Ein paar Worte vorab:
Da dieses Projekt doch recht umfangreich für die kurze Zeit geworden ist, kann es sein, dass einige Fehler auftreten. Ich habe das alles nur recht grob korrigiert, die Welt ist während des Schreibens entstanden und kann somit Logikfehler enthalten, die mir auch beim Korrigieren nicht aufgefallen sind. Hierbei geht ein Dank an Sir Riley, der mich in gewisser Weise mit einem seiner Writing Prompts auf die Idee für diese kleine Dystopie gebracht hat. Außerdem noch ein Dankeschön an dich, hedgi, dass du mir so wenig Vorgaben gemacht hast. Sonst wäre ich vermutlich komplett verloren gewesen.
Zuletzt bleibt zu sagen, dass ich diese Geschichte vermutlich noch überarbeiten werde, da ich mit einigen Stellen wirklich nicht zufrieden bin und das Ganze noch etwas weiter fassen könnte. Vor allem aber stört mich das Ende, aber da werdet ihr mein Problem noch früh genug sehen können.
Und jetzt: Viel Spaß mit meinem Wichteltext, der einfach viel zu lang geworden ist, obwohl das Ding hier eigentlich als Kurzgeschichte geplant gewesen ist.
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Still schweigend stehen wir Schüler da und lauschen den Worten, die unser Anführer uns von seiner Kanzel aus zuwirft. Herausgeputzt wie immer steht er da und gestikuliert eifrig beim Sprechen, während die Orden, die er an der Brust trägt, uns Zuhörer regelrecht blenden. Wir haben uns hier versammelt, um den zweihundertsten Jahrestag des Moskauer Edikts zu feiern. Doch wenn wir alle, die wir hier stramm stehen und versuchen, uns die kursierende Langeweile nicht anmerken zu lassen, ehrlich zu uns selbst sind, wünscht sich wohl ein jeder von uns sehnlichst das Ende dieser endlos scheinenden Rede herbei, da uns in dieser Hitze bereits die Schweißperlen auf der Stirn stehen.
Der Maestro dort oben redet vom Krieg und vom Frieden, wie sehr wir doch den Menschen dankbar sein sollen, dass sie ihr Leben für unser Fortbestehen riskiert und mitunter geopfert haben. Die Worte des Mannes wirken einschläfernd auf mich und meine Gedanken driften ab in die Zeiten, von denen nicht einmal mehr die Ältesten unserer Sippe berichten können. Als es noch Länder und Kulturen gegeben hat, die sich voneinander unterschieden haben und die Menschen aus diesem Grund ständig in Angst und Hass gelebt haben. Die Wenigen haben über die Vielen geherrscht und immer wieder hören wir im Unterricht von der sinnloser Gewalt und Zwietracht damals, die immer wieder zu Kriegen geführt haben, wofür sich die Menschen wiederum noch Jahrhunderte später gegenseitig Vorwürfe machten.
Unsere Lehrer sind immer so erpicht darauf gewesen, uns beizubringen, dass wir diese schreckliche Zeit nie wieder aufleben lassen sollten. Und wir gehorchen ihnen, da Gehorsam unser höchstes Gut ist, das wir neuen Menschen hüten wie einen Schatz und sogar vom Gesetz her zu unserer obersten Bürgerpflicht gemacht haben. So ist Rebellion ein Fremdwort für uns und niemand rührt sich auf diesem steinernen Marktplatz, während der Maestro spricht und uns die Sonne am Himmel die Köpfe verbrennt.
Doch hier stehen zu dürfen, ist ein Geschenk, das man uns von Tag eins unseres Lebens als solches zu verstehen gebt und man verlangt, dass wir dankbar dafür sind. Denn wir würden noch immer wie unsere Vorfahren vor zweihundert Jahren leben, wäre ihr System nicht in sich zusammengefallen.
Damals ist ein Krieg ausgebrochen, der alle bisher dagewesenen an Grausamkeit und Zerstörungswut weit übertroffen hat. Gerne meinen die Historiker, dass damals etwas mehr als die Hälfte der gesamten Weltbevölkerung dahingerafft wurde, doch ganz an diese gigantische Zahl glauben, kann ich nicht. Dass einfach vier Milliarden Menschen durch andere ihrer Art zu Tode gekommen sein sollten, kann man sich heute kaum noch vorstellen.
Denn Verbrechen wie Mord kennen wir Kinder dieser Utopie nur aus alten Schauermärchen oder dem Geschichtsunterricht. Keiner von uns kommt mehr auf die Idee, jemanden zu verletzen oder gar zu töten. Dafür lieben wir unseren Frieden und die Gesetze, die wir stets zu befolgen haben, zu sehr, um beide Fundamente unserer Gesellschaft derartig missachten zu können.
