So ihr Lieben,
nun ist das Drama mal wieder vorbei und nun wird es in den kommenden Kapiteln ein wenig um Schadensbegrenzung etc. gehen. Für jetzt habe ich erst einmal ein kleines Gespräch für euch belauscht. Sicher habt ihr euch auch gefragt, wie, bei der Nornen Willen, Jorunn das, was passiert ist, Thorstein schonend beibringen will.
Hier ist die Lösung.
Viel Spaß und bis bald!
Eure Sophie
Zur gleichen Zeit saß Jorunn an Thorsteins Lager. Sie hatte ihm die kleine Solvig abgenommen, damit der Mann sich bequem aufrichten konnte.
"Wir haben sie gefunden", gestand sie ihm dann leise. "Doch es ist schlimmer als alles, was wir vermutet hatten."
Ruckartig kam der Steuermann hoch und hielt sich sofort wieder keuchend die linke Seite. Ein Hustenanfall folgte der schneller Bewegung und wieder spuckte der Verletzte Schleim und altes Blut.
"Du musst bei deinen Bewegungen vorsichtiger sein", wies die Völva ihn noch einmal an. "Ganz sicher hat eine der gebrochenen Rippen dich innerlich verletzt. Und es nützt niemandem etwas, wenn du zu allem Unglück auch noch ein Lungenfieber bekommst!"
Thorstein wischte sich über den Mund. Sie hatte ja recht. Aber seitdem Rúna nicht nach Hause gekommen war, begann er vor Angst verrückt zu werden. Erst hatte er gedacht, Lathgertha habe sie noch ein wenig aufgehalten. Manchmal plauderten Frauen gern einmal ohne männliche Zuhörer. Doch dann war er in der Nacht davon wach geworden, dass die kleine Solvig jämmerlich weinte. Der Platz neben ihm war leer und er musste einsehen, dass seine Gefährtin nicht hier war. Mühsam hatte er das Mädchen trocken gelegt und war froh, als es danach sofort wieder einschlief.
Er aber hatte wach gelegen und gegrübelt, wo Rúna sein könnte. Die Angst hatte ihm die Kehle zugeschnürt. Doch den Gedanken, dass sie bei einem anderen Mann liegen könnte, während er sich hier quälte, hatte er nur einen kurzen Moment zugelassen. Das tat sie mit Sicherheit nicht. Dazu kannte er seine schüchterne Gefährtin zu gut.
Kaum begann es zu dämmern, hatte er eine der Schmucklanzen von der Wand genommen, die noch auf Ragnars Jugendzeit stammten und zeigten, wer der Besitzer der Gästehütte war. Er hatte sich schwer darauf stützen müssen, um mit Solvig auf dem Rücken bis in den Stall zu kommen. Den Sattel auf Hrimfaxis Rücken zu packen, war dann schon beinahe zu viel gewesen. Der Husten schüttelte ihn unerbittlich und sein Brustkorb schmerzte bei jedem Atemzug. Doch er war hart geblieben und hatte es bis zu Jorunn geschafft. Hier war er nun und musste wissen, was mit Rúna passiert war.
"Lass mich nicht warten", brummte er Jorunn an. "Wenn es Rúna schlecht geht, dann ist auch deine Zeit hier kostbar."
Jorunn senkte den Kopf. "Auf dem Weg hierher habe ich lang und breit darüber nachgedacht, wie ich es dir am schonendsten beibringe. Nun bin ich hier und weiß es immer noch nicht."
Die Völva schwieg zweifelnd und Thorstein knurrte unzufrieden. "Sag es einfach! Ich bin doch kein rohes Ei! Wenn du mich warten lässt, machst du mir nur noch mehr Angst."
Nun gut!", gab sich die Völva geschlagen. "Da du nun einmal darauf bestehst …" Sie stand mit dem Säugling im Arm auf und begann, in ihrer kleinen Hütte hin und her zu gehen. "Einer der Männer hat Rúna in der Nacht überfallen, geschlagen und sie sicher mehrfach bestiegen."
Sie sah, wie Thorstein bei ihren Worten haltlos in sich zusammensank. Ja, so in etwa hatte sie sich seine Reaktion vorgestellt. Jeder andere Krieger hätte nach Rache gebrüllt und sich keinen Deut um seinen Frau geschert. der Steuermann war da anders. Das war es ja auch, was ihr an ihm trotz all seiner Härte und des gelegentlichen Jähzorn gefiel. Allerdings nahm er deshalb auch Schmerzen viel intensiver wahr. Ganz sicher dachte er auch jetzt zuerst an Rúnas erneutes Leid. Es war zum Aus-der Haut-fahren, dass sie ihm jetzt sogar noch mehr berichten musste. Sie wusste nicht einmal, wie sie das weitere Geschehen in sanfte Worte kleiden sollte. Zu sehr hatte es sie selbst mitgenommen, die freundliche, immer noch schüchterne Frau so hilflos in Rollos Haus liegen zu sehen.
