Kapitel 12
An diesem Sonntagmorgen ließ Jillian sich von den ersten sachten Sonnenstrahlen wecken, die durch ihr Fenster fielen und einen rötlichen Schimmer auf ihr Gesicht warfen. Sie hatte bis tief in die Nacht wach gelegen. Ihr Geist hatte einfach keine Ruhe gefunden, bis sie irgendwann vor Erschöpfung eingeschlafen sein musste.
Dennoch glaubte sie, nicht mehr als vier Stunden geschlafen zu haben, denn ihre Lider fühlten sich an, als hingen bleierne Gewichte an ihnen. Die Schwere auf ihrem Herzen überwog dies allerdings noch. Sie versuchte, nicht an die kommenden Stunden zu denken. Aber egal wie fest sie ihre Augen auch zusammendrückte und versuchte, sich wieder zu entspannen, ihre Gedanken wurden wie von einer bösen Macht an den kommenden Tag gefesselt.
Sie seufzte schwer, schlug die Bettdecke zurück und stand auf. Sie zog die dünnen Vorhänge ihres Fensters zurück und blinzelte gegen das helle Sonnenlicht an. Langsam ließ sie den Blick über den klaren, blauen Himmel schweifen, doch dort fand sie keinen Trost. Da gingen ihre Gedanken plötzlich ihre eigenen Wege und landeten bei Justin.Wenn es dir nicht gut geht, dann denke an mich, okay? Ich bin bei dir!
Sie schloss die Augen und seine Worte waren plötzlich überall. Sie wollte ganz tief in ihrem Herzen daran glauben, dass er diese Worte ernst gemeint hatte.
Sie nahm sich vor, an diesem Tag noch einmal ganz nah bei ihren Eltern zu sein. Sie würde all ihre Erinnerungen an sie in sich aufrufen und dann würde sie die beiden gehen lassen. Und sollte ihr die nötige Kraft dazu fehlen, wusste sie, dass es Menschen gab, die sie auffingen.
„Danke.“ Entschlossen schlug sie die Augen wieder auf und verließ ihr Zimmer.
Als sie die Küche betrat, schlug ihr der angenehme Duft warmen Kaffees entgegen und sie erinnerte sich einmal mehr an jene Sonntage, an denen es in diesem Haus nicht nur Tim und sie gegeben hatte. Ihr Bruder stand, mit dem Rücken zu ihr gewandt, an der Anrichte und machte das Frühstück.
„Morgen.“, begrüßte sie ihn. „Kannst du nicht mehr schlafen?“
„Nein.“ Überrascht drehte er sich zu ihr um. „Du bist aber auch schon relativ früh dran.“ Er besah sie mit forschenden Blicken. Gestern war er später als erwartet nach Hause zurückgekommen. Es hatte am Flughafen Probleme mit seinem Gepäck gegeben, sodass er erst, und das mit einem Koffer weniger, am späten Nachmittag bei seiner Schwester gewesen ist.
Zum Glück war Jonas die ganze Zeit über bei ihr gewesen und hatte sie gestützt, als er es nicht gekonnt hatte. Heute war der Tag gekommen, vor dem sie alle sich so sehr gefürchtet hatten. Jetzt wollte er für sie da sein.
Jillian seufzte und holte ihn aus seiner Gedankenwelt zurück. „Die kommenden Stunden machen mir Angst, Tim. Ich bin noch nie auf einer Beerdigung gewesen. Jetzt sind es auch noch meine eigenen Eltern, um die ich trauern werde. Ich habe keine Ahnung, was von mir erwartet wird.“
Tim legte das Brotmesser bei Seite, ging zu ihr hinüber und legte ihr den Arm um die Schultern. „Jill, niemand erwartet irgendetwas von dir. Dieser Tag ist für Mama und Papa. Die Leute kommen, um sich an die beiden zu erinnern... um sich von ihnen zu verabschieden.“
„Aber was werde ich sagen, wenn sie dann vor mir stehen und mich fragen, wie alles weiter geht? Ich weiß es doch selbst nicht.“ Ihre Stimme klang verzweifelt und brach bei jedem Wort. Einmal mehr stellte er seine Entscheidung, trotz allem nach New York gegangen zu sein, in Frage, aber jetzt gab es kein Zurück mehr.
