es ist genau genommen undenkbar, dass ich dich mehr mögen kann, als ich es bereits tue.“
„Was soll das heißen?“ Nun war ich restlos verwirrt. „Ich verstehe nicht, was du mir sagen willst.“
„Ich bin dein Freund, Douphne.“ Jess sah mich eindringlich an. „Ich will für dich da sein, wenn du mich brauchst und ich werde dir nie wieder so wehtun, wie ich es getan habe. Aber ich weiß, dass du mich inzwischen äußerst gernhast und ich kann das einfach nicht erwidern, egal ob ich es will.“
„Willst du es?“ Das war die einzige Frage, die für mich in diesem Moment zählte und ich sah ihm geradewegs in die Augen.
Er hatte nicht damit gerechnet, schien mit sich zu kämpfen. Es fiel uns beiden wesentlich leichter, abweisend und kühl zu sein, doch es war an der Zeit, die Dinge zu klären, die zwischen uns standen.
Jess zögerte kurz, doch dann legte er seine Hand an mein Gesicht und griff mit dem anderen Arm plötzlich um meinen Rücken. „Ja.“ Er flüsterte es und drückte mir unerwartet, aber zärtlich, einen Kuss auf die Lippen.
Er zog mich mit dem Arm näher zu sich und küsste mich erneut, doch dieses Mal so leidenschaftlich, dass es schon weit über Schmetterlinge im Bauch hinausging.
Ich konnte kaum glauben, dass das nun wirklich passierte. Ich schloss meine Arme in seinem Nacken zusammen und genoss den Moment, war tatsächlich glücklich. Ich vergaß, dass wir in dieser Höhle festsaßen und ich vergaß, dass wir verletzt waren und froren.
In seinen Armen verschwunden, ließ ich zu, dass seine Hand von meinem Gesicht über meine Brust und meine Hüfte, bis hin zu meinem Po glitt und er mir einen weiteren, sanften Kuss auf die Lippen drückte.
„Es ist einfach nicht in Ordnung, dass ich es will“, flüsterte er, doch er entfernte sich auch nicht von mir.
Seine Lippen wanderten über meinen Hals und er zog die Träger meiner Kleidung von meiner Schulter, als er sie erreichte.
„Niemand kriegt mit, was hier unten passiert.“ Ich genoss seine Nähe und das Kribbeln in meinem Bauch, brachte mich beinahe um, vor Aufregung.
„Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass es nicht richtig ist.“ Trotzdem drängte er mich mit dem Rücken zu Boden und beugte sich über mich.
Ich griff unter seinen Armen hindurch an seinen Rücken und zog ihn fester an mich. Seine Lippen pressten sich auf meine, doch dann hielt er abrupt inne.
Ich wusste nicht, was sein Problem war. Ich fühlte mich sehr wohl in diesem Moment, obwohl unsere allgemeinen Aussichten alles andere als großartig waren.
„Es fühlt sich nicht falsch an.“ Ich sah ihm in die Augen und dachte über das Kriterium nach, was Kai mir genannt hatte.
Würde ich es irgendwann bereuen? Es war durchaus möglich, dass es so sein würde, doch in diesem Augenblick war es mir einfach egal. Es spielte keine Rolle, weil es sich gut anfühlte.
„Es fühlt sich toll an.“ Jess` Gesichtsausdruck änderte sich allerdings und er wich ein Stück von mir zurück. „Aber es ist trotzdem nicht richtig.“
Ich ließ ihn zurückweichen, dann stand ich auf und wandte mich von ihm ab. „Was ist das hier für dich? Ich kann dir nämlich nicht ganz folgen.“
Ich nahm meine Sachen und lief los. Jess folgte mir und wir liefen weiter in den Berg hinein, während wir nun erneut versuchten, uns nicht zu streiten.
„Es stört dich.“ Wir waren bereits eine Weile unterwegs. „Oder? Du willst mich nicht mögen, weil es nicht zu deinem Plan gehört.“
Jess lief neben mir und sah mich an. „Es wäre kein Problem, wenn wir uns einfach mögen würden und Freunde wären.“ Die Erklärungsnot schien ihm nicht zu gefallen. „Nur bist du über den Punkt schon eine ganze Weile hinaus und ich kann auch nicht mehr länger so tun, als würde es mir reichen, nur mit dir befreundet zu sein.“
„Wo liegt dann das Problem?“ Und da sagte man immer, Frauen wären schwierig.
