Kapitel 10
Als Jillian und Jonas an diesem Montagmorgen die Tür zu ihrem Klassenzimmer erreichten, hatte der Unterricht gerade begonnen. Sie hatten einen Bus später nehmen müssen, da Jillian am Vorabend vergessen hatte, ihre Tasche zu packen.
„Dabei wollte ich gerade heute nicht so ein riesiges Aufsehen erregen.“, seufzte sie verzweifelt.
„Atme tief durch. Ja, sie werden uns anstarren. Daran kannst du jetzt nichts ändern. Das mit dem Zuspätkommen hätte nicht sein müssen, aber es ist jetzt nun einmal so.“, flüsterte Jonas beruhigend. „Sieh es doch einmal positiv: so haben sie keine Zeit, dir neugierige Fragen zu stellen.“
Jillian atmete tief ein. „Du hast recht... du hast ja recht.“
Jonas sah sie auffordernd an, Jillian nickte. Er klopfte.
„Ja bitte?“, ertönte die Stimme ihres Klassenlehrers und nach einem letzten fragenden Blick auf Jillian öffnete Jonas die Tür zu einem Raum, der Jillian plötzlich erschreckend fremd erschien. Wie ein völlig neues Universum, in welchem sie sich zuerst noch zurecht zu finden hatte.
„Sieh mal einer an. Unser Jonny lässt in letzter Zeit ganz schön nach.“, spöttelte Justin, der Jillian nicht sah, die sich scheu im Hintergrund hielt.
„Es tut uns Leid, wir haben den Bus verpasst.“, antwortete Jonas, ohne auf Justins Kommentar zu achten.
Jillian wagte einen kurzen Blick zu ihren Freundinnen und versuchte zu lächeln, aber sofort wandten sich alle verlegen ihren Notizen zu.
Herr Kant musterte das Mädchen mit besorgtem Blick. Sie war blass und auch etwas dünner geworden. Ansonsten, das stellte er zufrieden fest, scheint sie sich nicht viel verändert zu haben und bald wird sie auch wieder richtig lachen können. Er lächelte den beiden Schülern aufmunternd zu und nickte auffordernd zu ihren Plätzen hinüber.
„Danke.“, sagte Jonas leise, als sie am Pult des Lehrers vorbei gingen.
Jillian wühlte völlig verstört in ihrer Schultasche herum und packte schließlich ihr Englischbuch aus. Mit ihren Gedanken war sie weit weg.
„Wir haben Mathe.“, flüsterte ihr Jonas zu.
„Oh.“ Sie hatte Justins Blick gesucht, aber dieser hatte sich nicht einmal die Mühe gemacht aufzusehen. Würde er ihr denn jetzt nie wieder in die Augen sehen können? Immer wieder drehte sie sich zu ihm um und suchte seinen Blick – vergebens.
Was Jillian nicht wusste war, dass Justin ihre Blicke sehr wohl bemerkte und gekonnt ignorierte. Alles verlief voll und ganz nach seinem Plan. Mädchen schwärmten zu Jungs, von denen sie ignoriert wurden, wie Motten in das Licht. Bald würde Jillian Jonas vergessen haben und dann hatte er freie Bahn.
Als er aus den Augenwinkeln wahrnahm, dass Jillian sich ein weiteres Mal zu ihm umdrehte, grinste er selbstzufrieden in sich hinein. Sie sollte sich ruhig Gedanken um ihn machen, solange bis sie an nichts anderes mehr denken konnte.
Als sie sich wieder ihren Notizen zuwandte, sah er auf. Ihr langes schwarzes Haar glänzte in der aufgehenden Sonne. Er konnte es kaum erwarten, dass sie ihm gehörte. Da bemerkte er, dass Jonas ihn wütend ansah und begann daraufhin, noch breiter zu grinsen.
Du hast bald auch nichts mehr zu sagen, dachte er dabei und freute sich schon auf die Miene von Jillians aufdringlichem besten Freund, wenn er sie genau vor seinen Augen küsste.
