Ein Hund postierte sich mit gesengtem Kopf vor ihrem Versteck und musterte die beiden aus kleinen runden Knopfaugen. Seine Rute wedelte derweil frohen Mutes von links nach rechts. Manchmal sah es aus, als würde diese sich im Kreis bewegen.
Sie sahen nicht wer oder was diesen seltsamen Schrei verursacht haben musste, jedoch schienen die aufgetauchten Soldaten nun selbst in Bedrängnis geraten zu sein.
Veyed saß bereits mit den Füßen vorausgestreckt auf dem Hosenboden und versuchte sich vergebens weiter nach hinten zu schieben, lediglich Kayden änderte seine angespannte Haltung. Ihm stahl sich ein Lächeln auf die Lippen, als er begann seine rechte Hand voraus zu strecken. »Bist du von Sinnen, das Vieh zerreißt dich.« Flüsterte sein Bruder, doch Kayden schüttelte den Kopf und beugte sich furchtlos unter der ausgewaschenen Wurzel hervor. Er sah sich um, führte seine Bewegung zu Ende und kraulte dem Hund hinter den Ohren. »Nix wie weg, der Wald steht uns bei.«
Nachdem Kayden vollends im Freien kniete und den Vierbeiner widererkannte, umarmte er diesen kurzerhand und drückte sein Gesicht auf das seine. »Wir kennen uns doch«, stellte er nüchtern fest. »Du bist der Faulpelz aus der Schmiede.«
Noch immer lächelnd sah er zurück unter die Wurzel, zu seinem verängstigten Bruder, der nach wie vor dort kauerte und gedankenverloren ins Nichts blickte. »Veyed komm endlich, wir müssen weg«, bettelte er und sah sich rasch um.
Rufe und der Klang harter Hufe auf festen Grund ermahnten zur Eile. Nachdem Veyed noch immer nicht reagierte, schob er kurz entschlossen den Hund ins Versteck. »Hohl ihn.«
Unbedacht gehorchte dieser, kroch unter den Baum und leckte dem angstvoll dreinschauenden das schmutzige Gesicht. Dieser schüttelte die Benommenheit von sich und wehrte den Schlecker mit den Händen ab. »Hey, lass das. Ist ja gut, geh weg. Kay!«
»Los raus jetzt, sie kommen«, drängte er und klopfte mit der Rechten zweimal auf seinen Oberschenkel. Gebeugt stand er da und sah abwechselnd von links nach rechts - dorthin wo er wusste, dass die Bäume wieder Lichter wurden und die freie Wiesenfläche folgen würde.
Sie rannten, kaum das Veyed und ihr neuer Freund aus ihrem Versteck krochen. Ohne sich umzublicken, trugen ihre schmerzenden Füße und Beine sie näher an den Rand des Gehölzes und hinaus ins Freie. Eine weitreichende Wiese, die bisweilen niemand wagte zu bebauen, bestellen oder zu besiedeln. Ihre unmittelbare Nähe zum ›flüsternden Wald‹ hielt noch jeden fern, auch wenn ein breiter Bach den Grenzverlauf des Waldes markierte.
Hinter ihnen vernahmen sie das fortwährend aufholende Getrappel von Pferden und lauter werdendem Gebell. Trotz ihres Vorsprunges und der bereits bewältigten Strecke wagten sie es kaum zu hoffen, den berittenen Soldaten langfristig zu entkommen. Im Schutze des Gehölzes konnten sie sich für kurze Zeit verkriechen, wenn ihnen die Reiter zu nahe kamen. Hier auf freier Fläche hingegen, noch dazu mit wetteifernden Hunden, ein aussichtsloses Unterfangen. Dennoch, sie mussten es wagen.
Kaum das die Verfolger den Rand des Waldes erreichten und kein Baum mehr ihr Blickfeld verdeckte, begann die Hatz aufs Neue.
»Da vorn. Da Laufen sie!«
»Bleibt stehen ihr verdammten Blagen!«
»Verdammt, wir reißen euch die Beine raus, bleibt stehen!«
Sie liefen trotz übereifriger Mahnungen unaufhörlich weiter, war ihnen bewusst, würden sie tun wie geheißen.