„Du sagst einfach das, was dein Herz dir sagt.“, antwortete er schließlich und schob sie sacht zum bereits fertig gedeckten Frühstückstisch. „Und jetzt lassen wir es uns schmecken. Wir werden die Kraft für diesen Tag brauchen.“
Nach dem mageren Frühstück – ihr Magen hatte einfach nicht mehr verkraftet als einen halben Apfel - zog Jillian sich sofort ins Badezimmer zurück. Während sie unter der Dusche stand und das warme, weiche Wasser über ihre Haut fließen ließ, hing sie ihren Gedanken nach.
Wie ginge es in den nächsten Monaten für sie weiter? Tim hatte seinen Platz im Leben gefunden, er musste keine Angst mehr haben. Er besaß eine schöne kleine Wohnung in New York, die er sich mit seinen Kumpels teilte. Jeden Tag jobbte er abends von acht bis elf in dem Club in seiner Straße. Am Dienstag war er zu einem Vorstellungsgespräch bei der Sun, einer erfolgreichen New Yorker Zeitung, eingeladen. Jillian wünschte sich so sehr für ihn, dass er die Stelle dort bekam. Sein Leben hatte dieses Ziel.
Sah sie jedoch auf ihr eigenes Leben zurück, konnte sie nichts als Chaos erkennen. Sie wusste einfach nicht, wo sie als erstes anfangen sollte aufzuräumen. Was sollte aus ihr werden, sollte sie das Abitur dieses Jahr nicht bestehen? Wiederholen kam für sie nicht in Frage, dafür fehlte ihr der nötige Ehrgeiz. Sie hasste die Schule und der Stoff fiel ihr tagtäglich schwerer. Wie sollte sie es nur schaffen, gut abzuschneiden? Wie sollte sie es schaffen, ganz ohne Hilfe einen guten Job zu bekommen, von dem sie würde leben können?
Jillian realisierte in diesem Moment einmal mehr, dass sie von nun an ganz auf sich allein gestellt sein würde. Angst kroch in ihr hoch. Verzweiflung keimte in ihr auf. Verantwortung belastete sie.
Das heiße Wasser, das an ihr herunterfloss, schien ihre Haut verbrennen zu wollen. Schnell drehte sie den Wasserhahn zu und wickelte sich Wärme suchend in ihr Lieblingshandtuch. Die Sachen für den kommenden Tag lagen schon auf dem kleinen Hocker neben der Dusche bereit. Sie besaß nicht viel schwarze Kleidung, aber das gehörte zu einer Beerdigung wohl dazu.
Als sie die Jeans überzog, fiel ihr auf, dass sie sehr stark abgenommen haben musste. Sie erinnerte sich, dass ihr die Hose früher einmal gut gestanden hatte, jetzt schlackerte sie unförmig an ihren Beinen hinunter. Den dunklen Rollkragenpullover hatte sie sich erst letztes Jahr von ihrer Mutter zu Weihnachten gewünscht, aber noch keine Gelegenheit gesehen, ihn zu tragen. Nun sah sie es als eine gewisse Ironie des Schicksals an, ihn gerade heute das erste Mal tragen zu müssen. Das lange schwarze Haar band sie im Nacken zu einem Pferdeschwanz zusammen.
Als sie sich die junge Frau im Spiegel genauer besah, erschrak sie. Unter ihren Augen zeichneten sich dunkle Schatten ab, die Pupillen waren angstgeweitet. Ihre Lippen waren spröde und die Brauen besorgt zusammen gezogen. Nun fragte sie sich, wer die Fremde ihr gegenüber war.
Als Jonas und seine Eltern das Haus verließen, um Jillian und Tim auf den Weg zum Friedhof abzuholen, war es bereits zwei Uhr am Nachmittag. Vom strahlenden Blau des Himmels, was noch am Morgen zu ihnen hinunter geleuchtet hatte, war nichts mehr zu sehen. Im Laufe des Tages hatten sich dichte Wolken angesammelt und versprachen, noch in den kommenden Stunden Regen zu bringen. Vertrocknetes Laub, das sich über den Herbst auf den Wiesen angesammelt hatte, wurde von scharfen Windstößen wie kleine Feen durch die Luft gewirbelt. Jonas schlug den Kragen seiner Jacke hoch und beschleunigte seine Schritte, während seine Eltern ihm schweigend folgten.
