Als Louis am Morgen erwachte, war er alleine.
Von Lysander keine Spur.
Aber das war nichts Außergewöhnliches nach einer Nacht wie dieser, die dem Vampir nur zum Vergnügen und zur Nahrungsaufnahme gedient hatte. Louis störte das auch nicht weiter, denn er sah es als willkommene Abwechslung in seinem eigenen, zurzeit doch sehr eintönigen, Leben.
Er hatte nach seiner letzten kurzen, aber heftigen Beziehung die Nase erst mal voll und lebte seitdem ein unspektakuläres Singleleben. Da er sowohl auf Männer als auch auf Frauen stand, machte es ihm nichts aus, dem Drängen Lysanders von Zeit zu Zeit nachzugeben und mit ihm zu schlafen. Sie kannten sich schon so lange, dass ihre Vertrautheit fast alles möglich machte und da für sie beide keine One-Night-Stands infrage kamen, war es eine akzeptable Lösung, solange keiner von ihnen in einer festen Beziehung steckte oder den anderen ausnutzte. Und das war nicht der Fall.
Louis schwang die Beine über die Bettkante und setzte sich erst einmal hin. Ihm war etwas schwindelig zumute und sein Hals schmerzte.
Lysander war ziemlich unbeherrscht gewesen.
So hatte Louis ihn selten erlebt, außer wenn er das Bluttrinken zu lange vor sich herschob. Dann konnte es auch schon mal passieren, dass der Vampir ein wenig die Kontrolle über sich verlor.
Ansonsten war er eigentlich sanft und ging vorsichtig mit Louis um.
Aber vergangene Nacht hatte sein Freund und Boss fast völlig die Beherrschung verloren, obwohl Louis’ letzte Blutspende an ihn erst knapp zwei Wochen zurücklag.
Seufzend stand der Dunkelhaarige auf und ging hinüber ins Bad. Er begutachtete seinen Hals im Spiegel, aber bis auf einen kleinen, blauen Fleck war dort nichts zu sehen. Lysander hatte die Wunde, wie immer, sorgfältig verschlossen und auch an Louis’ restlichem Körper fanden sich keinerlei Hinweise auf das, was letzte Nacht zwischen den beiden stattgefunden hatte.
Der junge Mann schüttelte den Kopf und überlegte noch einen Moment, was den Vampir so hatte außer Kontrolle geraten lassen, aber er fand keine Antwort darauf. Also nahm er sich vor, ihn später anzusprechen, falls sich die Gelegenheit ergab.
Nachdem Louis sein allmorgendliches Ritual durchgezogen hatte, kehrte er wieder ins Schlafzimmer zurück. Am Fenster blieb er einige Minuten stehen und beobachtete die aufgehende Sonne, die sich langsam immer höher in den wolkenlosen Himmel schob.
Es war ein klarer, kalter Morgen und über Nacht hatte es ein paar Zentimeter geschneit. Die Landschaft lag unter einer dichten, weißen Decke, die im Licht der Sonne glitzerte.
Ein richtiges Winter Wonderland dachte Louis und riss sich von dem faszinierenden Anblick los. Er zog sich an, verließ das Zimmer und stieg die schmale Holztreppe hinab.
Er ging in die Küche, wo er am Kühlschrank eine Notiz von Lysander vorfand.
Guten Morgen, Louis!
Verzeih, dass ich dich nicht geweckt habe.
Um die Pferde brauchst du dich nicht zu kümmern - die sind versorgt. Wir könnten mit den beiden später einen kleinen Ausritt machen, wenn du magst.
Ich bin jetzt erst mal unterwegs, ein paar Sachen erledigen.
Bis dann
PS: Kaffee ist in der Thermoskanne
Schmunzelnd legte Louis den Zettel beiseite, goss sich eine Tasse Kaffee ein und setzte sich an den Küchentisch ...
~
Zur selben Zeit war im Visby-Stall die Morgenfütterung gerade vorbei und Riley verschwand zusammen mit Eric zum Frühstücken in der Unterkunft. Während der Jüngere noch ein paar Eier briet, stellte Rye seinen Laptop auf den Tisch, was bei seinem Mitbewohner ein unwilliges Brummen und Augenrollen verursachte.