Justin Müller war gewiss nicht der Einzige, der Jillian an diesem Morgen ganz genau in Augenschein nahm. Auch von ihren Freundinnen Selina, Caro, Elena und Sofia wurde sie beobachtet.
Selina warf ihrer Freundin immer wieder besorgte Blicke zu. Jillian schien mit ihren Gedanken ganz woanders, ihr Blick war voller Sehnsucht. Es schien, als hätte sie eine unüberwindbare Mauer vor sich errichtet. Selina fürchtete bereits, ihre Freundin für immer verloren zu haben, da sah sie plötzlich auf und als sich die Blicke der beiden jungen Frauen begegneten, lächelte Jillian ihr zaghaft zu. Selina hätte am liebsten befreit aufgelacht, erinnerte sich aber noch rechtzeitig daran, wo sie sich befand und wandte sich endlich wieder ihren Rechnungen zu.
Jillian stand der Sinn noch lange nicht nach mathematischen Gleichungen. Sie ließ ihre Blicke durch den Raum schweifen und lächelte dabei still in sich hinein. Zwar war sie nur eine Woche nicht zur Schule gegangen, doch hatte sie ihre Klassenkameraden mehr vermisst, als sie es erwartet hätte. Heute wieder in die Schule zu kommen war die beste Entscheidung gewesen, die sie hatte treffen können. Zuhause, und damit auch alle trüben Gedanken, waren so weit weg in diesem Moment friedlicher Stille, die nur ab und zu durch das Blättern einer Seite oder das Kratzen eines Füllers unterbrochen wurde.
Als sie von etwas in den Rücken getroffen wurde, drehte sie sich erschrocken um. Sofia, die eine Bank neben Justin saß, zeigte grinsend nach unten und Jillian entdeckte das kleine Papierkügelchen unter ihrem Stuhl. Lächelnd hob sie es auf, faltete es auseinander und las: Willkommen zurück, Prinzessin! Ich hab dich schrecklich vermisst. Das mit deinen Eltern tut mir Leid, aber wir werden schon dafür sorgen, dass du das alles schnell wieder vergisst.
Gerührt drehte Jillian sich zu der Freundin um und warf ihr dankbar einen Kussmund zu. Doch vergessen wollte sie nicht, im Gegenteil. Sie fürchtete sich vor dem Vergessen. Schon jetzt hatte sie das Gefühl, nicht mehr alle Nuancen der Stimme ihrer Mutter zu kennen.
Der Rest der Doppelstunde Mathe zog sich endlos in die Länge und so sehr Jillian auch versuchte, sich zu konzentrieren, es wollte einfach nicht gelingen. Den Kopf in die Hände gestützt schaute sie gähnend zur Uhr, deren Zeiger sich langsam ihrem heiß ersehnten Ziel näherten. Und endlich: es klingelte!
Sie wollte sofort aufstehen, um dem Trubel des Klassenraumes zu entfliehen und vielleicht das ein oder andere Wort mit Justin wechseln zu können, doch kaum hatte Herr Kant das Zimmer verlassen, stürmten schon all ihre Freundinnen auf sie ein. Jillian sah nur noch, wie Justin das Zimmer verließ. Selina trat vorsichtig an ihren Tisch, während Caro und Sofia ohne großes Federlesen sich je einen Stuhl zu Jillian heranzogen.
Sie war froh, in keinem der Gesichter Scheu zu erkennen. Alle lächelten sie mitfühlend – oder wie Selina – voller Wärme an.
„Wir sind so froh, dass du wieder da bist. Es war schrecklich still ohne dich!“, sagte Caro.
„Soll das jetzt ein Kompliment oder eine Beleidigung sein?“, lachte Jillian und die anderen stimmten mit ein. Sie war selbst erstaunt, wie leicht ihr das fiel. Es war fast so, als schlüpfte sie in ihre alte Haut wie in eine bequeme Pyjamahose, die man sich überzog, um sie kurz eine Auszeit zu gönnen.