In diesen Tagen hatten Samantha und Martin Hill einmal mehr die Zerbrechlichkeit von allen Dingen des Lebens gespürt, obwohl sie gedacht hatten, gerade sie wüssten schon darum Bescheid. Beide waren sie reiche, behütete Beamtenkinder, die von strenger Hand erzogen worden sind. Doch gleichzeitig hatten sie durch ihre Berufe ständig mit Tod, dem Scheitern einer Ehe oder dem Verschwinden von Personen zu tun.
Doch im eigenen Leben war es anders. Daran würden sie sich beide das nächste Mal erinnern, wenn sie sich nüchtern an einen Klienten oder Angehörigen wandten. Sie hatten hochpositionierte, gut bezahlte Jobs, ein eigenes Haus, einen begabten und folgsamen Sohn, doch nach dem plötzlichen Tod der Seiferts war etwas mit ihnen geschehen. Sie hatten gesehen, wie diese schlichte, doch schier vor Glück strotzende, Familie innerhalb weniger Stunden zerbrochen war. Und als stille Beobachter der verzweifelten Trauer ihres Sohnes hatten sie schmerzhaft gespürt, dass ihre liebevollen Nachbarn trotz aller finanzieller oder schulischer Probleme ihrer Kinder immer schon reicher gewesen waren als sie selbst.
Ein Schalter hatte sich umgelegt und während Martin Hill in verzweifeltem Nachholbedarf seinem überforderten Sohn jeden Tag neue Gespräche aufdrängen wollte, zog Samantha sich still zurück und beobachtete ihren Jungen.
Dabei sah sie das erste Mal wirklich seinen Wert. Sie sah, wie er sich zu hause zurückzog und litt, um dann gefasst zu Jillian rüber zu gehen und für sie da zu sein. Seine Schularbeiten waren immer noch tadellos. Diese Woche hatte sie noch dazu Internetausdrucke über Fachkompetenz der Ärzte und eine Skizze von einer Krankenhauseinrichtung unter seinem Bett gefunden. Überrascht hatte sie sie sich angesehen. In einem solchen Krankenhaus war sie noch nie gewesen. Es hatte hohe Decken, von den Wänden aus rohem Naturstein wucherten überall Pflanzen in wilder Lebendigkeit herunter. Dies alles wurde von unauffälligen Lampen, groß wie kleine Sonnen in einem warmen Orangeton beleuchtet. Unter der Skizze standen vier Worte gekritzelt: Vorschlag ans St. Matthews??
Da hatte sie sich hingesetzt und geweint. Diese Gedanken mussten Jonas im Krankenhaus nach Jillians Zusammenbruch gekommen sein. Er ist ein Veränderer., hatte sie daraufhin stolz gedacht und hätte beinahe laut gejubelt. Stattdessen hatte sie unbeschwert aufgelacht, was ihr Herz seltsam zum Hüpfen gebrachte hatte wie zuletzt wohl nur in ihrer Kindheit, wenn überhaupt. Mein kleiner Weltenverbesserer.
Das Quietschen von Seiferts Haustür holte sie in die Gegenwart zurück. Jillian öffnete die Tür noch bevor Jonas die Zeit gefunden hatte, zu klingeln. „Hallo.“ Ihre Stimme klang erleichtert. Sie schien froh darüber, Jonas in diesen schweren Stunden bei sich zu wissen.
Dieser nahm sie in den Arm und sie klammerte sich wie eine Ertrinkende an ihm fest. Als er sie wieder losließ, musterte er sie besorgt. Das schlichte Schwarz und die zusammen gebundenen Haare machten sie älter. Sie wirkte stark und gefasst. Es erschreckte ihn, wie anders sie aussah. Und doch war er froh, dass sie sich gefangen zu haben schien.
Der Friedhof, auf dem die Trauerfeier stattfinden sollte, befand sich im Ort, sodass Tim, Jillian, Jonas und dessen Eltern zu Fuß zur Beerdigung gehen konnten. Es war kein langer Weg, vielleicht zehn oder zwanzig Minuten von ihren Häusern entfernt. Sie sprachen die ganze Zeit über kein Wort und jeder hing schweigend seinen eigenen Gedanken nach.
Als sie das große Eisentor erreichten, waren schon etliche Verwandte und Bekannte der Seiferts eingetroffen. Die Leute wirkten verloren in ihren schwarzen Sachen und in ihren Augen spiegelte sich große Trauer wider. Jetzt, da einer nach dem anderen von ihnen auf Jillian und Tim aufmerksam wurde, sahen sie sich hilfesuchend um, als wussten sie nicht, wie sie ausdrücken sollten, was sich in ihren Köpfen abspielte.