Mit eisigem Blick fuhr sie fort: "Als sie heute Morgen dann vor ihm flüchten konnte, wurde sie dabei von Rollo gesehen. Das muss irgendwo am Brunnenplatz gewesen sein", sinnierte sie, mehr noch zu sich selbst redend, als zu Thorstein. Wo hatte man Rúna in der Nacht festgehalten? Sie hatte von einer Scheune gesprochen. Jorunn würde sich ansehen, wer alles dort seine Vorratshäuser hatte.
"Er sagt", fuhr sie dann fort, "sie sei wie gehetzt zum Strand gelaufen und er habe sich zunächst nichts dabei gedacht. Erst, als sie nicht zurückkam, sei er ihr nachgegangen und habe noch erkennen können, dass sie auf die Klippe gestiegen war. Dann ist sie zu seiner großen Überraschung einfach über den Rand gegangen und er ist ihr nachgeschwommen und hat sie an Land gezogen."
Die Völva seufzte. Was für ein Elend aber auch! Vorsichtig setzte sie sich neben Thorstein ans Lager und strich dem Mann mehrmals tröstend über die Schultern und den Nacken. Der Krieger blieb in sich zusammengesunken hocken und atmete schwer. Lange Zeit schwiegen sie gemeinsam. Jorunn grübelte vor sich hin, wie sie dem Steuermann ein wenig sein Leid nehmen könnte. Doch es war einfach alles viel zu furchtbar. Sie fand rein gar nichts, was sie ihm hätte sagen, ihm versprechen können. Das übliche 'Es wird schon alles gut werden' kam ihr heute nicht über die Lippen.
Am Ende war es Thorstein selbst, der das Schweigen brach. Jorunn spürte, wie sich die Muskeln unter ihren beruhigenden Fingern strafften. Dann atmete der Krieger einmal tief durch und richtete sich dabei langsam auf. Noch einmal fuhr er sich erschöpft über das Gesicht, dann sah er Jorunn an und die Heilerin erschrak vor dem tieftraurigen Blick des Mannes. Doch es lag zwar Wehmut darin, aber kein Zorn. Und sie sah noch etwas anderes, womit sie nicht gerechnet hätte. Thorstein hatte einen Entschluss gefasst. Was immer er ihr nun sagen würde, es wäre sein fester Wille und vermutlich ganz und gar unumstößlich. Unwillkürlich hielt die Völva den Atem an. Was hatte Thorstein entschieden?
"Ich möchte zu ihr", ließ der Krieger sie schließlich leise wissen und Jorunns Atem entwich ihr hörbar. "Ich möchte Rúna sehen", gab Thorstein seinen Wunsch nun noch einmal genauer bekannt. "Wenn sie in Rollos Haus ist, ohne eine Menschenseele, der sie vertrauen kann, braucht sie mich mehr, als ich die Ruhe in deiner Hütte. Ich will zu ihr und sie soll wissen, dass ich für sie da sein werde."
Der Steuermann sah den ungläubigen, staunenden Blick der Alten. Ja, es war ihm bewusst, dass er vollkommen anders handelte, als man es sich von einem Mann seines Standes wünschte. Er wusste, man würde von ihm erwarten, dass er Rúna verstieß. So war es üblich. Er wusste aber auch, dass er das niemals konnte, es auch gar nicht wollte.
Thorstein nämlich war in seinem Leben durch eine harte Schule gegangen. Vom einfachen Bauernsohn bis zum ersten Steuermann eines Jarls war es ein weiter Weg gewesen. Er hatte viel gesehen, viel erlebt und dabei genug gelitten, um auch bei dieser Herausforderung nicht fehlzugehen.
"Snót hat mir einmal gesagt", gab er Jorunn nun eine Erklärung für sein Handeln, "Dass man Liebe nie ganz deutlich erkennt, so lange man glücklich beieinander ist. Sie sagte, dass man erst dann weiß, wie viel einem ein anderer Mensch bedeutet, wenn man dessen Schmerz fühlt. Wenn man spürt, dass er leidet und es einem ebenfalls weh tut."
Thorstein schob langsam seine Beine vom Lager und saß kurz danach an dessen Kante. "Nach dem, was du mir gerade erzählt hast, Jorunn, weiß ich genau, dass Rúna schrecklich leidet. Und ich bin mir in diesem Moment sicherer denn je, dass ich sie liebe, denn auch nur der Gedanke an das, was ihr widerfahren ist, verursacht mir rasende Schmerzen."
Die Völva nickte stumm und drückte dem Krieger noch einmal aufmunternd die gesunde Schulter. Entschlossen hob sie sich Solvig auf die Hüfte und reichte Thorstein seinen kriegerischen Stock. Sie lächelte, trotz aller Bitterkeit der Stunde.
"Wenn das so ist, dann lass uns gehen!"