»Kann das nicht bis nach dem Frühstück warten?«
Riley hob eine Augenbraue: »Nein?!« Er konnte nicht verstehen, warum Eric so allergisch reagierte. Es kam ja nicht jeden Tag vor, dass ein Laptop beim Essen auf dem Tisch stand. Heute ließ es sich aber nicht vermeiden, weil Rye etwas nachschauen musste und später erst mal keine Zeit dafür war. Also ignorierte er das Geknurre seines Kollegen und checkte seine E-Mails. Wie gedacht, war eine Antwort von Jeremy dabei. Riley öffnete diese leise seufzend und las sie dann halblaut vor:
Hi Rye!
Danke für deine Antwort.
Dienstag um 14.00 Uhr geht in Ordnung.
Ich freu mich schon auf dich.
Gruß Jeremy
Eric, der sich ihm gegenüber niedergelassen hatte, schaute ihn fragend an. »Wer freut sich schon auf dich?«
Erneut seufzend sah Riley auf und seinem Mitbewohner in die Augen.
»Ein alter ... ehemaliger Freund ... von Tyler und mir. Er ist bei seinen Verwandten hier auf der Insel zu Besuch und will sich mit mir treffen. Eigentlich wollte ich ihm ja absagen, aber da er mich nicht in Ruhe lassen würde und ich vermeiden möchte, dass er hier plötzlich auf dem Hof steht, hab ich ihm für Dienstag ein Treffen vorgeschlagen - in Visby. Ich hab zwar kein gutes Gefühl dabei, aber ...«
»Na ja, auf dem Markt bist du wenigstens nicht alleine mit ihm. Wird schon schiefgehen«, erwiderte der Blonde und schob sich den Rest Ei in den Mund.
Riley zuckte mit den Schultern: »Wir werden sehen. Aber mal was anderes. Meine Schwester hat hier ganz in der Nähe ein Haus und wenn wir wollen, können wir das von ihr mieten. Sie hat mir nen Schlüssel da gelassen und ich wollte mir das morgen mal anschauen. Hättest du Interesse, Zeit und Lust mitzukommen?«
»Ein Haus mieten? Hmmm ...«, Eric überlegte einen Augenblick, dann fuhr er fort: »na ja, wir können es uns ja mal ansehen. Wenn es groß genug ist, dass wir uns nicht auf die Nerven gehen ... Warum nicht?!« Damit stand er auf, räumte sein Geschirr in die Spüle und sagte im Hinausgehen: »Ich bin in der Werkstatt. Klopf auf die Tür, wenn ihr mit Misten anfangt.«
Riley frühstückte zu Ende und surfte nebenbei noch ein wenig im Internet. Er hatte es gestern nicht geschafft, dieses Phänomen, was er bei dem Fremden gesehen hatte, zu googlen.
Wie hatte der es genannt? Heterochromie? Rye gab das Wort ein und las dann interessiert, was das Netz darüber ausspuckte. Nachdem er mit dem Artikel fertig war, lehnte er sich im Stuhl zurück, nahm einen Schluck seines Kaffees und ließ seine Gedanken schweifen. Warum ging dieser Kerl ihm nicht mehr aus dem Kopf? Was war so besonders an ihm, dass er, Riley, schon anfing Sachen nachzuforschen? Auch wenn zweierlei Augenfarbe nicht alltäglich war, hätte er normalerweise keinen weiteren Gedanken daran verschwendet.
Okay, der Typ sah nicht schlecht aus und seine Art war sehr
sympathisch, aber welche Chance gab es, ihn wiederzutreffen ... außer durch einen riesengroßen Zufall?! Nein, an solche Zufälle glaubte Riley nicht. Wahrscheinlich war der Fremde nur zu Besuch bei jemandem gewesen, hatte sich den Weihnachtsmarkt angesehen und war schon längst wieder zu Hause, verschwendete seinerseits keinerlei Gedanken an ihn, Riley. Er klappte den Laptop zu, stand auf und machte sich daran, das Geschirr wegzuspülen. Er hatte keine Zeit für irgendwelche unsinnigen Schwärmereien. Einen klaren Kopf, das war es, was er brauchte, wenn er mit den Pferden arbeitete.
»Schluss mit dem Unsinn«, rief er sich selbst zur Ordnung, zog sich seine Jacke wieder über und verließ die Unterkunft Richtung Stall.