Von den Gesichtern der Anwesenden konnte Jillian ablesen, dass die Situation für diese genauso schwer und verwirrend war wie für sie selbst. Viele der Leute kannte sie persönlich von all den großen Familienfesten und Gartenpartys, die ihre Eltern immer so geliebt hatten. Einige von ihnen jedoch hatte sie nie zuvor gesehen und doch schienen diese Leute sie zu kennen.
Sie bewegte sich wie mechanisch, all ihre Gefühle schienen sich ausgestellt zu haben, während sie jeden einzelnen mit einem kurzen Händedruck begrüßte. Sie versuchte dabei, in andere Gedankenwelten abzutauchen, um die Beileidsbekundungen und mitleidigen Blicke nicht zu bemerken.
Als sie plötzlich vor ihren Großeltern ankam, erwachte sie je aus ihrer Trance. Sie tätschelte ihr ungeschickt die Wange und stammelte ein paar unverständliche Worte. Von ihrem Großvater vernahm sie nur immer wieder den Satz: „Wie konnte das nur passieren? Sie waren noch so jung.“ Auch ein Schwall von mitleidig aber auch bewundernden Sätzen wie: „Dass du das in deinen jungen Jahren ganz allein durchstehst!“ begleiteten die düstere Szenerie.
Jillian hielt den Mund fest geschlossen, um nicht laut zu schreien. Hättet ihr nicht die ganze Zeit nur an euren eigenen Schmerz gedacht, sondern ab und zu auch mal an uns, dann hätten wir es nicht ganz allein durchstehen müssen!, dachte sie unterdessen bitter.
Schnell schüttelte sie die trüben Gedanken wieder ab. Dieser Tag sollte allein ihren Eltern gehören. Der Friedhof war definitiv nicht der richtige Ort für einen Streit. Und frei nach dem Motto Was uns nicht umbringt, macht uns stärker, hatte sie gelernt, auf eigenen Beinen zu stehen. Sie hatte Hilfe bekommen, als sie Hilfe gebraucht hatte. Und auch jetzt, wo Jonas kurz aufmunternd ihre Hand drückte, wusste sie, dass ihr diese Hilfe auch in Zukunft nicht versagt bleiben würde.
Noch einige Minuten herrschte beklemmende Stille zwischen den Trauernden. Nur hie und da war ein leises Flüstern zu vernehmen. Als auch das verstummte, sah Jillian auf. Der Pfarrer war angekommen. Ein ermutigendes und zugleich ernstes Lächeln umspielte seine Lippen, als er dem Blick des Mädchens begegnete.
Mit ihrem großen Bruder hatte er in den letzten Tagen mehrfach telefonisch in Verbindung gestanden. Er hatte sich von dem jungen Mann erzählen lassen, was seine Eltern für Menschen gewesen sind. Aus seinen Worten war so viel Liebe und Schmerz heraus gegangen, dass die Telefonate nicht spurlos an dem Geistlichen vorüber gezogen sind. Mit einer geradezu rührenden Aufopferung hatte er seine Ansprache immer wieder überarbeitet und durchgelesen, damit die zwei Geschwister und auch alle anderen Verwandten und Bekannten dieser offensichtlich so liebevollen Verstorbenen einen würdigen Abschied von ihren Liebsten bekamen.
Jillian fühlte sich wie betäubt, als sie zusammen mit all ihren Verwandten und Bekannten den langen Kiesweg zur Kirche, der über den Friedhof führte, entlang schritt. Sie nahm nichts mehr wahr, was um sie herum geschah. Sie spürte weder den kalten Märzwind durch die knorrigen, alten Buchen pfeifen, noch Jonas’ Hand, die nach der ihren griff. Der Trost, der in dieser Geste lag, drang nicht bis zu ihrem Unterbewusstsein vor. Sie starrte nur mit steinernem Blick auf die altertümliche Kirche, deren große Pforten sie jetzt erreicht hatten. Das dunkle Holz der Türen war an manchen Stellen von Sonne und Regen verblichen. Als der Pfarrer den verrosteten großen Schlüssel in das Schlüsselloch steckte und ihn ganz langsam umdrehte, war ein unheimliches Knarren und Quietschen zu hören.
