»Kommst du mal rum hier? Du kannst reingehen und ihn festhalten. So kriege ich das nicht sauber.« Daniel sah aus der Hocke zu Marius hoch, der nur nickte und von der Brücke in den Bach stieg. Seine patschnassen Turnschuhe kümmerten ihn nicht, dafür war es ohnehin bereits vor einiger Zeit zu spät gewesen. Mit dem Wasser bis zu den Knien hielt der dunkelblonde Jugendliche den Hund fest, und sie tauchten ihn langsam ein.
Und tatsächlich hielt Sergio dieses Mal still und hechelte entspannt, während sein Herrchen ihn mit beiden Händen wusch und den Dreck abrubbelte.
»Wie im Hundesalon, wa? Dieser kleine Scheißer«, lachte Marius, amüsiert über das bräsig-zufriedene Gesicht der Dogge, was Daniel grinsen ließ.
»Ja. Meine Mutter fährt einmal im Monat mit ihm in einen, um ihm die Krallen machen zu lassen. Das findet er toll. Da wird er auch gebadet, gegen Ungeziefer und so. Da macht er kein Theater.« Der dunkelhaarige Jugendliche stand dem anderen gegenüber und beide hatten sie sich zu dem Hund hinunter gebeugt.
Marius war sich überdeutlich bewusst, dass sie einander nur das Gesicht zuwenden mussten, um sich küssen zu können. Dieser Gedanke und der Duft von Daniels Duschgel ließen einen Schwall Hitze durch den Körper des dunkelblonden Teenagers fahren, der ihm den Schweiß ausbrechen ließ.
Nein, es konnte keinen Zweifel geben. So sehr er sich auch dagegen zu wehren versucht hatte, er konnte nicht länger so tun, als wären die Signale etwas anderes als das, was sie waren. All diese kleinen Dinge waren viel zu deutlich, um sie weiter falsch zu verstehen. Marius konnte sich nicht länger vormachen, dass da nichts wäre. Er mochte Jungs und er mochte Daniel. Eindeutig.
Marius seufzte leise, was sein Gegenüber veranlasste, ihm den Blick zuzuwenden.
»Alles okay? Geht in den Rücken, ihn so zu halten, oder?«
»Hm? Oh, nein. Geht schon.«
»Okay. Du klingst ein bisschen ... angespannt.« Der dunkelhaarige Jugendliche hatte den anderen mit seinen grünen Augen fixiert und Marius betete dafür, dass seine Wangen nicht rot geworden waren.
Sie waren einander so verdammt nahe, dass er den Kaugummi riechen konnte, den Daniel im Mund hatte und er konnte die goldenen Reflexe in dessen Augen genau erkennen.
»Ich hab ... keine Ahnung«, murmelte Marius und konnte nicht verhindern, einen Moment zu lange auf die Lippen des anderen Jungen zu schauen. Als der Dunkelblonde es bemerkte, biss er die Zähne zusammen und wendete den Blick ab, die Verlegenheit war ihm deutlich ins Gesicht geschrieben und er hoffte, dass sie unbemerkt blieb. Sein Herz schlug ihm schmerzhaft gegen die Brust und sein Hals tat weh, als würde er kurz davor stehen, in Tränen auszubrechen.
Ja, Daniel hatte es richtig erkannt. Marius war wirklich angespannt und innerlich so zerrissen, dass er nicht wusste, ob er lachen oder weinen sollte. Einerseits wollte er jede Sekunde hinauszögern, um sich nicht von dem Anderen trennen zu müssen und andererseits wollte er davon laufen, ihn nicht mehr sehen, sich verstecken unter einer dunklen Decke und all diese Gefühle, die ihn beglückten und doch so sehr quälten, vergessen.
»Bist du bald fertig?«, Marius, der sich mit einem Mal schlecht fühlte, hörte selbst, wie patzig er klang.
Daniel, der nicht wusste, was in seinem Gegenüber vorging, verstand den plötzlichen Umschwung der Laune nicht und nickte, wobei er etwas ratlos aussah.
»Ja. Ich glaube, das reicht ... danke für die Hilfe.« Er setzte Sergio ans Ufer und der dunkelblonde Jugendliche stapfte mit pitschnassen Schuhen die Böschung nach oben, um dort seine Füße etwas auszuschütteln. Der Hund tat es ihm nach und blickte die beiden Jungen anschließend hechelnd an, als würde er breit lächeln.