Veyed gestattete sich einen kurzen Blick über die Schulter hinweg und verlor unmittelbar das Gleichgewicht. Sein Fuß verfehlte festen Grund und geriet in ein für ihn unsichtbares Hasenloch.
Mit ausgestreckten Armen stürzte er, der länge nach, dem Boden entgegen und schlitterte einen guten Schritt weit mit dem Gesicht voran. Ihm blieb nicht einmal Zeit einen begleitenden Schrei auszustoßen, um auf sich aufmerksam zu machen - lediglich ein Röcheln entwich seinem Halse. Kayden hingegen lief weiter und stockte erst, als ihr neuer Weggefährte kläffte und sich umwandte. Mit rasselndem Atem blieb nun auch er stehen und sah vornübergebeugt dorthin, wohin der Hund rann und fluchte. Er spuckte japsend aus und schaute hinüber zum hoffentlich rettenden Waldrand. »Scheiße verdammt.«
Er rutschte selber aus, als er Anlauf nahm, um Veyed zur Hilfe zu eilen. »Veyed!«
Gerufener hob mühsam den Blick und gab sich sichtlich Mühe sein linkes Bein aus einem Loch zu ziehen. Unbeholfen trat er auf und sackte sogleich wieder zusammen.
»Veyed, bitte!«
»Ich kann nicht«, flüsterte dieser und empfing aus dem Hintergrund Hohn und Gelächter.
Er biss die Zähne aufeinander und erhob sich abermals, stützende Hände griffen unter seine Achseln und erkannte Kayden.
»Komm schon, wir packen’s«, versuchte er ihn aufzumuntern und sah immer wieder zurück, wo die Männer mit ihren Hunden am Waldesrand ausharrten.
Worauf bloß warteten die Soldaten? Dass sie sich sicher fühlten, es tatsächlich schaffen zu können?
»Bleib lieber liegen, macht es dir doch nicht so schwer!«
»Sollen wir absteigen und euch zu Fuß holen kommen?!«
»Lass mich hier Kay. Lauf einfach weiter«, presste dessen Bruder durch aufeinandergepressten Zähnen hervor.
Anstatt auf ihn zu hören, beschleunigte dieser die Schritte und zog ihn humpelnd hinter sich her. »Einen Dreck werde ich. Komm jetzt.«
»Dann warten wir eben vorm beschissnen Wald auf euch!«
»Wess, Artax ... fass!«
Nicht nur die Hunde nahmen ihr Gebell wieder auf, auch die Soldaten brüllten siegessicher, als sie ihre Reittiere antrieben.
Der Bach verlief unmittelbar vor den ersten Bäumen des gemiedenen Forstes und dürfte während der Erntemonate nicht breiter sein, als ein gutes Pferd zu springen vermochte. Nur die Mutigsten wagten sich vor langer Zeit in diesen, um an vorbezeichneten Orten Holz zu schlagen. Jene beteuerten immer wieder, dass der Wald es war, der ihnen erlaubte, sein Reich zu betreten. Er war es auch, der ihnen den Weg wies und ermahnte, die Menge der zu schlagenden Bäume nicht zu überschreiten.
Unmittelbar vor dem Bach schrie Veyed auf und stieß seinen Bruder von sich. Er ließ sich fallen und umklammerte mit verzerrtem Gesicht sein Bein. Weinen schaukelte er sich vor und zurück. Das linke Hosenbein war der Länge nach bis zum Knie eingerissen und zeigte eine großflächig und stark blutende Abschürfung. Das Knie selber, so sah Kayden erst jetzt, schien irgendwie verdreht.
Tränen liefen ihm die Wangen hinab und schluchzte. »Veyed los doch, bitte.« Er den rechten Arm und zeigte zu den Bäumen des ›flüsternden Waldes‹. »Schau, da ist Wald. Onkel Alric wollte, dass wir dort hineingehen. Bitte komm.«
»Ahh, das tut so weh.« So hatte er seinen Bruder noch nie erlebt. Er jammerte und sein Blick schmerzte ihm im Herzen. »Geh, lass mich hier. Hau endlich ab!«
Er war nicht bei Sinnen, entschloss er. Trat hinter seinen Bruder und griff ihm unter die Arme.
