Tessa
“Jetzt steh endlich auf, Tessa“, die Tür meines Zimmers öffnet sich schwungvoll, während die schrille Stimme meiner Mutter an meine Ohren dringt. Sofort strömt das Licht aus dem Flur zu mir hinein und blendet mich unerbittlich. Seufzend strampele ich mit beiden Beinen meine Decke von mir, bevor ich mich umdrehe und meinen Körper dann doch wieder mit dem dunklen Stoffstück bedecke. Aus meiner Kehle dringt unzufriedenes Brummen. “Ich weiß genau, dass du wach bist“, obwohl ich mich von ihr weg gedreht habe, kann ich regelrecht spüren wie sie die Arme vor der Brust verschränkt. Ihr böser Blick bohrt sich regelrecht in meinen Rücken.
“Warum sollte ich?“, murmele ich mit dem Gesicht in die weiche Matratze gedrückt und klinge dabei so, als hätte ich eine Wolldecke im Mund. “Heute musst du wieder zur Schule. Die Ferien sind vorbei“, versucht Mom mich zu erinnern.
Sowas könnte ich doch niemals vergessen. Wie man auch nicht wissen, wann die Leute keine Zeit mehr für nächtliche Partys haben, weil sie ‘lernen‘ müssen.
“Warum sollte ich dahin gehen?“, nun klinge ich nicht mehr müde, sondern nur noch genervt. “Weil ich dir dein Handy wegnehme und deine Karten sperren lassen, wenn du in dreißig Minuten nicht am Frühstückstisch sitzt“, beginnt sie nun ein Machtwort zu sprechen.“ Das nehme ich als Herausforderung. “Das würdest du nicht wagen“, nun drehe ich mich doch wieder zu ihr herum und stütze mich auf meinen Ellenbogen. Ich bin mir sicher, dass sie durch das Flurlicht, das genau auf mein Gesicht scheint, meinen herausfordernden Gesichtsausdruck sehen kann. Sie schenkt mir den gleichen Blick: “Schlaf weiter und du wirst es herausfinden.“
Meine ziemlich provokante Art habe ich definitiv von ihr geerbt. Anders kann ich mir unsere häufigen und intensiven Streits wirklich nicht erklären.
Mit diesen Worten knipst sie einfach das Licht neben in meinem Zimmer an und schlägt die Tür hinter sich zu, als sie den Raum verlässt.
Ein wenig erschrocken zucke ich zusammen, lasse mich davon allerdings nicht aus der Fassung bringen. Warum muss meine Mutter immer genauso stur sein wie ich? So muss ich auch manchmal nachgeben.
Leider habe ich mehr als nur das von meiner Mutter geerbt. Schließlich war sie in der Schule genauso eine Schlampe wie ich.
Bei dem Gedanken, an das, was mir überall in meiner Schule nachgesagt wird, muss ich schmunzel. Andere Mädchen wären über so einen Ruf vielleicht wütend, doch mich stört es nicht, sowas zu hören. Denn sowas zu hören, scheint die Jungs eher weniger von mir weg zu bringen. Stattdessen wirkt es so, als würde mir das noch viel mehr von ihnen in meine Arme treiben.
Vielleicht liegt es auch an meiner relativ hohen Stellung in der Schulhierarchie, dass ich in einer Woche mehr Sexualpartner habe, als es vielleicht gut wäre, aber sowas interessiert mich nicht. Soll ich ihnen doch helfen beliebter zu werden. Hauptsache es springt auch für mich etwas dabei heraus. Am Ende zählt hier an der Upper East Side sowieso nur das Geld.
Da ich mittlerweile doch ziemlich wach bin, springe ich aus dem Bett und schaue aus dem Fenster. Dort unten eilen bereits mehrere hundert Leute im Arbeitsstress auf den Bürgersteigen hin und her, während die gelben Taxis immer wieder anfahren und alle paar Sekunden wieder anhalten. Wenn ich sowas sehe, frage ich mich immer wieder, wie die Fahrgäste es schaffen sich bei dem ganzen hin und her nicht zu übergeben. Mir würde da in Sekundenschnelle schlecht werden. Mir wird aber im Auto generell oft schlecht.
Es dauert einige Sekunden, bis ich mich von der Scheibe lösen kann. Als ich allerdings soweit bin, laufe ich geradewegs durch mein großes Zimmer zum Kleiderschrank hinüber.
Nachdenklich öffne ich die beiden Schranktüren und betrachte meine vielen Kleidungsstücke und nehme einen Kleiderstapel heraus, den ich am Abend vorbereitet habe. Würde ich das nicht tun, würde ich jeden Morgen zu spät kommen. In meinem Schrank befindet sich nämlich leider so viel Zeug, dass es schwerfällt sich in kurzer Zeit zu entscheiden. Beschweren will ich mich aber nicht. Schließlich habe ich all diese Sachen selbst gekauft, also bin ich auch selbst.