Jillians Glieder versteiften sich schmerzlich. In ihrem ganzen Leben hatte sie noch keine Kirche betreten. Sie wusste nicht, was sie zu erwarten hatte.
Sie hätte sicher mit allem gerechnet, nur nicht damit: Als sich die alten Pforten knarrend öffneten, wurde sie von kaum vernehmbarer, sanfter Musik begrüßt. Es war ein altes Lied, das sie noch aus ihrer Kindheit kannte. Ihre Mutter hatte es ihr immer vorgesungen, wenn sie aus einem bösen Traum erwacht war und nicht mehr hatte einschlafen können. Jetzt jedoch wünschte sie sich mehr als alles andere auf der Welt, dass die letzten Wochen und Tage nicht mehr als ein böser Traum gewesen wären.
Sie schrak aus ihren Gedanken hoch, als ihr jemand sanft die Hand auf die Schulter legte und sah auf. Tim schaute mit besorgtem Blick auf seine sie hinab, in den letzten Minuten war sie so still geworden. Ihr Blick war glasig und voller Angst. Er fürchtete schon, sie würde zusammenbrechen, doch genau in diesem Moment kehrten der Kampfgeist und die Entschlossenheit in ihre Augen zurück und er lächelte ihr aufmunternd zu.
Seine Großeltern, die Arbeitskollegen und Freunde seiner Eltern, die Hills und auch alle seine Verwandten hatten sich schon Plätze auf den alten Holzbänken gesucht, nur er und Jillian standen noch im Gang.
„Komm, wir setzen uns hin.“ Er sprach ganz leise und beruhigend auf sie ein, doch in ihm tobte das Chaos. Er fühlte sich eingesperrt in dem festen Mauerwerk der alten Kirche und alles in ihm schrie.
Jillians innere Ruhe kehrte jedoch zurück, als sie das sanfte Sonnenlicht spürte, das durch die bunten Mosaikfenster auf die vielen Bänke fiel. Der ganze Raum duftete nach Rosen, so wie es ihre Mutter immer getan hatte. Die Blumen waren in großen Sträußen in der ganzen Kirche verteilt.
Endlich setzte sie sich wieder in Bewegung und setzte sich zusammen mit Tim auf eine Bank in der ersten Reihe, vor Jonas und seine Eltern. Ihr Blick fiel nach vorn. Auf dem Altar lag ein schwarzes Tuch aus Seide, auf welchem ebenfalls ein Korb voller roter Rosen thronte. Darüber hing das Bildnis des gekreuzigten Jesus, gerade so, als wolle er über ihre Eltern wachen. Der Gedanke daran gab Jillian Kraft.
Erst jetzt fielen ihr die Portraits von den beiden auf, die links und rechts vom Altar auf zwei massiven Ständern aus Holz ihren Platz gefunden hatten. Zwar waren ihr die Bilder fremd, die Personen, die sie zeigten, kannte sie jedoch genau. Ihre Mutter schaute mit einem warmen Lächeln auf den Lippen in die Gesichter der anwesenden Freunde und Jillian glaubte fast, ihre Anwesenheit zu spüren. Ihr Vater schaute mit festem Blick und einem gewissen Stolz auf sie alle herab.
„Was sind das für Bilder?“ Jillian wagte kaum, ihre Stimme zu erheben.
„Das sind Gemälde. Ich habe in den Staaten einen Maler kennen gelernt und ihm die Fotos unserer Eltern gegeben, damit er sie auf Papier bringen kann. Ich wollte, dass ihre Anwesenheit hier überall zu spüren ist. Gefallen sie dir?“ Tim sah seine Schwester aufmerksam an, in deren Augen nun Tränen schwammen. Sie brachte nur ein stummes Nicken zustande.