Jonas erhob sich lächelnd und verließ, bewaffnet mit Stift und Zeichenblock, das Klassenzimmer, um in der nun folgenden Freistunde weiter an seinem Song zu arbeiten. Jetzt wusste er Jillian in guten Händen und er war der Meinung, dass sie die Fragen ohne ihn durchstehen musste.
„Jill, das ist auch für uns nicht leicht, deswegen frage ich dich gerade heraus: Möchtest du über die Sache reden oder sollen wir dich lieber ablenken?“, fragte Sofia auf ihre direkte und unkomplizierte Art. Caro sah sie bewundernd an.
„Es ist lieb, dass du das fragst. Und es ist lieb von euch allen, dass ihr für mich da seid. Ich möchte aber nicht, dass sich etwas zwischen uns ändert. Ich möchte mit euch lachen, rumalbern und quatschen wie früher. Heulen kann ich auch zu Hause.“
Die Mädchen lachten. Doch was Jillian so scherzhaft ausgedrückt hatte, war ihr voller Ernst. Sie war froh, hier in der Schule nicht an das denken zu müssen, was Zuhause so unumgänglich war. Hier hatte sie ihre Mädels und all die alten Geschichten. Hier wurde sie mit anderen Problemen konfrontiert. Mit Problemen, die Mädchen in ihrem Alter nun einmal haben sollten. Getuschel über Jungs statt Beileidsbekundungen. Liebesbriefchen an Stelle von Trauerkarten.
In diesem Moment hallte Justins Lachen vom Flur ins Klassenzimmer. Jetzt hielt sie es nicht länger aus. Fluchtartig erhob Jillian sich von ihrem Platz. „Entschuldigt mich bitte kurz.“
Die drei zurückgebliebenen Mädchen schickten ihr verwirrte Blicke nach. Selina glaubte, die Freundin durchschaut zu haben und zog besorgt die Brauen zusammen. Jillian und dieser Weiberheld? Das konnte doch nicht gut gehen.
Seltsamerweise zog es Jillian immer zu Jungs, die es –offenkundig für alle außer ihr selbst – nicht ernst mit ihr meinten. Und wenn Jillian sich verliebte, was sie oft und gerne tat, dann mit voller Inbrunst. Sie vergötterte ihre Freunde beinahe. So als würde sie unbewusst eine gewisse Ernsthaftigkeit und Tiefe, die zu einer echten Beziehung gehörten, aus irgendeinem Grund zurückhalten wollen. Sie steigerte sich gern in ihre Gefühle hinein und genoss jedes Verliebtsein mit allen Höhen und Tiefen. So auch das Schlussmachen, obwohl Jillian alles andere als theatralisch war.
Doch auch hierfür gab es für Selina eine plausible Erklärung. Jillian war immer fröhlich! Immer gut gelaunt, immer für andere da, immer dabei. Immer präsent. Das musste unglaublich anstrengend sein. Vielleicht ließ sie die angestaute Erschöpfung mit den Tränen zu jedem Beziehungsende heraus – das nahm ihr dann keiner übel. Jillian war es gewohnt, beliebt zu sein und Selina glaubte zu wissen, dass sie alles dafür tat, um beliebt zu bleiben. Jillian sog die Liebe und Bewunderung in sich auf als wäre in ihr selbst eine ganz große Leere, an der sie zerbrechen konnte, würde sie sie auch nur einmal wirklich spüren. Sie liebte ihre Freunde nicht nur ohne Rücksicht auf Verluste und auf Kosten anderer, sondern stets ausschließlich auf ihre eigenen Kosten.
„Wo wollte sie so schnell hin, was meint ihr?“, fragte Caro misstrauisch, die den Braten anscheinend ebenfalls gerochen hatte. Jeder wusste, dass sie zu jenen Mädchen gehörte, die Justin hoffnungsvoll nachsahen, ohne dass er sie jemals auch nur eines Blickes gewürdigt hätte.
