Kapitel 13
Jillian stand ganz allein vor den Gräbern ihrer Eltern. Ihre Verwandten hatten sich wieder auf den Weg nach Hause gemacht und auch der Pfarrer hatte die großen Türen der Kirche längst verschlossen. Tim war zusammen mit ihren Großeltern nach Hause gegangen, weil sie noch etwas mit ihm besprechen wollten.
Jillian machte sich keinerlei Gedanken darum, ihr Geist war auf dem Friedhof gefangen. Ihr Blick war trüb und leer. Sie starrte auf die beiden Grabsteine vor sich und las sich die Namen und Geburtsdaten, die darauf standen wieder und wieder durch, damit sie begreifen konnte, um wem es sich bei den Toten handelte. Doch so sehr sie es auch versuchte, es wollte ihr nicht gelingen.
Nicht weit entfernt, doch von ihr unbemerkt, stand Jonas. Er wagte nicht, sich von der Stelle zu rühren, um sie nicht in ihren Gedanken zu stören. Es zerriss ihm fast das Herz sie so zu sehen, während feiner Nieselregen ihre Sachen durchweichte. Von den sanften Sonnenstrahlen, die sie bei der Trauerfeier in der Kirche getröstet hatten, war keine Spur mehr zu sehen.
Ein kalter Windhauch ließ ihn frösteln und er erwachte aus seinen Gedanken. Wenn sie noch länger hier im Regen herumstünden, würden sie sich noch erkälten. „Jill?“
Sie wandte den Kopf wie in Zeitlupe zu ihm um, als sie den weichen Klang seiner Stimme vernahm. Etwas schob sich unbemerkt neben die Leere in ihrem Brustkorb. „Jonny...“
Hilflos standen sie sich in einiger Entfernung gegenüber und sahen einander an. Kurz schien die Zeit für beide still zu stehen.
Jonas wusste nicht, was er tun sollte, um sie zu trösten. „Es regnet. Wir sollten nach Hause gehen.“, sagte er darum nur.
Sie nickte und ging zögerlich zu ihm. Niemand hätte verstehen können, dass sich für Jillian jeder Schritt, den sie sich von den Gräbern ihrer Eltern entfernte, anfühlte wie körperlicher Schmerz.
„Wie geht es dir?“, wollte Jonas nach einiger Zeit wissen, als sie den Friedhof endlich hinter sich gelassen hatten.
„Ich weiß es nicht genau.“, antwortete sie ehrlich. „Erst habe ich geglaubt, vor Schmerz zerreißen zu müssen, aber dann...“ Sie ließ das Ende offen.
Jonas sah sie forschend an. „Dann?“
Sie lächelte – teils verlegen, teils verwirrt. „Dann habe ich deine Stimme gehört und wusste mit einem Mal, dass ich nicht alleine bin.“
Darauf wusste er nichts zu erwidern. Während sie still ihren Weg fortsetzten, lächelte er nur stumm; doch nicht mit dem Mund, sondern mit seinem Herzen.
Jedes Lächeln verging ihm allerdings, als er und Jillian ins Haus gingen und Tim ihnen mit seinem gesamten Gepäck entgegen kam. Jillian sah ihn verdutzt an. Sie war es nicht gewohnt, dass Tim im Vorraus plante und sei es nur einen Tag. „Du hast schon gepackt? Aber das hätte doch auch noch bis morgen Zeit gehabt.“
Jonas ahnte, was folgen würde und seine Miene verdüsterte sich schlagartig. An Tims Gesichtsausdruck konnte er erkennen, dass er sich ertappt fühlte und ihm die Situation extrem unangenehm war. Jonas’ Blicke sprühten Funken. Scheinbar hatte Tim vor, seine Schwester noch am Tag der Beerdigung ihrer Eltern allein zurückzulassen.
