In dicken Flocken rieselte der Schnee aus dem sturmgrauen Himmel herab auf die mächtigen Karpaten. Der Wind ließ sie tanzen und stumm legten sie sich an die Fensterscheiben des einsamen Schlosses, das auf einem Hügel inmitten des Gebirges stand und hoheitsvoll alles zu überblicken schien.
Schweigend, mit düster zusammengezogenen Brauen, stand ein Mann auf einem Balkon und überblickte die Berge und die dichten Wälder unter ihm. Den Schnee, der sich um ihn und auch auf ihm sammelte, bemerkte er nicht.
Er seufzte in die Stille, als er das Geräusch einer Tür hörte und das leise Klirren eines Teegedecks.
»Master? Der Tee ist angerichtet.«
Ein überkorrekt aussehender Butler, der auf den Namen Sebastian hörte, stand kerzengerade an der geöffneten, gläsernen Balkontür, ein blütenweißes Geschirrtuch über dem Arm.
Der angesprochene Mann, Graf Viktor Draganesti, wandte sich geräuschlos um und strich sich die Schneeflocken von seinem purpurroten Samtmantel. Auf seinen langen schwarzen Haaren begannen sie bereits, zu schmelzen.
»Ich komme.«
Melancholisch seufzend ließ er sich in einen eleganten Sessel sinken, während der Butler das nur mehr glimmende Feuer im Kamin wieder entfachte und neue Holzscheite auflegte. Er blickte auf den angerichteten Kaffeetisch und das köstliche, noch duftende Gebäck, das Sebastian offenbar erst vor dem Servieren frisch aus dem Ofen geholt hatte.
»Was bewegt Euch, Master?«
Der Graf seufzte. »Ich weiß es nicht. Ich fühle mich so... unruhig. So innerlich aufgewühlt.«
»Es ist Winter, Herr.«
Dieser nickte. Ja, es war Winter. Ganz offenbar. Er fühlte noch die Flocken auf seinen Haaren schmelzen. Es war wieder die Zeit im Jahr, die ihn mit andauernder Unruhe und einem Gefühl der Rastlosigkeit belastete. Er liebte den Winter. Hatte ihn geliebt. Immer schon. Doch es war auch die Zeit, die ihm die schwerste war, die ihn mit Erinnerungen heimsuchte, die schon lange lange zurücklagen, so dass man meinen sollte, er hätte sie überwunden.
Doch wie könnte er, waren es doch Erinnerungen an Ereignisse, die sein ganzes zukünftiges Leben hatten verändern sollen. Und sie hatten es, zweifellos.
Müde stützte der Mann den Kopf auf seine Hand und sah dem Butler dabei zu, wie er sanft dampfenden und köstlich duftenden Tee in eine Tasse gab.
»Ich habe auch etwas anderes für Euch. Frisch. Ihr braucht es, also dulde ich keine Widerrede. Ihr seid schon seit Tagen so blass wie der Tod, weil Ihr Euch weigert, zu nehmen, was nötig ist.«
Milde lächelnd hielt der dunkelhaarige Butler seinem Herrn einen silbernen Kelch hin, der eine dicke, rote Flüssigkeit enthielt.
Mit einem Seitenblick betrachtete der Graf das Gefäß, sah den Inhalt im Licht des neu entfachten Feuers und der verspielten Deckenlampe glitzern und ein leises Geräusch, eine Mischung aus Knurren, Schnurren und Wimmern, entrang sich seiner Kehle. Seine sonst dunkelbraunen Augen blitzten und für eine Sekunde leuchteten sie ebenso rot wie die verlockend dargebotene Flüssigkeit.
»Nehmt es, Herr. Darben verursacht Euch nur Schmerzen, Ihr wisst das.«
Mit zitternden Händen ergriff der Graf den Kelch und führte ihn langsam an seine Lippen. In winzigen Schlucken trank er und spürte, wie belebende Wärme durch seinen Körper floss. Sebastian lächelte und nickte zufrieden.
»Sehr gut. Ihr solltet aufhören, Euch so zu kasteien.«
»Ich kann das nicht tun, Sebastian. Ich kann... niemandem nehmen, was er selbst zum Leben braucht.«
»Ihr habt es früher auch getan.«
»Genau darum kann ich das nicht mehr tun. Ich will abschließen damit...«
Der Butler schloss seufzend die Balkontür, als ein kräftiger Lufthauch eine feine Schneewolke auf den Teppich wehte.