Zwei Stunden später waren die Boxen gemistet und die Pferde, bis auf die, die zur Reitstunde gebraucht wurden, auf den Paddocks verteilt. Eric war wieder in seiner Werkstatt verschwunden und Riley hatte kurz noch einmal mit seiner Chefin besprochen, was er bezüglich der Reitschülerinnen zu tun hatte, die in Kürze auftauchen würden.
»Da das Wetter ja mitspielt, kannst du mit den Mädels einen Ausritt machen. Das tut den Pferden auch gut«, waren Johannas letzte Worte an ihn gewesen, bevor sie sich grinsend aus dem Staub gemacht hatte.
»Wird bestimmt lustig«, meinte Sarah, die, wieder mal seine Nähe suchend, noch ein wenig bei Riley im Stall geblieben war. Der junge Mann ließ sich auf einen Strohballen im Gang fallen und sagte mit einem schiefen Grinsen: »Ja, bestimmt ... sehr lustig.« Mit Grauen dachte er an eine Meute aus fünf pubertierenden, kichernden Mädchen, die er für mindestens zwei Stunden beaufsichtigen musste. Auch wenn ein Ausritt die bessere Alternative zur Reitstunde in der stickigen Halle war, blieb doch die Tatsache, dass so viele Mädels auf einem Haufen, schon nervend sein konnten. Leise seufzte Riley und Sarah strich ihm über den Arm: »Na, so schlimm wird es schon nicht.«
»Wir werden sehen«, gab der Dunkelhaarige knapp zurück und entzog sich kopfschüttelnd ihren Zudringlichkeiten.
Kurz darauf waren Rileys Reitschülerinnen da.
Nachdem er ihnen die, von Johanna ausgesuchten Pferde, zugeteilt hatte, wurde das anfängliche Gewusel und Geschnatter weniger. Jedes Mädchen war mit seinem zugewiesenen Tier beschäftigt. So konnte Rye für einen Moment durchatmen und schaute erstaunt auf, als Eric den Stall betrat.
»Ich hab mir überlegt, dass ich dich ein wenig unterstützen und mitkommen könnte. Wer weiß, wie lange das schöne Wetter anhält und die Möglichkeit für Ausritte besteht«, sagte der Blonde und blieb neben seinem Kollegen stehen, »oder möchtest du lieber mit der Horde hier alleine sein?«
Er grinste Riley an und dieser erwiderte: »Ich wäre für deine Unterstützung sehr dankbar.«
Eric nickte und flitzte los, um sein Nordschwedisches Kaltblut vom Paddock zu holen.
Als sie eine halbe Stunde später den Hof verließen, strahlte die Sonne mit den Gesichtern der Mädchen um die Wette. Da sie sich ja eigentlich auf eine Stunde in der Reithalle eingerichtet hatten, waren sie umso begeisterter, dass sie nun, in Begleitung zweier hübscher Männer, einen Ausritt durch die verschneite Landschaft machen durften. Entsprechend groß war die Aufregung und die Münder der Mädels standen nicht still.
Die beiden Jungs warfen sich einen amüsierten Blick zu und konnten sich das Grinsen nicht verkneifen.
Als sie das Gelände des Visby-Stalls hinter sich gelassen hatten, übernahm Rye die Spitze der kleinen Gruppe, während sein Kollege sich als Absicherung nach hinten ans Ende fallen ließ, um zu garantieren, dass auch alle mitkamen. Der Ältere führte die Truppe um die Stadt herum, vorbei an der Fährstation und dem kleinen Café, weiter am Wasser entlang, wo sie die Pferde in einen leichten Galopp fallen ließen. Kurz vor einer Baustelle am Ende des Weges, parierten sie wieder durch zum Schritt, bevor Riley sie nach links und kurz darauf, an der folgenden Gabelung, nach rechts den Weg ein Stück hinauf führte. Bei der nächsten Möglichkeit allerdings hielt er sich wieder links und leitete die Gruppe über einen schmalen Weg zurück nach Visby.
Sie ritten durch den oberen, östlichen Eingang zur Stadt und durchquerten diese im Schritttempo, bevor sie sie kurz darauf durch das westliche Tor verließen und nun wieder auf dem Weg waren, der direkt zum Stall führte ...