»Gut ... dann sollten wir wohl mal langsam ... ich will in die Wanne«, murmelte Marius und etwas hielt ihn ab, Daniel direkt anzusehen. Der dunkelblonde Jugendliche glaubte, wenn er dies täte, würde der Ausdruck in seinem Gesicht all das verraten, was er vor dem Anderen geheim halten wollte, was er vor der ganzen Welt verstecken wollte, weil es einfach nicht sein durfte.
Nicht hier, nicht in diesem Leben, das er lebte, nicht bei seiner Familie, seinen Freunden, den spießigen kleinen Dörflern, die er kannte, seit er laufen konnte.
Er hatte sich zu sehr gehen lassen, hatte zu sehr auf die Schmetterlinge gehört, die in seinem Bauch waren und zu wenig auf seinen Kopf, der ihn zur Vorsicht gemahnt und ihm geraten hatte, die Nähe zu dem Heinemann-Jungen nicht zu suchen, sondern ihn weiter zu meiden, wie er es immer getan hatte, weil sonst alles den Bach runter gehen würde.
Daniel, der sich nicht erklären konnte, warum die gute Stimmung mit einem Schlag verschwunden war, rieb sich unwohl den Nacken und nickte. »Ja, also. Dann sieht man sich in der Schule oder so?«
»Klar.« Marius hob sein Rad hoch, nickte dem Anderen noch einmal zu und schwang sich in den Sattel. Mit einigen kräftigen Pedaltritten brachte er ein paar Meter zwischen sich und Daniel, bevor er sich heftig auf die Lippe biss, weil der Schmerz in seinem Hals mit einem trockenen Schluchzen herausbrach.
Mit verschleierten, feuchten Augen legte er den Weg nach Hause zurück und wischte sich, bevor er den Hof betrat, auf dem er seinen Vater noch immer fluchen hören konnte, gründlich das Gesicht ab. Marius hoffte, sein Alter würde irgendwo unter einer seiner Maschinen liegen und nicht sehen, dass sein Sohn ein gerötetes Gesicht hatte.
Ein Junge, der weint, das war für Heinrich Förster eine Schande und würde er mitbekommen, wie deprimiert Marius war, würde er ihm eine Ohrfeige verpassen, um ihn wieder klarsehen zu lassen. Und darauf hatte der Jugendliche wirklich keine Lust.
Tatsächlich hockte der massige Mann auf einer alten Plane vor dem Traktor, an dem er schon geschraubt hatte, als Marius und seine Freunde vor Stunden zum Schwimmen aufgebrochen waren. Offenbar war der Schaden doch größer als gedacht.
Der Förster’sche Hof war von Pfützen übersät, da der Kopfsteinbelag nicht eben war und es viele kleine Senken gab, in denen sich Wasser sammelte.
Ohne seinen Vater groß zu beachten, schob der Jugendliche sein Fahrrad um die nassen Unebenheiten herum in den Schuppen zurück und trabte mit dem feuchten Rucksack in der Hand ins Haus. Auch Heinrich nahm keine große Notiz von seinem Sprössling, sondern fluchte unflätig über ein paar Muttern, die er nicht gelöst bekam.
»Hallo Mama. Ich bin wieder da«, rief der Junge matt in den Flur und konnte seine Mutter im Wohnzimmer werkeln hören.
»Na Gott sei Dank. Ich hab mir schon Sorgen gemacht«, rief diese, noch bevor sie ihren Sohn sah, aus der Stube und kam zu ihm, mit einem halb vorwurfsvollen, halb erleichterten Gesichtsausdruck. »Als Ralf die Decke gebracht hat und mir nicht sagen konnte, wo du bist, wollte ich schon fast die Polizei rufen!«
Angelika Förster betrachtete ihren Nachwuchs abschätzend. Die geröteten Augen und auch das traurig aussehende Gesicht entgingen ihr nicht, doch es war nicht ihre Art, etwas darüber zu sagen. Sie lebte nach der Devise, dass alles Unangenehme nicht da war, solange man es nicht ansprach. Stattdessen lächelte sie und tat, als wäre alles eitel Sonnenschein.
Marius, der wusste, wie seine Mutter tickte, spürte, wie das schlechte Empfinden erneut in ihm hochwallte. Nur ein einziges Mal wollte er erleben, dass eines seiner Elternteile sich seiner Sorgen annahm, fragte, wie es ihm ging und es auch wirklich wissen wollte. Und dann einfach da war, ihn in den Arm nahm.
Doch das taten sie nicht. Nie.
Sein Alter würde ihn einen Schwächling nennen, ein Weichei, weil er sich von Gefühlen leiten ließ und ihnen sogar manchmal nachgab. Und seine Mutter nahm einfach an, dass Marius keine Probleme hatte. Trotz der Umstände in seinem Elternhaus, dem cholerischen und alles unterdrückenden Vater, verdrängte und ignorierte Angelika jeden Gedanken daran, dass ihr Sohn leiden könnte.