„Ich bin nicht hergekommen, um mich in dich zu verlieben“, wies Jess mich darauf hin. „Es kann sogar sein, dass ich dafür eine Menge Ärger bekomme!“
„Von wem?“
„Na, von allen.“ Wir folgten dem Fluss, doch der versiegte plötzlich in einem Felsen.
Es mussten Stunden gewesen sein und nun standen wir vor einer Sackgasse. Wir hörten das Wasser rauschen und als wir über den nächsten großen Felsen kletterten, sahen wir einen kleinen Wasserfall. Das Wasser bildete einen See am unteren Ende.
„Es steigt nicht, also fließt es ab“, bemerkte ich nur. Ich würde wütend, weil Jess offenbar etwas für mich übrig hatte, ich aber den Grund für sein Zögern nicht verstand. „Lass uns endlich hier verschwinden.“
Jess starrte zu der Tauchmöglichkeit, die sich uns bot. „Douphne ...“
„Nein“, fuhr ich ihn an. „Verdammt, Jess! Du willst, dass alles in der Höhle bleibt, was hier passiert ist? Fein, aber ich will mich nicht länger mit dir hier drin aufhalten, nur, damit du mir immer und immer wieder wehtun kannst!“
Er drehte sich zu mir um und sah mich an. Für einen Bruchteil einer Sekunde war er verletzt, doch dann wich der Blick der Angst. Er bewegte sich kaum, als er plötzlich den Halt verlor und fiel.
„Jess!“
Ich konnte kaum einen klaren Gedanken fassen, bei den Erinnerungen, die mich übermannten.
„Das wird wieder.“ Ich starrte auf die Wasseroberfläche, in die wir wohl oder übel tauchen mussten, wollte für ihn optimistisch sein.
„Wird es nicht ...“ Jess atmete schwer, holte Luft. „Das weißt du …“
Ich wusste es, doch ich wollte ihn nicht aufgeben.
„Hör mir zu …“ Seine Stimme klang leise und rau. „…Ich war …gemein zu dir … Es tut mir leid …“
„Ist okay.“ Ich versuchte, zu lächeln.
„Ist es nicht“, widersprach er mir. „Ich wollte …dir nie wehtun … Ich bin ...verrückt nach dir ...“
Mit einem Lächeln im Gesicht, nickte ich.
„Ich verzeihe dir.“ Ich beugte mich zu ihm herunter. „Ich bin verliebt in dich, Jess.“
„Ich ...weiß ...“ Er lächelte. „Wenn wir ...hier raus sind, ...dann ...versuchen wir es, ...okay?“
Es war ein Hoffnungsschimmer.
„Okay.“ Meine Augen füllten sich mit Tränen und ich schloss meine Lippen auf seine. „Du und ich, wenn das hier vorbei ist.“
„Lass mich ...dir sagen …weshalb ich ...in Spellington bin …“
„Nein“, unterbrach ich ihn. „Wir bringen dich zum Gasthof zurück. Du kommst in ein Krankenhaus und wirst wieder gesund!“
Ihn so zu sehen, zerriss mir das Herz. Mir wurde in diesem Augenblick klar, dass ich ihn liebte. Er sah mir in die Augen und ich sah seine Angst. Er hatte Angst, zu sterben. Das konnte ich nicht zulassen, wollte es nicht.
Ich sah auf das Wasser und sah Licht hindurch schimmern.
„Es ist nicht weit.“ Ich hoffte inständig, dass ich Recht hatte.
Jess war schlimm verletzt gewesen.
„Jess stirbt“, stellte Enya erschrocken fest.
Die Hektik der Ärzte ließ nach. Die Schwestern packten ihre Geräte weg und als Ray den traurigen Blick des Arztes auffing, als dieser die Intensivstation verließ, wusste er, dass Jess es nicht geschafft hatte.
Die Schwestern leisteten keinen Widerstand, als ich erneut auf sein Bett zuschritt und mich zu ihm setzte. Die Herzschlaglinie auf dem Monitor war noch immer gerade und eine Schwester schaltete ihn aus. Ich schluchzte, weinte und griff nach Jess‘ Hand.
Schließlich sackte ich mit dem Kopf auf seine Brust und Kai, der nicht wusste, was er tun sollte, stand bloß daneben und sah mich an, dann zu Ray. Sie wussten nicht, was sie tun sollten.
„Wieso kämpfst du nicht“, schluchzte ich. „Wieso lässt du dich umhauen? Es ist alles meine Schuld.“
„Das ist es nicht“, sagte Ray sofort eindringlich.