Tim sah vom einen zum anderen. Er konnte nicht sagen, was ihm mehr zu schaffen machte: die Naivität seiner Schwester oder der so offensichtliche Hass ihres besten Freundes. Er wusste keine schonende Methode, um Jillian beizubringen, was er zu sagen hatte, also sagte er es gerade heraus: „Ich habe gerade eine E-Mail bekommen. Mein Vorstellungsgespräch wurde vorverlegt. Morgen Nachmittag muss ich in New York sein.“
Jillian war es, als täte sich unter ihr ein tiefer Abgrund auf. „Du reist heute noch ab??“
Als Tim hörte, wie ihre Stimme zitterte, wagte er es nicht, ihr in die Augen zu sehen und antwortete stattdessen nur: „In einer Stunde.“
„In einer Stunde schon?“ Jillian sah ihn ungläubig an. Sie hatte darauf vertraut, dass er für sie da sein würde, wenigstens an diesem einen Tag. Aber sie würde wieder allein sein, noch heute. Erst wollte sie all ihre Ängste und ihre Wut herausschreien, direkt in sein Gesicht, doch dann spürte sie Jonas’ Hand auf ihrer Schulter ruhen. Sie atmete tief durch. Beinahe hätte sie unüberlegt gehandelt. Im Grunde wusste sie doch, dass die letzten Tage für Tim in dem fremden Land so viel schwerer gewesen waren als für sie, die hier in ihrer vertrauten Umgebung getröstet worden ist.
Sie wusste auch, um was es für Tim bei diesem einen Vorstellungsgespräch für die Stelle als Journalist bei der Sun ging: um alles oder nichts. Schon immer war es sein größter Traum gewesen, als Reporter den Menschen mitzuteilen, was in der Welt vor sich geht. Dabei wollte er immer Berichte schreiben, die nicht irgendwelchen ausgeschmückten Märchen glichen, sondern nur der puren Wahrheit. Er wollte damit jeden erreichen, auch seine Schwester. Und außerdem brauchte er Geld, von dem er in New York leben konnte. Wer sollte seinen Unterhalt denn sonst finanzieren? Er war jetzt der „Vater“. Er trug die Verantwortung für sich selbst ganz allein und dazu noch für sie, was wohl die größte Bürde darstellte.
Tim sah Jillian in die Augen und wusste, dass er sie verloren hatte, auch wenn sie stark und gleichmütig tat. Sie war enttäuscht. Er ballte die Hand zur Faust und erinnerte sich an einen warmen Sommertag vor sechs Jahren. Damals war Jillian gerade zwölf Jahre alt gewesen und hatte ihren ersten Freund gehabt. Simon hatte er geheißen. Jetzt erinnerte er sich wieder genau. Er hatte die beiden damals beim Küssen erwischt. Alles war ganz harmlos gewesen. Sie hatten im Garten auf einer Decke gesessen und sich einen kurzen, unschuldigen Kuss auf den Mund gegeben. Damals hatte er die beiden vom Küchenfenster über der Spüle aus beobachtet und sich als ihr großer Bruder sofort verpflichtet gefühlt, seine kleine Schwester vor allen anderen Jungs zu beschützen, Jonas ausgenommen, der Jillians erste Liebe auch nie hatte ausstehen können. Tim musste schmunzeln, als er daran dachte.
Die weiteren Passagen seiner gedanklichen Reise in die Vergangenheit waren weniger amüsant. Er war mit der aufspielerischen Coolness eines Siebzehnjährigen aus dem Haus gestürmt und hatte die beiden auseinander gerissen und somit den ersten Kuss seiner Schwester zerstört. Danach hatte sie wochenlang nicht mehr mit ihm gesprochen, doch die größte Strafe für sein Vergehen waren ihre großen, traurigen Augen gewesen, die ihn keines Blickes mehr gewürdigt hatten. Von da an hatte er sich geschworen, sie nie wieder zu enttäuschen und nun war es doch wieder passiert.
Jetzt würde Jonas seinen Platz einnehmen. Damit würde er wohl jetzt leben müssen. Was konnte er von New York aus schon für Jillian tun? Wieso hatte er nicht eher daran gedacht, wie schwer es ohne ihn für sie sein würde? Das verrieten ihm jetzt erstmals ihre Blicke, die sie immer geschickt hinter einem Lachen zu tarnen versuchte.
Jonas machte keinen Hehl aus seinen Gefühlen und taxierte Tim mit warnenden Blicken, von dessen Miene abzulesen war, dass dies noch lange nicht der Gipfel des ganzen war. Es war ihm anzusehen, dass eine weitere Hiobsbotschaft auf Jillian wartete und dabei wusste Jonas, dass dies für sie mehr war, als sie ertragen konnte, zudem noch am Tag der Beerdigung ihrer Eltern.