Dabei war er doch inzwischen in dem Alter, wo das normal sein sollte - alle diese Sachen, die Teenies halt durchmachten. Schule, Freunde, Liebeskummer.
Aber Marius hatte sich mittlerweile daran gewöhnt.
Es war üblich, dass er mit seinen Sorgen allein gelassen wurde. Nur bei seiner Großmutter konnte er das Verständnis finden, das er manchmal brauchte, um seinen Kurs wiederzufinden.
Doch hier, in diesem Fall, würde selbst seine Oma nicht mehr helfen können. Er war schon einen Schritt zu weit über den Abgrund hinaus gegangen und fiel bereits.
»Bist du ins Unwetter gekommen? Du bist ja ganz nass. Komm, ich mach dir die Wanne fertig und was zu essen ...« Angelika nahm Marius die feuchte Tasche ab und ließ ihn die Schuhe im Flur ausziehen, um sie gleich zu waschen.
Der Jugendliche nickte nur matt. Das war alles an Fürsorglichkeit, was er von seiner Mutter erwarten konnte. Es war lieb gemeint. Sie würde sich nie dazu durchringen, ihn ganz direkt zu fragen, was ihn quälte. Und er würde, selbst wenn sie es täte, ihr nicht sagen können, was los war.
Als er im Bad allein war und die Türe hinter sich abgeschlossen hatte, weil er es hasste, wenn sein Alter hinein trampelte, während er in der Wanne saß, blieb er bestimmt eine Minute einfach nur stehen und starrte ins Nichts.
Marius versuchte, ruhig zu atmen, sein schmerzendes Herz zu beruhigen, das Ziehen in seiner Kehle niederzukämpfen, doch es gelang ihm nicht.
Er hatte soeben eine tolle Zeit gehabt, hatte gelacht und sich so leicht gefühlt, dass es nun umso mehr weh tat, das Gewicht auf sich zu spüren, das ihn hinunter drückte. Die Last der unrechten Gefühle, die ihn eigentlich glücklich machen sollten, doch die sich anfühlten wie eine glühend heiße Klinge in seiner Brust.
Dieser Moment mit Daniel am Bach, es hätte nicht viel gefehlt und er, Marius, hätte ihn geküsst. Der Jugendliche wollte es. Jede Faser in seinem Leib hatte ihn dazu gedrängt, denn sie waren einander so nahe und es wäre doch nur natürlich gewesen, oder nicht?
Nein, eben nicht. Daran war gar nichts normal!
Marius konnte und durfte sich nicht mehr so leichtsinnig auf solche Situationen einlassen. Es wäre besser, gesünder für ihn, Daniel wieder von sich zu stoßen, wieder zurück zu seinen eigenen Freunden, raus aus seinem Leben und aus seinem Herzen.
Denn er verursachte Marius nur Schmerz, von dem er glaubte, ihn nicht aushalten zu können. Doch der Gedanke, Daniel wieder in den Hintergrund zu verbannen, war nicht weniger schrecklich.
Zitternd und mit bläulich verfärbter Haut wegen all des kalten Wassers, dem er den halben Tag ausgesetzt gewesen war, ließ der Junge sich in die heiße Wanne sinken und tauchte komplett unter.
Am liebsten wäre er dort geblieben, unter unter der Oberfläche, bis ihn die Atemluft und schließlich die Lebenskraft verlassen würde. Er konnte so unmöglich weiterleben.
Prustend tauchte er schließlich wieder auf und wischte sich den Schaum aus dem Gesicht. Der Jugendliche bedauerte, dass er diesen schönen Moment mit Daniel am Bach ruiniert hatte.
Wenn Marius sich zusammengerissen hätte, wäre das komische Gefühl bestimmt wieder verschwunden und sie hätten noch etwas mehr Zeit gehabt. So hatte er den Dunkelhaarigen vor den Kopf gestoßen und ihm sicher das Gefühl vermittelt, irgendwas falsch gemacht zu haben.
Ob Daniel wohl ebenso unsicher war? Schließlich hatte er immer Marius’ Freund sein wollen, schon im Kindergarten.
Doch Freund und Freund, das waren ja zwei verschiedene Paar Schuhe und der dunkelblonde Junge war sich sicher, dass Daniel es nicht gut gefunden hätte, wenn Marius ihn geküsst hätte.
Vermutlich hätte er ihn dann zurückgestoßen, ihn beschimpft, gemieden und es hätte sich in Windeseile in Lengwede verbreitet, was er, Marius, getan hatte.