Der Dritte Weltkrieg, wie ihn unsere Vorfahren betitelt haben, hat jedoch im Nachhinein die Menschheit noch weiter dezimiert. Die Nuklearwaffen, die damals benutzt worden sind, um sich gegenseitig im ganz großen Stil auszulöschen, haben Teile der Welt verseucht, die bis heute unbewohnbar sind, da es noch etwa 1400 Jahre brauchen wird, ehe das Radium nicht mehr lebensbedrohlich ist.
Zu diesen Gebieten gehört ein Großteil der ehemaligen Vereinigten Staaten von Amerika, Südostasien und auch Westeuropa. Die Menschen, die dort auch noch nach dem Krieg gelebt hatten, sind nicht einmal mehr evakuiert worden, da sie eine zu große Bedrohung für die Außenwelt dargestellt haben sollen.
So sind die radioaktiv verseuchten Gebiete zwar für uns auf der sicheren Seite unzugänglich gemacht, aber auch weitestgehend sich selbst überlassen worden. Die riesenhaften Mauern drum herum, die die verstrahlten Sektoren von unseren Distrikten abschirmen, werden rund um die Uhr von freiwilligen Grenzposten bewacht, die verhindern sollen, dass wir uns doch in diese für uns hochgefährlichen Gebiete vorwagen. Doch allein die Gerüchte, dass die Menschen von der anderen Seite missgebildete, verrohte Monster seien, die ihre eigenen Kinder fressen und sich gegenseitig für Blut abschlachten, halten selbst die Waghalsigsten von uns fern von diesem Ort.
Denn der Edikt, der nach der Stadt Moskau benannt ist, da er dort nach Kriegsende ausgearbeitet worden ist, gewährt uns heute ein Leben in Gleichheit, das wir nicht bereit sind, für ein wenig Neugier aufzugeben. Unsere Vorfahren haben erkannt, dass uns Ländergrenzen und verschiedene Sprachen nur zu Feinschaften führen, die uns an der Eintracht hindern. Aus diesem Grund hat uns die damals erstmals in Kraft tretende Regierung, wie wir sie auch heute kennen, eine vollkommen neue Sprache, das Miranische, gegeben, alle Nationalitäten ausgelöscht und unsere neue Heimat Miranien erschaffen, die alle Gebiete der nicht verseuchten Erde umschließt und jeweils in viele verschiedene Distrikte eingeteilt wird.
Der Hauptsitz unserer Regierung liegt auf dem Gebiet des ehemaligen Russlands, dessen Truppen auch den Dritten Weltkrieg gewonnen haben, auch wenn es dieses Land in dieser Form schon lange nicht mehr gibt. Manchmal können wir eben doch nicht von der alten Welt ablassen, auch wenn viele von uns schon leugnen, dass diese mit all ihren Fehlern jemals existiert hat.
Die Menschen, die in den „Herrscherdistrikten“ leben, gelten als Elite unserer Welt. Dazu zählen die Begünstigten der Regierung, die Politiker selbst gemeinsam mit ihren Familien oder auch die Nachkommen von Kriegshelden. Jeder von ihnen ist potenziell dazu in der Lage, der Maestro über einen der vielen Distrikte zu werden und somit die Verwaltungsmacht über ein Gebiet zu haben, das etwa der Fläche von drei Großstädten der alten Welt entspricht.
Wie noch vor zweihundert Jahren betreiben wir Handel mit den anderen Distrikten, jedoch tauschen wir nur noch Waren gegen Waren und nicht gegen Geld. Denn letzteres ist in der Nachkriegszeit vollkommen abgeschafft worden - eine der Bedingungen, die der russische Präsident verlangt hatte, damit er doch noch einen Sinn in seinem Sieg über die Welt sehen könne. Sie haben das Konstrukt, das damals noch „Kommunismus“ geheißen hat, in gesteigerter Form eingeführt, um dass Geld nicht mehr einen der vielen Streitpunkte zwischen Menschen darstellen kann.
Darum wird auch beispielsweise keiner unserer Lehrer bezahlt - ebenso wenig wie jeder andere Mensch, der heutzutage noch einer Arbeit nachgeht. Wir dienen freiwillig dem Staat, um ihn am Leben zu erhalten und unserem Leben einen Sinn zu geben. Oder zumindest reden wir uns das gerne ein. Denn eigentlich schreibt uns das Gesetz vor, dass jeder volljährige Bürger eine Arbeitsstelle zu besitzen hat, die ihm freundlicherweise sogar zugeteilt wird, um sich seine tägliche Ration an Gütern wie Nahrung oder Kleidung zu verdienen und sich zusätzlich dankbar unserer Regierung gegenüber zu zeigen, die so viel für uns aufgibt.