Der Pfarrer stand geduldig und ruhig vor dem Altar. Er gab den Anwesenden die Zeit, die sie brauchten, um sich an alle Eindrücke zu gewöhnen. Prüfend warf er einen Blick auf die Kinder der Verstorbenen und spürte an dem entschlossenen Blick des Mädchens, dass sie nun bereit dafür waren, loszulassen und er begann:
„Liebe Familie und Freunde, ich habe die Erfahrung gemacht, dass man auf alles im Leben vorbereitet wird. Sogenannte Wetterexperten bereiten uns auf die Klimaverhältnisse der kommenden Tage vor. Teeniezeitschriften bereiten die Jugendlichen auf das Erwachsensein vor. Lehrer bereiten ihre Schüler auf die Prüfungen vor. Kalender bereiten uns auf die kommenden Tage des Jahres vor. Auf alles im Leben werden wir vorbereitet. Wir haben den Wecker erfunden, um nicht zu spät zur Arbeit oder zur Schule zu kommen. Der Wecker bereitet uns auf das Aufstehen und die kommenden Stunden des anbrechenden Tages vor. Auf fast alles im Leben werden wir vorbereitet, aber wer bereitet uns auf den Tod vor? Wo sind all die Handbücher, Lexika und Ratgeber, wenn man sie dann so dringend braucht? Die Lehrer in der Schule haben nie etwas davon erwähnt, dass wir eines Tages einen uns nahestehenden Menschen verlieren würden. Alle unsere Verwandten und Freunde wenden sich zögernd von uns ab, weil sie glauben, wir müssten allein sein, in einer solch schrecklich schweren Zeit. In der Realität aber, ist es ganz egal, was sie glauben, denn so richtig Bescheid weiß niemand, wenn es darum geht, wie man mit dem Tod umzugehen hat. Selbst die Verstorbenen wissen das nicht immer so genau. Ihre Seelen finden keine Ruhe, weil die Herzen derer, die sie zurückließen, gebrochen sind. So finden weder die Lebenden noch die Toten ihren Weg. Und genau aus diesem Grund sind wir heute hier zusammen gekommen, um einander zu trösten und gemeinsam zu trauern und Abschied zu nehmen...“
Jillian starrte mit offenen Augen und Ohren nach vorn zum Altar und lauschte den Worten des Pfarrers. Sie spürte, dass die Rede auf Tim und sie abgestimmt war und sie fühlte sich unendlich verstanden. Die Worte hatten sie tief in ihrem Inneren berührt, in einem Augenblick, in dem sie geglaubt hatte, nichts würde sie je wieder wirklich berühren können. Stille Tränen tropften ihre Wangen hinunter, aber es war gut. Ihre Rastlosigkeit hatte sich endlich wieder gelegt, in ihr herrschte Frieden.
Nun begann der Pfarrer über ihre Eltern zu sprechen, von dem zu erzählen, was Tim ihm telefonisch aus New York über die beiden berichtet hatte. Er erinnerte sich genau an die schweren Tage und die ungewollten Entscheidungen, die er in diesen hatte treffen müssen. Neben der Wahl der richtigen Särge, der Blumen und der Musik für die Beerdigung, war das Telefonat mit dem Pfarrer das Schmerzhafteste gewesen, was er jemals in seinem Leben hatte tun müssen. Aber er hatte nicht aufgegeben, er war stark geblieben, für seine Schwester. Und jetzt konnte er stolz dabei zusehen, wie auch sie durch die Worte des Pfarrers neuen Mut und neue Kräfte gewann. Aus den Augenwinkeln heraus beobachtete er sie.
Während der Pfarrer die Wortfetzen über ihre Eltern, die Tim ihm vorgestammelt hatte in flüssige Wahrheiten verwandelte, sah Jillian all die Bilder, die er mit seinen Worten malte ganz deutlich vor sich, sie konnte fast schon danach greifen. In diesem Moment nahm sie nichts anderes mehr wahr, als die pure Gegenwart ihrer Eltern. Sie spürte weder die harte Holzbank unter sich, noch den Duft der Rosen, der sie in der Nase kitzelte und auch nicht die Hand ihres Bruders, die tröstend auf der ihren ruhte. Sie saß ganz ruhig und entspannt auf ihrem Platz und während sie die Augen schloss, faltete sie die Hände und begann, still für ihre Eltern zu beten.
„...und wir haben heute alle zwei Menschen verloren, die eine ganz besondere Stütze in unserem Leben geworden sind. Also lasst uns jetzt zusammen Abschied nehmen von einer Mutter und einem Vater, von einer Schwester und einem Bruder, von einer Freundin und von einem Freund, von einer Tochter und von einem Sohn, von einer Frau und von einem Mann, die unersetzlich für ihre Lieben geworden sind.“
Als der Pfarrer mit seinen Worten zum Ende kam, erhob Jonas sich, um mit all den anderen das Vaterunser zu sprechen. Während er dies tat, hielt er sich Katrin und René Seifert noch einmal deutlich vor Augen. Er wollte, dass es ihnen gut ging, wo immer sie jetzt waren.