Mit einem Blick in den Spiegel ziehe ich das weiße Nachthemd aus, welches ich im Sommer immer überziehe, um nicht zu sehr zu schwitzen, und betrachte mich dann kurz. Genug Leute finden meinen Körper schön und vielleicht sogar begehrenswert, doch ich habe immer etwas, was mir nicht gefällt. Um nicht wieder in stundenlange Selbstkritik zu verfallen, packe ich meine Kleidungsstücke und verschwinde ins anliegende Bad.
Weil ich nicht früh genug aufgestanden bin, habe ich leider keine Zeit mehr unter die Dusche zu springen, weshalb ich mich lieber nur ausgiebig wasche, bevor ich mich tatsächlich anziehe.
Nach genau neunundzwanzig Minuten steige ich die Treppe hinunter. Nun kann meine Mutter nicht meckern. Schließlich bin ich sogar eine Minute zu früh fertig.
Ziemlich gut gelaunt lasse ich mich auf meinen Platz am Esstisch fallen und schlage die Beine, die in einer engen, schwarzen Jeans stecken, übereinander. Meine schwarzen Haare, die ich zu einem hohen Zopf gebunden habe, drehe ich zwischen den Fingern. Die Haarfarbe habe ich definitiv von meiner Oma. Zwar hat auch Mom dunkles Haar, doch meins ist noch einige Nuancen dunkler.
Der Blick meiner Mutter ist so scannend, dass ich mich bald wie ein Lebensmittel an der Kasse im Supermarkt fühle. “Ist was?“, frage ich und stecke mein Handy in die rechte Tasche meiner, ebenfalls schwarzen, Lederjacke. Nun kneift sie ihre Augen zu Schlitzen zusammen: “Nein, alles gut.“ “Klasse“, der Triumph, den ich im Moment fühle, steht mir ins Gesicht geschrieben. Langsam greife ich nach einem Messer und beginne die untere Hälfte des Brötchens, welches auf meinem Teller liegt, mit Butter zu beschmieren.
“Ach ja“, aus dem Augenwinkel sehe ich, wie sie mich vorsichtig ansieht: “Dad hat dir etwas geschickt.“ Augenblicklich halte ich in der Bewegung inne. Sofort spüre ich wie sich mein Herzschlag beschleunigt. Zwar sind Geschenke generell immer cool, aber wenn mein Vater erwählt wird, hebt sich meine Laune nicht unbedingt. “Warum?“, meine Stimme klingt eisig. “Er will nur nett sein, Tessa“, nun schenkt sie mir einen sanften Blick: “Du bist ihm wichtig.“ “Wäre ich ihm wichtig, hätte er mich nicht verlassen“, mit festem Blick schaue ich meine Mutter an, während ich mir mein Brot in den Mund schiebe. Sie legt den Kopf schief. Der Schmerz, den meine Worte in ihr hinterlassen, ist unverkennbar: “Er hat nicht dich verlassen, sondern mich.“ “Ich kann verstehen, dass du versuchst dir das einzureden, aber die Wahrheit ist doch, dass er unsere Familie einfach im Stich gelassen hat“, in der Erwartung, dass Mom weiter versuchen wird, mir zu sagen, dass er mich immer noch liebt, doch ich weiß es besser. Er hat jetzt eine neue Familie und hat mich, seine Tochter, einfach weggeworfen, als wäre ich nur ein Haufen Müll.
Als meine Mutter nicht antwortet, stehe ich einfach vom mit meinem Brötchen in der Hand, vom Tisch auf und stöckele auf meinen High Heels zur Küchentheke hinüber. Dort liegt ein Päckchen. Sofort erkenne ich, dass es von meinem Vater ist. Schließlich ist es nicht mal eingepackt.
“Ich geh dann zur Schule“, gebe ich kurz von mir, bevor ich zum Aufzug hinübergehe, mir meinen Rucksack schnappe und auf den Knopf drücke, um die kleine Metallkabine herbei zu rufen. “Soll ich dich fahren?“, fragt sie vorsichtig nach. Ich bin mir sicher, dass sie absichtlich nicht mehr auf meinen Vater eingeht.
“Nein, ich fahr lieber selbst“, heute braucht der Aufzug mal wieder besonders lange: “Dein Auto nehme ich aber gerne.“ In diesem Moment öffnen sich Türen. Bevor ich einsteige, nehme ich ihren Schlüssel aus der Schale, in der all unsere Schlüssel liegen, und schlüpfe in den Aufzug hinein. Glücklicherweise schließen sich die Türen innerhalb von wenigen Sekunden, sodass ich ihren Widerspruch gar nicht mehr hören kann.
Vielleicht wirkt Tessa auf euch jetzt erstmal unausstehlich, aber gebt ihr bitte erstmal eine Chance und lernt sie besser kennen.