„Weiß ich nicht. Glaubst du, sie ist zu den Jungs gegangen?“, fragte nun auch Sofia. Sie hatte keine Hemmungen, die Freundschaft mit Jillian sofort abzubrechen, sollte diese auf Justins bisher vergebliche Flirtversuche eingehen. Sofia war zwar nun schon seit Ewigkeiten nur noch Justins Exfreundin, aber das, so hatte sie sich geschworen, würde sich schnell wieder ändern. Sie ließ sich nicht so einfach abservieren und erstrecht nicht für Jillian. Freundschaft hin oder her.
Selina winkte schnell ab und beruhigte die erhitzten Gemüter mit einer kleinen Notlüge: „Ich wette, sie ist bei Jonas.“
Mit dieser Antwort waren alle wieder friedlich gestimmt und gaben sich anderen Gesprächsthemen hin.
Als Jillian die Gruppe um Justin erreichte, verstummten die Gespräche augenblicklich. Sie war jedoch viel zu gutgläubig, um diese Reaktion auf sich zu beziehen und begrüßte alle herzlich. „Hey Leute. Schön, euch zu sehen.“
Sie begrüßte jeden von ihnen mit einem kurzen Handschlag, wie es sonst eigentlich nur unter Jungs üblich war. Das war einer der Gründe für ihre Beliebtheit. Sie war locker und ungezwungen. Sie betrachteten Jillian als eine ihresgleichen. Außer natürlich, wenn sie mit Justin darum wetteten, wann er sie endlich ins Bett kriegen würde.
„Justin, kann ich kurz mit dir reden?“ Kaum hatte sie den Satz ausgesprochen, machten sich die anderen Jungs schon aus dem Staub.
Als Jillian mit Justin allein war, wusste sie plötzlich nichts mehr zu sagen. So etwas passierte ihr nur selten und sie suchte nach passenden Worten, während Justin sie nicht aus den Augen ließ und sie mit seinen Gesten noch nervöser machte. Selbstbewusst strich er sich durchs Haar und lächelte siegessicher, während er auf sie hinab sah.
„Es tut mir Leid, dass ich vergessen habe, unser Date am Samstag abzusagen.“, sagte sie schließlich.
„Ach komm, Jill. Du hast jetzt echt andere Probleme. Ich lauf dir ja nicht weg.“ Er lachte.
Sie sah voller Zweifel zu ihm auf. Sie wusste, wie ungeduldig er sein konnte. Würde er wirklich auf sie warten? „Das ist alles wirklich schwer für mich. Ich hoffe, du weißt, wie gerne ich mich mit dir getroffen hätte.“
Justin freute sich über seinen ersten kleinen Sieg und antwortete: „Natürlich weiß ich das, Jill. Ich würde dich gern für diesen Samstag zu mir einladen, wenn du Lust hast. Wir könnten uns einen richtig romantischen Abend machen.“
„Oh.“ Sie biss sich auf die Lippen und verfluchte es, dass ihr ihre alte Haut der Sorglosigkeit nicht mehr so wie früher zu passen schien. „Das geht leider nicht. Da kommt mein großer Bruder für zwei Tage aus den Staaten zurück. Am Sonntag ist die Beerdigung unserer Eltern.“
Sie schluckte hörbar. Sie hatte es ausgesprochen – zum allererstenmal. Die Beerdigung meiner Eltern… Ich bin doch erst achtzehn, verdammt. Das ist pervers! Warum tut das Schicksal mir das an?
Sie merkte nicht, wie ihre Miene sich zu einer ungewohnt bitteren Grimasse verzog, die Justin noch nie a ihr gesehen hatte, während in ihrem Kopf wieder der Krieg begann und wieder dieser hässliche angestaute Hass in ihren Augen aufloderte.