„Doch, das ist es“, klagte ich. „Er ist bloß gestürzt und hat sich verletzt, weil ich ihn abgelenkt habe! Er wäre nicht gestürzt, wenn ich ihn nicht so angemacht hätte!“ Ich sank mit dem Kopf wieder zurück auf Jess‘ Brust. „Es tut mir so leid, Jess. Ich brauche dich doch. Ich weiß, ich werde nie erfahren, warum du bei uns bist und auch nie, wo mein Vater wohnt, aber darum geht es mir nicht. Ich will dich nicht verlieren. Wir haben uns auf etwas geeinigt, haben es uns versprochen.“
Kai legte seine Hand auf meinen Rücken.
„Douphne.“ Es klang behutsam. „Er hört dich nicht. Jess ist …er ist tot, Douphne.“
Ich schluchzte noch lauter. „Bitte verlass mich nicht, Jess.“
Doch dann gab ich nach.
Kai zog mich auf die Beine. Sofort schloss Ray mich in die Arme und führte mich durch den Raum, auf die Türe zu. Caitlin und Enya waren schon draußen, als wir das Krankenhaus verließen.
Jess! Diese Erinnerungen! Ich sprang erschrocken von der Bank und Mr. Noyagi sah mich ebenso erschrocken an. Jess war tot? Aber wie konnte es sein, dass er dann noch lebte?
„Daphne-San?“
„Jess ist tot!“ Ich war panisch, hatte den Schmerz gefühlt, den ich an diesem Abend gespürt hatte. Ich hatte so sehr gelitten, dass es sich anfühlte, als würde mein Herz zerspringen.
„Jess nicht tot seien“, sagte Noyagi sanft. „Jess leben.“
„Aber wie … Wie?“
So viele Erinnerungen waren in meinem Kopf. Ich konnte sie nicht ordnen, sie nicht zusammenfügen und doch waren da noch mehr. Mein Kopf pochte.
Jess stellte sich vor die Türe. „Rede mit mir.“
Ich schluchzte laut. „Du bist tot. Ich habe mit dir gesprochen, am Krankenbett, habe dich angefleht, mich nicht alleine zu lassen, doch du hast einfach aufgegeben.“
„Habe ich nicht.“ Jess legte die Hand an die Türe. „Ich stehe hier und ich lebe. Ich habe nicht aufgegeben. Ich konnte doch nicht gehen, ohne mich bei dir zu bedanken.“
„Wofür?“
„Du hast alles getan, um mich zu retten.“ Jess lächelte, obwohl ich es nicht sehen konnte. „Weißt du, wenn man im Sterben liegt, wird einem einiges klar. Ich sagte zu dir, dass ich gemein war und dass es mir leidtat. Das tut es mir wirklich, Douphne. Es tut mir alles so unendlich leid.“
Ich schluchzte noch immer.
„Ich habe mich verhalten, wie der mieseste Dreckskerl, der je auf Erden gewandelt ist“, gestand er. „Doch du hast mir das Leben gerettet. Du wolltest mich nicht aufgeben und hast um mich gekämpft. Es war nicht deine Schuld, dass ich gestürzt bin. Du warst nicht dafür verantwortlich und es tut mir leid, dass du so lange mit diesem falschen Schuldgefühl leben musstest.“
Ich öffnete die Kabinentüre und sah Jess in die Augen. Ich zog ihm den Hut vom Kopf und er zog sich selber das Tuch von Mund und Nase.
„Du bist es wirklich.“ Ein Teil von mir hatte immer noch daran gezweifelt.
Ich legte die Hand an seine Wange. Die Trauer verflog und nur ein einziges Gefühl machte sich breit. Unglaubliche Freude.
„Ich möchte bleiben und mein Verhalten wiedergutmachen.“ Jess sah mir unentwegt in die Augen. „Kein Plan und keine Lügen mehr. Nur ich, wie ich hier vor dir stehe.“
„Warum? Weil du verrückt nach mir bist?“ Ich lächelte.
„Deshalb bin ich hier, aber darüber reden wir, wenn sich alles wieder beruhigt hat.“
Im nächsten Moment warf ich mich an seinen Hals und er nahm mich in den Arm. Ich weinte, doch nicht mehr aus Trauer. Dieses Mal waren es Freudentränen.
Mir wurde das Gefühl klar, das ich gehabt hatte. Der Schmerz, den ich gefühlt hatte. Ich hatte Jess geliebt. Die letzte Erinnerung, die mir an ihn geblieben war, war eine, die mir klarmachte, dass ich ihn wirklich geliebt hatte.