Denn er war nicht normal.
Das Gegenteil konnte er sich inzwischen nicht mehr vormachen. Er hatte noch niemals zuvor so für ein Mädchen empfunden und es gab genug nette, witzige und hübsche Mädels, die er kannte und die vielleicht gern seine Freundin hätten sein wollen.
Er war nie wegen einer von ihnen in ein solches Gefühlschaos gestürzt, wie er es gerade wegen Daniel erlebte, er hatte nie eine Träne wegen einer Frau vergossen oder von ihr geträumt. Wie konnte er da noch die Hoffnung haben, nicht schwul zu sein?
Erschöpft, langsam auftauend und müde lag Marius in der Wanne, starrte auf einen Fleck an der Wand und merkte nicht, wie sich die Tränen auf seinen Wangen mit dem Schweiß, den das heiße Wasser verursachte, und den Tropfen vermischten, die aus seinen nassen Haaren perlten.
Als er schließlich in seinem Frotteemantel aus dem Zimmer kam und sich wortlos den Teller mit Broten nahm, den seine Mutter in der Küche für ihn bereitgestellt hatte, strich ihm Angelika im Vorbeigehen mit der Hand über den Rücken, sagte aber nichts.
Marius seufzte innerlich.
Er hätte Zeuge eines Mordes werden können, jemanden getötet haben, vergewaltigt worden sein können - seine Eltern würden ihn niemals fragen, was er auf dem Herzen hatte, warum er so schweigsam war, ob es ihm gut ginge. Egal, wie sonderbar er sich verhalten mochte, von ihnen würde er keine Hilfe bekommen. Vermutlich selbst dann nicht, wenn er von sich aus von seinen Sorgen erzählen würde. Sie würden ihm raten, es hinunterzuschlucken. So funktionierte es bei den Försters.
Er war allein. Er hatte eine tonnenschwere Last auf seiner Seele, eine Liebe, die nicht sein sollte und niemand war da, um ihm dabei zu helfen, es zu ertragen.
»Ich geh’ ins Bett«, murmelte Marius. Es war zwar erst sieben, doch er hatte für heute genug. Dieser Tag war eine Achterbahnfahrt der Gefühle gewesen. Gut und Böse hatten sich so schnell abgewechselt, dass einem hätte schlecht werden können. Er wollte, dass es endete. Morgen würde sich zwar nichts geändert haben, doch es würde ein neuer Anfang sein.
Angelika, die mit dem Abwasch beschäftigt war, nickte nur. Sie hatte keine Zeit, sich mit ihrem Sohn zu befassen, da Heinrich ins Haus gepoltert kam, den Teller in Marius’ Hand sah und lauthals sein Abendessen forderte.
Bei all der Präsenz des Landwirts konnte es schnell passieren, dass der Jugendliche unterging. Und ohnehin kam Marius bei seiner Mutter erst an zweiter Stelle. Zuerst kam immer Heinrich. Dafür sorgte dieser schon.
»Nacht«. Ohne ein weiteres Wort verließ der Junge die Küche, nahm im Flur seinen Rucksack und stieg die Treppe zu den Schlafzimmern hoch. Er wollte nur noch unter die Bettdecke und nichts mehr hören und sehen von seinem Leben.
Während er sich zwang, ein paar Bissen hinunterzuwürgen, zappte er sich eine Weile gelangweilt durch das Fernsehprogramm und warf schließlich die Fernbedienung auf den Sessel. Es war nur Kram drin, der ihn daran erinnerte, wie beschissen er sich fühlte.
Wenn das Liebe war, dann wollte er sie nicht! Ein Gefühl, so elend, dass er sterben wollte, konnte nichts Gutes sein.
Ausgebrannt und müde schaltete er das Licht aus und zog sich die Decke über die Ohren. Er stopfte sich ein Stück des Stoffes in den Mund, damit er sich nicht die Lippe kaputt biss, als der Schmerz in seiner Kehle wieder so zunahm, dass ihm die Augen überliefen. Außerdem wollte er nicht, dass sein Alter, der meist auch zeitig zu Bett ging, wenn er nicht in der Kneipe versackte, ihn weinen hörte.
Denn das Donnerwetter, was dann folgen würde, würde mehr als ein schmerzendes Herz verursachen.
»Oh Gott, bitte lass mich heute Nacht sterben«, murmelte Marius erschöpft und zittrig in sein Kissen, bevor er in einen unruhigen Schlaf sank, in dem sich die freudvollen Ereignisse dieses Nachmittags noch einmal wiederholten.