Ungerecht!, schrie sie innerlich und ihre leeren Pupillen sahen weder Justin noch das gleißend helle Sonnenlicht, das sich durch die Flurfenster zu ihnen Bahn brach. Warum wir??
Justin schwieg eine Weile. Für solche Situationen hatte er nie die richtigen Worte parat. Er kannte sich aus, wenn es um Komplimente, Küsse oder Streicheleinheiten ging. Doch was wollte das Mädchen, was da so hilflos vor ihm stand, jetzt von ihm hören?
„Schon okay. Tut mir Leid. Du brauchst jetzt Zeit. Wir sehen uns ja die nächsten Tage.“ Er warf ihr noch ein flüchtiges Lächeln zu, bevor er sich wieder zu seinen Kumpels gesellte. Den Rest wollte er lieber Jonas überlassen, dafür war er schließlich da. Justin war niemand, der ein Mädchen in die Arme nahm, um es zu trösten.
Jillian stand da wie vom Donner gerührt und sah ihm nach. Sie wusste, dass sie nichts falsch gemacht hatte. Justin war nun einmal so, daran würde sie sich gewöhnen müssen. Trotzdem hatte er sie mit einem Gefühl zurückgelassen, das sich nicht gut anfühlte und das machte sie traurig. Sie hätte sich wenigstens eine Umarmung von ihm gewünscht. Traurig schüttelte sie den Kopf, um die lästigen Gedanken zu vertreiben. Als sie das Klassenzimmer betrat, strahlte sie wieder.
„Am Wochenende ist die Beerdigung, oder? Hat Jill dir schon etwas erzählt?“ Thomas und Selina hatten sich mal wieder vom übrigen Trubel abgeschottet. Die oberflächlichen Themen interessierten sie nicht. Sie machten sich ernsthafte Sorgen um die Freundin.
„Nein, gar nichts. Ich glaube, sie will nicht darüber sprechen.“ Selina seufzte, aber Thomas verstand ihre Sorgen nicht. „Das ist doch auch nur verständlich, oder?“
„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf. „Das ist überhaupt nicht ihre Art. Sie hat mit mir immer ganz offen über ihre Probleme gesprochen.“
„Das ist auch neu für sie. Dieses Problem ist ganz anders als all die anderen. Wenn sie es mit dir bespricht, wird es sich nicht automatisch in Luft auflösen.“, erklärte Thomas und warf einen Blick zur Tür. „Sie ist mit Justin da draußen.“
„Irgendwie habe ich es geahnt.“, murmelte Selina besorgt. Thomas sah sie fragend an. „Dass Justin sein Glück jetzt bei Jill versucht, weiß wohl inzwischen die ganze Schule, aber ich hätte nie im Leben geglaubt, dass sie darauf eingeht.“
Thomas’ Miene verfinsterte sich. „Ich auch nicht. Vor allem, da sie ganz genau weiß, wie er ist und was er will.“
„Sie glaubt immer an das Gute in jedem Menschen und dass Justin sich ändern kann.“ Selina sah fragend zu ihm auf, aber Thomas lachte nur freudlos auf. „Justin will Jillian ins Bett kriegen, mehr ist das nicht, Selly! Er erzählt es überall herum, die Jungs schließen schon Wetten darüber ab. Sie tut mir wirklich Leid, das hat sie nicht verdient und erstrecht jetzt nicht!“
„Ich rede noch einmal mit ihr. Hast du etwas mitgekriegt, als du draußen warst?“, wollte Selina besorgt wissen.
Er schüttelte mit dem Kopf. „Nicht mehr als alle anderen auch. Jillian kam mit ihrem alten Strahlen um die Ecke, hat alle herzlich begrüßt und ist dann sofort zu Justin gegangen. Sie ist plötzlich ganz still geworden, als sie vor ihm stand. Gar nicht mehr Jill.“
Selina stützte den Kopf in die Hände. „Hoffen wir, dass sie sich nicht noch in ihn verliebt.“
„Ich glaube, dafür ist es schon zu spät.“, antwortete Thomas und nickte Richtung Tür.