Nach dem Gebet forderte der Pfarrer die Trauernden auf, ihm nach draußen auf den Friedhof zu folgen und während sie wie in Trance über den Rasen schritten, versuchte Jonas, sich durch all die Leute bis ganz nach vorn zu Jillian durchzukämpfen.
Als er endlich neben ihr stand, waren sie bereits an den beiden Gräbern angekommen und keiner sagte auch nur ein Wort. Jonas wagte nicht, einen Blick auf die kalten grauen Steinplatten zu werfen, die vor ihm aus der Erde ragten.
Jillian war wie erstarrt. All das, was sie tagelang zu verdrängen versucht hatte, wurde ihr nun schlagartig klar. Ihre Eltern würden nicht zurückkommen, wenn sie nach ihnen riefe. Ein Grabstein hatte so etwas Endgültiges an sich. Sie konnte die in ihr aufkeimenden Tränen nur mühsam zurückhalten, aber es gelang ihr weiterhin, die Beherrschung nicht zu verlieren. Sie spürte die Kälte des Winters nicht. Sie sah Tims Tränen nicht. Sie realisierte die Wirklichkeit nicht. Sie hörte die letzten Worte des Pfarrers nicht. Umso erschrockener war sie, da er jetzt vor ihr stand und ihr eine rote Rose entgegen hielt. Auch Tim hatte eine erhalten.
„Eine Blume strahlt immer Stolz und Schönheit aus. Selbst, wenn sie verwelkt ist, erinnern wir uns noch an ihren Duft. Darum nehmt diese Blume als Zeichen eurer Erinnerung und werft sie als Abschiedsgeschenk ins Grab.“, erklärte er nun.
Wie betäubt sah Jillian zu, wie ihr Bruder zu den Gräbern ging und die Rose ins Grab ihres Vaters warf. Sie sah auch, wie sich dabei seine Lippen bewegten, aber sie vermochte die Worte, die er sagte, nicht zu verstehen.
Sie atmete zitternd aus und erst jetzt merkte sie, dass Jonas ihre Hand drückte. Für einen Moment blieb sie einfach so neben ihm stehen, da sie fürchtete, ohne seinen Halt den Boden unter den Füßen zu verlieren.
„Jillian.“ Der Pfarrer sah das Mädchen teils auffordernd, teils ermutigend an. Sie krallte sich mit aller Kraft an den Jungen neben sich und er hoffte so sehr für sie, dass dieser Junge ihr auch in den folgenden Monaten weiter zur Seite stehen würde.
Jonas ließ Jillian los, um ihr zu zeigen, dass sie keine Angst haben musste. Sie war so stark. Endlich bewegten sich ihre Beine vorwärts. Die Blicke aller Anwesenden waren nur auf sie geheftet und in diesem Augenblick sahen sie alle eine erwachsene Frau vor sich.
Jillian achtete nicht auf den Sarg, den sie tief unter sich sah, vor ihren Augen sah sie nur ihre wunderschöne, lebensfrohe und vor allen Dingen liebevolle Mutter. Mit einem geflüsterten „Ich liebe dich“ warf nun auch sie ihre Rose ins Grab, dann wandte sie sich zu den Verwandten und Freunden ihrer Eltern um. Als sie die Stimme erhob, wurde es augenblicklich still.
„Ich würde gern etwas sagen.“ Unsicher sah sie erst den Pfarrer, dann ihren Bruder und zuletzt Jonas in die Augen, alle nickten ihr ermutigend zu. „Ich wollte euch allen nur sagen, dass unsere Eltern nicht wirklich fort sind. Sie hatten so viel Liebe in sich. Heißt es nicht, Liebe könne nicht sterben?“ Sie spürte, wie Tränen ihr die Sicht nahmen, als zustimmendes Gemurmel einsetzte und fuhr leise fort: „Ich wollte nur, dass ihr alle wisst, dass es ihnen viel bedeutet hätte, dass ihr alle jetzt hier seid.“
Gerührt von ihren Worten, sah Jonas in die Gesichter von Jiliians Familie und Bekannten, die allesamt mit den Tränen zu kämpfen hatten und bewundernd zu dem kleinen Mädchen sahen, was jetzt so viel Größe bewies.