»Ihr braucht das, Master. Also muss es hin und wieder sein. Doch das ist nicht der Grund für Eure innere Unruhe, habe ich Recht?«
»Nein... ich weiß es nicht.«
Sebastian wandte sich zu seinem Herrn um, der gerade den leeren Kelch abstellte und nach der Teetasse griff.
»Wollt Ihr verreisen? Um den Kopf freizubekommen?«
»Nein...«, brummte der Graf unwirsch. Er hatte keinerlei Antrieb, irgendetwas zu tun oder etwas an seiner Lustlosigkeit zu ändern.
Der Butler seufzte leise. Er kannte diese Phasen schon. Wenn sein Herr in dieser Stimmung war, begann er, nächtelang Geige zu spielen oder starrte Löcher in die Wand, aß nicht richtig und verweigerte das Blut, das er zum Leben brauchte. Er litt schon seit Jahren an einer Depression, die jedes Jahr im Winter wieder stärker wurde und ihn lähmte. Manchmal kamen sie dieser zuvor und verreisten irgendwohin, wo der Winter nicht so präsent war wie in den Karpaten, machten eine elegante Kreuzfahrt durch die Südsee oder verbrachten einen gemütlichen Aufenthalt in Griechenland.
Doch es gab auch Jahre, da war der Graf nicht aus seinem Schloss zu bewegen, verschanzte sich wie in einer Gruft und erfüllte die uralten Hallen mit seiner melancholischen und wunderschönen Musik, die jedes Herz anrühren würde.
Besorgt blickte er auf seinen Herrn, der am Tee nippte und geistesabwesend in die Flammen starrte. Seine nussbraunen Augen loderten, als wären sie aus Lava und der Feuerschein ließ ihn alt wirken, obwohl sein Gesicht genaugenommen niemals die 30 überschritten hatte.
»Ich gehe dir auf die Nerven, habe ich Recht?«, murmelte der Graf leise. Sebastian schmunzelte und schüttelte den Kopf.
»Nach so langer Zeit nicht mehr, mein Herr. Ihr könntet mich niemals nerven.«
»Du bist zu milde zu mir«, knurrte der andere.
»Es ist meine Pflicht. Ich verdanke Eurer Familie mein Leben und ich habe geschworen, Euch zu dienen. Erst recht nach dem, was Euch damals geschehen ist.«
Graf Viktor seufzte und sah vom Kamin zur geschlossenen Balkontür. Dieser war bereits mehrere Zentimeter tief eingeschneit und der Himmel war noch dunkler geworden. Der Abend brach herein und er lehnte sich müde zurück.
»Ich bin allem so überdrüssig«, murmelte er.
»Ich glaube, ihr braucht nur eine Beschäftigung, die Euch hilft...«
»Wobei?«
»Dinge zu verarbeiten. Eure innere Unruhe zu bewältigen. Frieden zu finden.«
»Soll ich mir vielleicht einen Seelenklemptner aufs Schloss kommen lassen, der mir sagt, dass alle meine Probleme damit zusammenhängen, dass ich bin, was ich bin? Das weiß ich doch selbst.« Er brummte unwillig und biss in ein noch weiches Stück Gebäck.
»Nein, mein Herr. Ich meine, dass es manchmal hilft, Dinge noch einmal zu erleben, in der Erinnerung, um sie zu verarbeiten.«
Der Graf blickte seinen Butler eine Weile schweigend an und dachte über seine Worte nach. Dinge noch einmal erleben... würde das seine immer im Winter aufkommende Trauer und Schwermütigkeit wirklich beheben können? Er konnte sich nicht vorstellen, wie das gehen sollte.
»Verbindet das Schwere mit etwas, das Euch leichtfällt und das Ihr liebt.«
»Und was soll das sein?«
Sebastian lachte leise auf. »Herr, ich habe das Gefühl, dass Ihr heute absichtlich etwas schwer von Begriff sein wollt. Ich meine, verbindet das Böse mit dem Guten. Vielleicht fühlt sich dann Eure Vergangenheit nicht mehr so schwer an.«
Der Mann rieb sich die Stirn. »Offenbar schon. Ich weiß gerade nicht, auf was du hinaus willst.«
Der Butler seufzte. »Schreibt Eure Memoiren!«
Graf Viktors Kopf ruckte hoch und er sah den anderen Mann an, als hätte er eine Erleuchtung gehabt.