Selina sah erschrocken auf. Gerade hatte Jillian den Raum betreten. Sie hatte ein strahlendes Lächeln auf dem Gesicht. Ein Lächeln, welches nicht bis in ihre Augen reichte.
Thomas wechselte mit Selina vielsagende Blicke. Diese stand auf und ging ihrer Freundin entgegen. „Lust auf einen kleinen Spaziergang?“
Jillian war erleichtert, die frische Luft würde ihr sicher gut tun. „Und wie!“
Als sie den Schulhof überquerten und das Schulgelände verließen, sahen sie Jonas auf einer Bank sitzen. Er war gerade in einen seiner Songs vertieft.
„Dort ist Jonny! Sollen wir uns zu ihm setzen?“, fragte Selina, aber Jillian winkte nur lachend ab. „Der bekommt uns gar nicht mit. Wir sollten ihn jetzt nicht stören.“
Selina legte den Kopf schief und sah ihre Freundin fragend an. „Warum?“
„Wenn er an seinen Songs schreibt, ist er meist in einer ganz anderen Welt. Wenn wir ihn da jetzt raus reißen, kann er sich danach nicht mehr konzentrieren oder kommt nur noch schwer voran. Am besten ist es, wenn die Gedanken spontan und unbewusst aus dem Stift fließen.“, erwiderte Jillian mit einem kleinen, echten Lächeln.
Selina schaute sie erstaunt an. „Woher weißt du das denn?“
Jetzt lachte Jillian richtig. „Er hat es mir genauso erklärt, als ich es einmal wagte, ihn beim Texten zu stören.“
Selinas Neugier war geweckt. „Macht er die Melodie dazu auch selbst? Hat er dir schon einmal einen seiner Songs vorgespielt?“
Jillian nickte stolz. „Er schreibt die Songs komplett selbst und ich bin jedes Mal die erste, die sie hören darf... und damit auch so ziemlich die einzige.“
„Und?“, wollte Selina wissen.
Eigentlich hatte Jillian Jonas ja hoch und heilig versprechen müssen, an niemanden auch nur ein Sterbenswörtchen über seine Songs zu verlieren, aber jetzt konnte sie nicht mehr an sich halten und begann zu schwärmen. „Sie sind so… intensiv. Es gibt kein besseres Wort dafür. Die Melodien tragen dich einfach davon. Er verspielt sich nie. Manchmal kommt es mir so vor, als würden sich seine Hände von ganz allein auf dem Instrument bewegen. Wenn er spielt, nimmt er seine Umgebung nicht mehr wahr. Die Gitarre wird nur noch durch seine Stimme übertroffen. Er hat eine ganz andere Stimme, wenn er singt. Sie ist tiefer und wirkt sehr ernst, aber auch so… anders eben. Er lebt diese Musik und ich liebe es, ihm zuzuhören...“
Selina hörte still zu und wurde etwas neidisch. Wie gerne hätte sie zu Thomas so ein enges Verhältnis gehabt, wie Jillian und Jonas! Obwohl… sie wollte mehr. Denn da schien es eine Sache zu geben, die zwischen Jonas und Jillian fehlte: die Liebe.
Dennoch schienen sich die beiden seit jeher blind zu verstehen. Niemand wusste so richtig, was es für eine Verbindung zwischen den beiden war. Selina konnte sich gut vorstellen, wie die chaotische Jill bei Jonas’ sanften Melodien ganz still wurde. „Wenn Jonny eine CD herausbringen würde, wärst du sicher sein größter Fan!“
„Aber nicht sein einziger!“, war sich Jillian sicher, während sie und die Freundin durch die Stadt schlenderten. Die Luft war noch kalt, aber jetzt begannen einzelne Sonnenstrahlen die dicke Wolkendecke zu durchbrechen.