Nachdem die Mädchen ihre Pferde versorgt hatten und diese auf den Ausläufen standen, bedankten sie sich bei den beiden Jungs für den schönen Ausritt und machten sich dann auf den Heimweg. Johanna, die das Ganze schmunzelnd beobachtet hatte, kam ihrerseits nun herüber und sagte: »Das hat ja anscheinend gut geklappt.« Die beiden Angesprochenen nickten und Eric erwiderte: »Hat es. Das können wir gerne noch mal machen. Aber jetzt werd ich mich mal wieder meiner Arbeit widmen, sonst hab ich am Montag nicht genug Zeug für meinen Stand.«
Damit drehte er sich um und verschwand durch das schwere Holztor aus dem Stall und in seine Werkstatt.
Die beiden anderen sahen ihm einen Moment hinterher, dann meinte Johanna: »Lily sagte mir, sie habe eine anständige Bleibe für Eric und dich?!« Riley sah seine Chefin an und antwortete: »Ja, sie hat ein Haus in der Nähe der Sunfield Farm. Das steht wohl schon ne Weile leer, da sie ja in Dalhem wohnt und auch nicht vorhat, das zu ändern. Wir wollten uns das morgen mal anschauen, Eric und ich, und wenn‘ s passt, warum nicht? Die Unterkunft hier ist ja sowieso nur eine Lösung auf Zeit und spätestens nach dem Winter brauchst du die Hütten ja wieder für deine Gäste.«
»Das stimmt. Von daher ist es gar nicht schlecht, wenn ihr euch das Haus mal anschaut. Und zusammen dürften die Kosten ja finanzierbar sein. Ihr habt ja auch beide nen Job und den könnt ihr auch behalten, wenn ihr mir nicht gerade meine Pferde klaut«, sagte Johanna grinsend, »selbst wenn mein Stallmeister und der Lehrjunge im Frühjahr mit den restlichen Pferden wieder zurück sind, brauchen wir immer noch Hilfe und dich, als Bereiter und Reitlehrer, kann ich sowieso gebrauchen. Eric hat sich mit seiner Arbeit als Sattler auch schon längst bewährt und vielleicht kann er sich ja mit ‘nem kleinen Laden selbstständig machen ... Wer weiß. Dann ist allen gedient.«
»Ja, es scheint alles recht gut anzulaufen. Hoffen wir mal, dass es so bleibt«, erwiderte Riley. Er überlegte einen Moment, bevor er fortfuhr: »Ich werde noch ne kleine Runde mit Flame drehen. Das Wetter ist so schön und es ist ja noch früh.«
»Mach das. Ich hab auch noch was zu tun. Bis später«, sagte seine Chefin und gemeinsam verließen sie den Stall.
Während Johanna sich auf den Weg zum Wohnhaus machte, lief Rye erneut hinunter zu den Ausläufen der Pferde und fing die dunkelbraune Stute ein.
»So, Mädchen, dann wollen wir dich mal schick machen und für etwas Bewegung sorgen«, damit brachte er Flame nach oben in den Stall und band sie dort in der Stallgasse an.
Mit der Bürste entfernte Riley den groben Dreck aus dem Fell des Pferdes und sattelte es anschließend. Er führte die Stute auf den Hof, gurtete den Sattel nach, schwang sich auf ihren Rücken und verließ im Schritt das Gelände.
Zwar war es kalt, aber dadurch, dass die Sonne schien, war es trotzdem gut auszuhalten.
Riley ritt fast den gleichen Weg, den er eher mit der Gruppe genommen hatte. Allerdings hielt er sich an der Baustelle nicht links, sondern rechts und nahm den Weg in Richtung der Angelstege.
Nun lag eine große Wiese vor ihm, die dazu einlud, Flame einmal laufen zu lassen und genau das tat Riley. Er trieb das Pferd in einen leichten Galopp, stellte sich in die Bügel und gab ihm die Zügel frei. Flame streckte sich unter ihm und sie flogen in einem ordentlichen Tempo über die schneebedeckte Wiese. Am Ende des Grundstücks lenkte Riley das Tier in eine leichte Rechtskurve und parierte die Stute dann langsam durch. Ihren Hals kraulend, ritt er im Schritt auf den angrenzenden Strand zu, als Flame plötzlich unruhig zu tänzeln begann. Sie riss den Kopf hoch und wieherte schrill ... und sie bekam Antwort.