Er hob sein Shirt an und drehte sich zu mir. Eine Narbe, ungefähr so breit und etwas länger als ein Zeigefinger zog sich über seinen Bauch.
Ich ging sanft mit den Fingern darüber.
Jess lächelte mich an. „Wie geht es dir? Hast du diesen Tag verkraftet?“
„Mein Tag wurde leider noch viel schlimmer.“ Noch immer starrte ich auf die Narbe. In meinen Gedanken ließ ich alles Revue passieren. Mit ihm an diesem Tag festzusitzen, war eine schlimme Erfahrung für uns gewesen. „Die Höhle war leider nicht mein schlimmstes Erlebnis.“ Sein Tod war es gewesen.
„Es tut mir so leid.“ Jess legte den Arm um mich und wir sahen zusammen hinaus aufs Wasser. „Ich bin in dein Leben getreten, habe dich verletzt und dich dann einfach leidend zurückgelassen.“
„Das ist nicht mehr wichtig.“ Ich lehnte mich bei ihm an. „Du bist wieder da und das ist alles, was zählt.“
„Komm her.“ Seine Hand glitt an meinen Nacken und er sah mir in die Augen.
„Ist es plötzlich in Ordnung, dass du es willst?“ Ich erwiderte seinen Blick.
„Nicht wirklich.“ Er drückte mir einen Kuss auf die Lippen. „Aber, wenigstens hier und jetzt, will ich nicht darüber nachdenken.“
Er zog mich näher an sich heran und seine Lippen schlossen sich zärtlich auf meine.
„Jemandem, der mir sehr wichtig ist, ist nicht wohl dabei, dass du und ich ...“ Jess zögerte. „Ich habe auch meinen Ruf, musst du wissen. Ich bin, genau wie Kai, nicht dafür bekannt, dass ich ernste Sachen schätze.“
„Wäre das hier ernst für dich?“
„Ich weiß es nicht“, gestand er. „Ich habe dir versprochen, dass wir es versuchen, aber ich muss wohl erst jemandem beweisen, dass ich es Wert bin.“
„Wem?“ Ich hatte eine Vermutung.
Jess‘ Hände strichen über meinen Rücken und hinderten mich am Zurückweichen.
„Nicht deinem Vater.“ Er klang aufrichtig. „Dein Vater weiß nicht, dass ich bei dir bin. Es tut mir leid, falls du das gehofft hast.“
„Schon in Ordnung.“ Ich lächelte. „Ich würde nur gerne wissen, wer solch eine Macht über deine Gefühle hat.“
„Das spielt keine Rolle, weil ich selber auch an mir zweifle“, gab Jess zu. „Ich habe dich unglaublich gern und du hast mir sehr gefehlt. Ich habe gelitten, als ich erfahren habe, was du durchmachen musstest. Ich fürchte nur, dass wir es sehr langsam angehen lassen müssen.“
Ich lächelte sanft. Mir war klar, dass meine Gefühle für ihn wesentlich größer waren, als seine für mich. Ich gefiel ihm und er war verknallt in mich. Er mochte mich als gute Freundin, doch er liebte mich nicht. Das war in Ordnung.
„Wir sind Freunde, Jess.“ Ich nahm seine Hand. „Wir waren es vorher und sind es jetzt erst recht.“
„Wir müssen nicht nur Freunde sein.“ Es klang hoffend. „Ich weiß nicht, was genau ich für dich fühle, das sage ich dir ganz ehrlich, aber ich weiß ganz sicher, dass es nicht nur Freundschaft ist.“
Ich schmiegte mich an ihn und gab ihm einen Kuss. Ich genoss es, denn es würde der letzte sein.
„Es ist die Höhle.“ Ich lächelte leicht. „Es ist die Narbe. Es ist die Angst, die wir hatten. Das alles verbindet uns auf eine besondere Art und das kann uns niemand mehr nehmen. Wir werden also immer etwas mehr als Freunde sein, aber das macht aus uns jetzt kein Paar.“
Ich hatte ihn geliebt. Liebte ich ihn noch immer? Er hatte es gewusst und doch verschwieg er es mir, seitdem ich zurück war. Hatten es die anderen gewusst?
Eine Sache schockte mich beinahe noch mehr, als die Erkenntnis, wer Jess McKeown für mich gewesen war. Jess kannte meinen Vater. Was hatte das alles zu bedeuten?