Nur durch diese strikten Maßnahmen können alle Menschen gleich behandelt werden und jeder ist zufrieden mit dem, was er hat, womit kein Grund mehr zur Zwietracht oder zum Neid besteht, wie es damals war, als alles noch im Kapitalismus und Chaos versank.
Außerdem leben wir nach dem Gesetz aus Angst, dass es uns ergehen könnte wie denen, die es gewagt haben, sich der Regierung zu widersetzen. Manche verrückte Verschwörungstheorie besagt, dass Arbeitsverweigerer regelrecht aussortiert werden. Sie werden wohl von den Männern in Schwarz, die man hin und wieder über die Straßen huschen sieht, weggefangen und auf künstliche Inseln mitten im Ozean gebracht. Dort haben sie dann wie Sklaven zu schuften, bis sie zusammenbrechen und nie wieder aufstehen. So zumindest das Gerücht. Ob das nicht alles nur Propaganda der Maestros und ihrer Handlanger ist, um dass wir ihnen keine Umstände bereiten, ist nicht geklärt, aber aus meiner Sicht sehr viel wahrscheinlicher.
Doch die Elite hat uns ihnen unterstehenden Klassen noch etwas anderes außer unserer Selbstbestimmung und dem Geld als Zahlungsmittel genommen, um uns gefügig zu machen. Uns ist es auch nicht erlaubt, zwischenmenschliche Beziehungen einzugehen, da diese wieder dafür sorgen könnten, dass wir einander zu hassen beginnen.
Liebe und Hass gehen nach dem Denken unserer Regierung Hand in Hand, was wiederum von unseren Oberhäuptern als eine weitere Kriegsursache angesehen wird. Darum haben sie allen Menschen jegliche Beziehungen zu anderen - ob nun platonisch, romantisch oder familiär - strengstens untersagt. Jedweder Verstoß gegen dieses Gesetz wird mit öffentlicher Exekution oder lebenslanger Haftstrafe im Gefängnisdistrikt bestraft. Liebe würde uns zu Ungehorsam und waghalsigen Aktionen treiben, nur um einen geliebten Menschen zu schützen, so fürchtet die Regierung.
Darum werden wir bei unserer Geburt bereits auf das „Lust-Gen“, wie der von Natur aus gesteigerte Sexualtrieb weithin genannt wird, getestet. Sollten wir es in uns tragen, wird man von der Gesellschaft regelrecht abgeschottet, aber immerhin am Leben gelassen. Als Kinder schickt man die Betroffenen auf spezielle Erziehungsschulen und setzt sie ihr halbes Leben lang dauerhaft unter Drogen, um ihnen diese Unart auszutreiben und zu normalen Bürgern dieses Staates zu machen.
Einmal habe ich ein Mädchen gesehen, das genau einer solchen Schule entflohen war. Halbnackt ist es gewesen, als es vollkommen panisch auf dem Marktplatz herum gerannt ist und Leute regelrecht angefleht hat, ihr Armen doch zu helfen. Ihre Knie sind schon ganz blutig gewesen, so wie sie sich vor unsere Füße geworfen hat. Doch zu sehr fürchteten wir Umstehenden den Ungehorsam und die auf diesen folgenden, willkürlichen Bestrafungen, um dem Mädchen helfen zu können.
So ist die Fremde von den Beamten der Regierung eingefangen worden, wobei sie sich gewehrt hat wie ein wild gewordenes Raubtier, und wurde schließlich vor unseren Augen erschossen, um uns nicht mehr „belästigen“ zu können. Die Leiche haben die Männer schnellstens fortgeschafft, um dass wir unseren Alltag ohne weitere Unterbrechung haben fortführen können, doch bis heute habe ich nicht das dunkle Blut vergessen können, das aus der Schusswunde zwischen ihren in Leere dreinblickenden Augen auf den Boden getropft und in der Sonne geglitzert hat, als hätte die Tote uns somit alle verflucht, allein weil wir nur hilflos zugesehen haben, wie sie hingerichtet worden ist.
Dieser Anblick, zusammen mit den wenigen Exekutionen, die ich habe mit ansehen müssen, da bei solchen Angelegenheiten für alle Bewohner des betroffenen Distrikts Anwesenheitspflicht herrscht, haben mich schon jetzt den Glauben in diese scheinheilige Welt verlieren lassen.