Selina dachte nach, wie sie das Gesprächsthema geschickt zu Justin lenken konnte, ohne dass ihrer Freundin auffiel, worauf sie wirklich hinaus wollte. Dann fiel ihr plötzlich der passende Einstieg ein. „Ich kann mir gar nicht vorstellen, wie es ist, mit einem Jungen so richtig gut befreundet zu sein.“
Jillian legte den Kopf schief und dachte nach. „Es ist ganz anders, als mit einem Mädchen. Du musst dir keine Gedanken darüber machen, ob du etwas Falsches gesagt hast. Es gibt kein Gezicke, keinen Streit um Jungs oder Klamotten. Es ist einfach das, worauf es wirklich ankommt.“
„Ist Jonas wie ein großer Bruder für dich?“, fragte Selina in ehrlichem Interesse.
Jillian schüttelte nachdenklich mit dem Kopf. „Nein, das nicht. Ich habe nicht das Gefühl, dass ich seine kleine Schwester bin. Ich weiß schon, dass er eigentlich ein völlig Fremder für mich ist und es fühlt sich auch anders an, wenn ich ihn umarme, als wenn ich Tim umarme.“
Das war Selinas Chance. „Aber was ist dann der Unterschied zwischen der Beziehung, die du mit Jonas hast und der, die du mit Justin hast?“
„Ich weiß nicht.“, antwortete Jillian und ein sanftes Lächeln erwachte auf ihren Zügen. „Wenn ich bei Justin bin, dann bin ich plötzlich jemand ganz anderes. Ich bekomme keinen vernünftigen Satz mehr heraus und fühle mich total schwach und klein.“
Selina kannte das Gefühl nur zu gut und wusste in diesem Augenblick, dass nun alle Warnungen zu spät kamen. „Hast du dich in ihn verliebt?“
Jillian nickte. „Ich glaube schon.“
Selina seufzte schwer und dachte nach. Sollte sie ihrer Freundin die Meinung sagen oder sollte sie sie dieses schöne Gefühl genießen lassen? Aber wer würde letzten Endes die Scherben aufkehren müssen, wenn Justin erst einmal genug von ihr hätte?
„Ich finde, du stellst dir da einiges zu einfach vor.“, sagte sie schließlich.
Jillian sah ihre Freundin erstaunt an. „So? Warum denn, wenn ich fragen darf?“
Selina überlegte und antwortete schließlich: „Muss ich dir das wirklich erst erzählen? Jill, du weißt, wie Justin ist. Er hat doch zehn an einer Hand, jede Woche eine neue. Außerdem ist Caro schon seit der fünften Klasse unsterblich in ihn verliebt und Sofia ist geradezu besessen von ihm. Glaubst du wirklich, dass euch nichts im Weg steht?“
Jillian seufzte tief. „Nein, das glaube ich nicht, Selly. Ich weiß, dass es schwer werden wird, aber der leichte Weg ist nicht immer der Richtige! Mein Herz hat mich nicht gefragt, in wen es sich verlieben darf! Es ist nun einmal so. Justin hatte keine Freundin mehr, seit er es bei mir versucht! Ich denke, er meint es wirklich ernst mit mir. Er ist erwachsen geworden und Sofia sollte das auch werden. Sie will ihn um jeden Preis zurück, aber ich denke, dass Probleme, die einmal in einer Beziehung da waren, auch weiterhin da sein werden. Und was Caro angeht: sie sollte endlich versuchen, von ihm loszukommen. Justin hat sie damals nicht bemerkt und er bemerkt sie noch immer nicht. Sie macht sich doch nur selbst unglücklich. Er hat sich für mich entschieden. Nicht für Sofia, nicht für Caro. Nur für mich“ Für Jillian war damit alles gesagt.
Selina gab es auf. Alles, was sie jetzt noch tun konnte war für Jillian da zu sein.