Wie im Rabengehölz zuvor gehört, tönte wieder dieses lang gezogene Kreischen. Kayden sah auf und öffnete vor Erstaunen den Mund, er verfolgte ihren Flug hinein in die Wipfel des Waldes.
Wind frischte auf und eine Böe umspielte sein zausiges Haar. Der seichte Luftzug säuselte um sein Ohr und trug fremd klingende Worte an sein Gehör.
Tretet ein. In meinen Armen fühlt euch behütet und geborgen. Betretet meinen schützenden Wall.
»Das, das war der Falke«, besann sich Veyed und schien zumindest für den Augenblick seine Schmerzen vergessen zu können.
Verwundert sah er zu seinem jüngeren Bruder, auf den er aufpassen sollte und nicht anders herum. Er sah hinüber zu ihren gefährlich nahekommenden Verfolgern und versuchte in den großen Bäumen und den mahnend dunklen Schatten dazwischen etwas zu erkennen. Kaydens Blick war entrückt und stierte unentwegt dorthin.
Abermals erklang der verlockende Ruf.
In meinem Schutze dürft ihr leben. In meinem Schutze dürft ihr gedeihen.
»Kay, was ist.«
»Hörst du es?«
»Was verdammt? Kay wir müssen uns ergeben.« Er hatte Angst und wollte den Wald um alles in der Welt meiden. Ihr vierbeiniger Freund beugte sich knurrend nieder, seine Rute hielt er steil aufgerichtet.
Angesprochener hob die Brauen und wendete den Kopf hinüber zu den Soldaten des Lords und entschied. »Nein.«
Ungeahnte Kräfte halfen ihm, Veyed aufzuhieven. Er schob sich mit seinen Schultern unter seine Achsel und hielt ihn mit festem Griff aufrecht. Er zog ihn mehr, als das er eigenständig ging oder humpelte. Das verletzte Bein schien angeschwollen und er schaffte es nicht, es zu belasten. Schritt für Schritt nährten sie sich der Baumreihe und mit jedem getanen holte der Feind um die vielfachen auf.
Das kühle Nass des Baches wusch die Wunde und kühlte sie sogleich. Es prickelte unangenehm und pochte schmerzhaft. Den Weg bis ans andere Ufer würde er noch schaffen, so schwor er sich. Hauptsache Kay würde es schaffen.
Etwas flog nur wenige Fuß an ihnen vorbei und klatschte nutzlos ins Wasser. Ein Pfeil trieb auf der Oberfläche und ergab sich der seichten Strömung.
»Bleibt stehen oder der Nächste trifft!« Zur Erinnerung pfiff ein Weiterer heran und platschte ebenso ziellos neben sie. Nur noch wenige Schritte und sie konnten Hand an die Rinde der ersten Bäume legen.
Lasst euch nicht verfehlen, traut auf eure Herzen und Verstand. Tretet ein in meine schützende Umarmung.
»Hörst du es? Wir müssen weiter.«
»Kay, die schießen auf uns.«
Im blieb jedoch keine Möglichkeit, sich von seinem Bruder zu entfernen. Sein Bein ließ keinerlei Gegenwehr zu, noch hatte er die nötige Kraft sich zu widersetzen. Zu gegebener Situation war nicht er der Ältere, sondern der Hilfsbedürftige und Kayden zog ihn unaufhaltsam mit sich.
Stur, den Blick nicht weichend, zog er ihn weiter. Weiter in die näher rückenden Schatten der vor ihnen aufragenden Bäume. Bäume jenes Waldes, der gemeinhin als zu meiden, und nicht uneingeladen zu betreten galt.
Hinter ihnen hörten sie drohendes Gebell und plätschern, als die aufholenden Hunde ins Wasser sprangen. Kurz darauf durchdrang markerschütterndes Aufjaulen das anstrengende Getöse und rauschen in den Ohren.