Ebenso wenig bin ich kein Freund von den Volkszählungen, die nach dem Ende der Friedensrede folgen wird. Denn das ist auch der Grund, warum wir Schüler hier draußen stehen müssen - es gibt eine genau festgelegte Zahl an Menschen, die in einem Distrikt leben dürfen. Fünfhundert ist das von der Elite festgelegte Maximum, da laut ihr zu viele Menschen auf einem Fleck auch wieder Gefahr laufen, einen Krieg zu verursachen, würden die Ressourcen knapp werden und die Ungerechtigkeit und der Neid wieder unter der Bevölkerung ausbrechen.
Doch natürlich warten die Maestros mit ihren Zählungen kein ganzes Jahr, um dann erst rückwirkend den vermeintlich unterlaufenen Fehler im System zu beheben. Nein, stattdessen suchen die Diener unserer Anführer bereits während der Lobeshymne, die an unsere Vorfahren gerichtet ist, die Reihen nach denen ab, die sie bereits im Voraus ausgespäht haben. Doch um den Schein zu wahren, verschwendet die Regierung lieber ihre Zeit damit, alle fünfhundert Bewohner des Schülerdistrikts Discis auf einem Fleck zu versammeln und noch einmal gründlich durchzählen zu lassen.
Dabei scannen die Männer in Schwarz unsere IDs, die man noch bei unserer Geburt in unsere Unterarme transplantiert hat, wo genau vermerkt ist, in welchem Distrikt wir geboren sind und wie unsere Erkennungsnummer lautet. Wer hierher geflüchtet ist oder aus den Laboren geschmuggelt wurde, die uns herstellen, wird aussortiert und restlos eliminiert.
Auch jetzt werden einige von der Menge weggeführt, nachdem diese Scheinzählung abgeschlossen ist. Weiter um diese Menschen scheren, kann ich mich ehrlich gesagt nicht - allein schon, weil ich die Beamten nicht auf mich aufmerksam machen will. Ich sehe die Angst und die Scham in den Gesichtern der Aussortierten, als sie direkt an mir vorbei geführt werden, die Arme hinter dem Rücken verschränkt und den Kopf gesenkt wie demütige Hunde.
In dieser Welt bringt es eben nichts, die Regierung hintergehen zu wollen. Sie findet sowieso raus, was du getan hast. Entweder man fügt sich seinem Schicksal und lebt das Leben, in das man hineingeboren worden ist, egal wie unerträglich es ist, oder man wird als Betrüger gefasst und ausgelöscht. Doch irgendetwas muss die Menschen aus anderen Distrikten dazu bewegen, sich in andere Gebiete zu flüchten. Gibt es etwa selbst in einer Welt der perfekten Gleichheit noch Unterschiede zwischen uns?
Anschließend an dieses Spektakel werden wir entlassen und sind für den Rest des Tages vom Unterricht befreit. Nach diesem ewigen Herumstehen hätte ich es auch einfach nicht ertragen können, wieder zurück in den riesigen, steingrauen Schulgebäudekomplex zu marschieren, den sie durch einige kunstvolle, farbige Verzierungen freundlicher wirken zu lassen wollen.
Bildung ist in dieser Welt zwar kein Schlüssel zur Macht mehr, aber nach Gehorsam eines der höchsten Güter, die ein jeder von uns schätzt. Die Aufklärung beseitigt Gefühle, meint die Regierung. Und letztere sind schließlich strengstens verboten, da sie so viel Schaden anrichten könnten. So pressen unsere Lehrer unentwegt Jahrtausende altes Wissen in unsere Köpfe, um dass wir uns selbst vergessen und den Drang zu lieben und geliebt zu werden gleich mit. Alles tun sie, um dass die Naturgewalt Krieg ausstirbt. Die Menschen haben eingesehen, dass es nichts bringt, gegeneinander zu kämpfen und sich zu hassen, obwohl es doch keinen Unterschied zwischen uns gibt. Doch "Gehirnwäsche" als "Gehorsam" zu verkaufen, macht die Sache nicht besser und bringt auch keine endgültige Lösung mit sich.
Als ich in den Zug Richtung meines Viertels steige, gemeinsam mit meinen Klassenkameraden, die die gleiche blaue Schuluniform wie ich am Leib tragen und erschöpft und leer dreinblicken, als wäre dies schon das Ende ihrer Tage, frage ich mich eines: Warum hat gerade Russland wegen seines Rohstoffreichtums und der Kälte, in der so viele ihrer Feinde erfroren sind, diesen für die Zukunft so alles entscheidenden Krieg gewinnen, und uns Menschen zu Massenware verkommen lassen müssen?