Warum war er nicht sofort darauf gekommen? Er hatte schon früher, wenn er Kummer hatte, diesen einfach runtergeschrieben und das, was ihn bedrückte, anschließend symbolisch im Kamin verbrannt. Er war sich jedoch nicht sicher, ob das in diesem Fall auch helfen würde, denn seine Vergangenheit aufzuschreiben, war eine Sache. Aber Verbrennen würde nichts daran ändern, dass es geschehen war, nichts daran ändern, dass er nun war, was er war. Nichts daran ändern, dass ihm damals etwas angetan wurde, was er niemals wieder rückgängig würde machen können.
Und dass er damit würde leben müssen.
»War das keine gute Idee? War ich Euch zu forsch?«
Der Graf seufzte. »Nein. Es war eine gute Idee. Es wird zwar nichts ändern, aber ich gebe zu, dass mir eine Aufgabe, eine Beschäftigung, wirklich fehlt und ich mich zu sehr hängen lasse. Also...«
Sebastian schenkte seinem Herrn noch einmal Tee nach. »Also?«
»Bring mir Papier und meinen Füllfederhalter. Ich werde die Nacht durcharbeiten. Und bring mir Kerzen. Du weißt, dass ich die Schreibtischlampe als zu grell empfinde.«
»Ja, Herr. Bleibt doch einfach hier am Tisch sitzen, ich bringe Euch alles, was Ihr braucht. Wollt Ihr nicht versuchen, es direkt in den Computer zu tippen?«
Graf Viktor schnaubte amüsiert, als hätte sein Butler einen unglaublich komischen Witz gemacht.
»Wenn ich versuche, an dieser komplizierten Höllenmaschine zu schreiben, bin ich in hundert Jahren noch nicht fertig, das weißt du genau. Nein, nein. Bring mir meine Schreibsachen, ich halte es so, wie ich es immer getan habe.«
Sebastian schmunzelte und verneigte sich höflich. »Sehr wohl.«
Er verließ das Gemach seines Herrn und ließ diesen grübelnd zurück.
Memoiren. Wer würde die schon lesen wollen? Allerdings hatten große Männer wie Caesar es vorgemacht und ganze Bibliotheken mit ihrer Lebensgeschichte vollgeschrieben. Also warum sollte er das nicht für sich selbst auch tun? Und wenn auch nur, um damit endlich abzuschließen. Mit all den Dingen, die in seiner Vergangenheit geschehen waren. All den Freunden, die er gewonnen und auch verloren hatte. All die Seelen, die er ins Dunkel gestoßen hatte und die ihn nun, so viele Jahre danach, noch immer quälten.
Besonders immer dann, wenn Winter war, es draußen schneite und die Tage unweigerlich auf das vermaledeite Weihnachtsfest dahin flossen.
Er erhob sich und betrat wieder den Balkon. Mit Händen, die nicht wärmer waren als der Schnee selbst, stemmte er sich auf die Balustrade und hielt sein Gesicht in den kalten Wind. Er liebte den Duft der Berge.
Sebastian betrat, unbemerkt von seinem Herrn, das Zimmer wieder und legte einen Stapel Briefblöcke, einen kostbaren Füllfederhalter und Nachfülltinte auf den kleinen Tisch vor dem Kamin. Er lächelte.
Der Graf wirkte bereits jetzt deutlich gelöster.
Als Viktor das warme Zimmer wieder betrat, fand er alles bereit vor. Er ergriff einen der Blöcke und hielt ihn sich an seine Nase. Sebastian mochte mit dem Computer in der Bibliothek umgehen können, doch der Geruch von echtem Papier war unübertroffen.
Er nahm Platz und starrte in die Flammen, die noch immer munter tanzten, amüsierter als der Graf selbst sich fühlte.
Zögernd ergriff er den Füllfederhalter und schraubte ihn auf. Mit geschlossenen Augen versuchte er, sich in Erinnerung zu rufen, wie das damals war, diese Zeit, die sein Leben für immer verändern sollte.
Er setzte den Füller an...