JAMIE
Am Vortag konnten wir die Dreharbeiten in England abschließen und ich war froh, wieder amerikanischen Boden unter den Füßen zu spüren, da das ewige hin und herreisen nicht mein Fall war. Ich saß schon so gut wie im Taxi, als ich zufällig hörte, wie dieser Widerling die Frau auf der Straße anmachte. Bei solchen Aktionen konnte ich noch nicht untätig rumsitzen. >> Warten sie bitte kurz. Lassen sie ruhig das Taxameter schon laufen. <
Als sie sich zu mir umdrehte um mir ihren Dank auszusprechen, hätte ich schwören können, die Welt hörte für einen Augenblick auf sich zu drehen. Ich wollte meinen Augen nicht trauen, musste ein zweites Mal hinsehen. Alles wurde still. Ihr goldblondes Haar fiel ihr in weichen Locken ins Gesicht. Sie wirkte erwachsener, was der Tatsache zuzuschreiben war, dass wir erst siebzehn waren, als wir uns das letzte Mal sahen. Ihre feinen Züge waren jetzt ausdrucksvoller als früher. Trotzdem sah sie immer noch verdammt jung aus. Ihr beiger Mantel verdeckte das meiste ihrer Figur, jedoch versprach ihre Silhouette einen wohlgeformten Körper. Das war es wohl auch, was der Idiot vorhin sah. Man wollte sie auspacken und sehen, was sich unter dieser hübschen Verpackung verbarg.
Sie beendete ihren Satz nicht und auch ich musste mich kurz sammeln, um meine Stimme wieder zu finden. So oft malte ich mir in der Vergangenheit den Moment aus, in dem wir uns wiedersehen würden, wählte gedanklich die Worte mit Bedacht, doch nun war mein Kopf war leer. Nach der Trauer über ihren heimlichen Abgang kam die Wut, gefolgt von der Gleichgültigkeit. Die Gefühle, welche ich irgendwann tief in meiner Seele vergrub, tobten nun in meinem Inneren. Wie ein Tornado fegten sie durch meinen Kopf, erweckten alte Erinnerungen und setzten ihren Weg durch meinen Körper fort, bis jegliche alte Empfindung wie ein Phönix aus der Asche emporstieg und lichterloh neu entbrannte. Ich atmete tief durch, um die Kontrolle über die Situation zurück zu erlangen. Sie sollte mir nicht anmerken, dass ihre pure Anwesenheit mich derart aus der Fassung brachte.
>>Em. Wow. Was führt dich hierher? << Durch Ava wusste ich nur, dass sie inzwischen in Ohio lebte. Da hörte mein Wissen dann aber auch auf.
>> Ich…ich…<> mein Koffer. Er steckt fest. Deswegen komme ich nicht weg. << Sie runzelte die Stirn und dachte scheinbar über das nach, was sie gerade von sich gegeben hatte. Es war eine Genugtuung für mich, dass sie scheinbar ähnlich durcheinander war wie ich selbst. Sie schüttelte ihren hübschen Kopf, kniff die Augen zusammen und sagte dann: >> Du meintest mit hier nicht die Straße, sondern New York, oder? <<
Ich musste lächeln. >> Ja, wobei diese Erläuterung zu deinem Koffer auch sehr interessant war. << Emilys Schmunzeln über meine Antwort traf mich unerwartet. Es war dasselbe wunderschöne Lächeln, in welches ich mich vor mehr als sechs Jahren verliebte. Wir waren beide erwachsen geworden, doch wir waren auch immer noch wir selbst. Das war keine Fremde die vor mir stand, das war Em. >> Es ist schön dich zu sehen. << Ich grinste sie an und sie erwiderte es. Als ein Taxifahrer hupend an uns vorbeifuhr, schreckten wir beide auf. Wir standen noch immer am Straßenrand.
>> Kann ich dir helfen? << Ich richtete den Blick auf ihr Gepäck.
>> Er ist reingerutscht und jetzt steckt er fest und ich krieg ihn nicht mehr raus. << Em sah mich verzweifelt an. Hörte sie sich selbst beim Sprechen zu? Meine unausgesprochene Frage wurde beantwortet indem Ems Gesicht ganz plötzlich rot anlief. Okay, die Zweideutigkeit ihrer Aussage war nun auch bei ihr angekommen. Wir prusteten beide los. Ich beugte mich hinunter, um zu schauen wo der Koffer festhing und drehte eine der Rollen zur Seite. Sofort ließ er sich von dem Gullideckel befreien.
>> Ihr Koffer ist nun wieder frei verfügbar, Madame. <<
>> Danke, Jamie. << Meinen Namen aus ihrem Mund zu hören war eigenartig. Es war schön. Ich wollte es wieder öfter hören. Wir überquerten gemeinsam die Straße.
>> Besuchst du Mason? << Ich brauchte mehr Informationen. So einfach ließ ich sie nicht gehen.
>> Ja. Unter anderem . Aber jetzt wollte ich sofort ins Hotel. Ich kann Avas Zimmer übernehmen solange ich hier bin. Und es ist spät… << Sie sah etwas schüchtern zu Boden. Sie bezog also das Zimmer gleich neben meinem. Das durfte interessant werden.
>> Nun, dann haben wir dasselbe Ziel. Sollen wir vielleicht zusammen fahren? << Unbehagen machte in mir breit. Was wenn sie nein sagte?
>> Ähm…klar. <<
>> Super. << Ich ging vor, zu dem Taxi in dem ich bereits meine Tasche verstaut hatte und öffnete den Kofferraum. >> Darf ich? << Ich richtete den Blick auf ihren Koffer und sie nickte.
Die Taxifahrt verlief ruhig. Ich war mir ihrer Nähe sehr bewusst. Es hörte sich wahrscheinlich dämlich an, doch sie roch genauso süß wie früher: Nach Blumen und Kaugummi. Am liebsten hätte ich die Nase in ihrer Halsbeuge versenkt. Ich bemühte mich, sie nicht zu offensichtlich anzustarren, doch die gesamte Situation war derart unwirklich, dass ich mir immer wieder selbst versichern musste, nicht zu halluzinieren. Ihr Brustkorb hob und senkte sich unter dem Mantel schnell und in kurzen Abständen, was darauf hindeutete, dass sie ebenfalls nervös war. Viel zu schnell erreichten wir das Hotel. Schweigend folgte ich Em zur Rezeption um die Karte zu Avas Zimmer zu holen.
Im Aufzug standen wir einander gegenüber und blickten uns in die Augen. Diese Frau, von der ich im Grunde rein gar nichts mehr wusste, war mir immer noch vertraut. Ich wollte wissen, ob sie immer noch so schmeckte wie früher, ob sie dieselben Laute von sich gab wenn ich sie küsste.
Alles überschattend war da jedoch die Frage nach dem Warum. Warum ist sie gegangen? Warum hat sie sich nie wieder gemeldet?
Was habe ich ihr angetan, dass sie mir nicht persönlich sagen konnte, weshalb sie mich verlassen hat?