„Oma und Opa wollen etwas mit dir besprechen. Vielleicht sollte Jonas rüber gehen...“, begann Tim zögerlich und ärgerte sich selbst darüber, dass er unter den Blicken des jüngeren Mannes zusammen zu schrumpfen schien.
„Nein, das sollte er nicht! Ich habe keine Geheimnisse vor ihm.“ Jillians scharfer Tonfall riss Jonas aus seinen Gedanken und er sah sie erschrocken an. Sie wirkte müde und abgespannt.
„Na schön!“ In Tims Stimme schwang leichter Ärger mit, aber Jillian kümmerte sich nicht darum, sondern ging an ihm vorbei ins Wohnzimmer, wo ihre Großeltern schon auf sie warteten. Ihr Bruder und Jonas folgten ihr schweigend.
Sie ließ sich stumm in den Sessel fallen, der gegenüber der Couch stand, auf welcher ihre Großeltern saßen. Sie wirkten gefasst, auch ihre Tränen schienen vorerst versiegt.
„Wie geht es dir?“, fragte ihre Großmutter vorsichtig an ihre Enkelin gewandt.
Diese antwortete nur kurzangebunden, sie wollte so schnell wie möglich nach oben in ihr Zimmer und allein sein. „Im Moment bin ich einfach nur müde... Tim meinte, ihr hättet etwas mit mir zu besprechen?“
Tim und seine Großeltern tauschten nervöse Blicke, bevor er und Jonas sich ebenfalls einen Platz suchten und Jillians Großvater das Wort ergriff: „Wir alle waren heute sehr überrascht von dir, wie stark du auf dem Friedhof gewesen bist.“
„Danke.“, erwiderte Jillian, doch sie war weiterhin auf der Hut. Zurecht, wie sich einen Augenblick später herausstellte.
„Dennoch haben wir auch bemerkt, dass du sehr schwach wirkst. Du bist blass und dünn. Du wirkst krank.“
„Ach, Opa.“, seufzte sie erschöpft. „Ist das nicht normal? Ich habe meine Eltern verloren. Es ist nicht leicht, sich so plötzlich ganz allein zurechtfinden zu müssen.“
Diese Worte lösten in Tim erneut große Schuldgefühle aus. Sein Großvater war jedoch dankbar dafür, nun hatte Jillian das Thema unbewusst selbst in die richtige Richtung gelenkt. „Das verstehen wir voll und ganz. Es ist klar, dass du den Haushalt und die ganze Verantwortung nicht allein tragen kannst. Darum haben dein Bruder und wir beschlossen, dass du erst einmal für eine Weile mit zu uns kommen wirst.“
Die Worte trafen Jillian und Jonas wie ein Schlag ins Gesicht. Tim rutschte unruhig auf seinem Platz hin und her. Sein Großvater war noch nie ein Redekünstler gewesen, aber diesen wichtigen Satz hätte er wirklich versuchen können, besser zu formulieren.
„Was habt ihr?“ Jillian konnte ihren Ohren nicht trauen und schaute abwechselnd zu Tim und dann wieder zu ihren Großeltern. Ihre Wut und Enttäuschung ließ sich mittlerweile kaum noch in Worte fassen. Wie ein verwundeter Hund sollte sie jetzt gepflegt und sicher verwahrt werden.
„Es ist ja nicht für immer. Nur bis du eine Ausbildung hast.“ Ihre Großmutter hatte lange nichts mehr gesagt und hoffte nun, ihre Enkeltochter mit ihren Worten beruhigen zu können, erreichte aber genau das Gegenteil.
„Was? Wo soll ich denn zur Schule gehen? Ihr wohnt drei Stunden entfernt von hier.“, fragte Jillian laut.
Tim sah, wie sich pures Entsetzen auf dem Gesicht seiner Schwester widerspiegelte und begann nun, seine Entscheidung zu hinterfragen. Er hatte nur das Beste für sie gewollt... oder aber für sich selbst. Er senkte beschämt den Blick, während seine Großeltern auf Jillian einredeten, die alles wortlos über sich ergehen und nicht durchblicken ließ, was sie wirklich dachte. Er hatte die Gewissheit gewollt, Jillian sicher bei seinen Großeltern zu wissen, die sich verantwortungsvoll um sie gekümmert hätten. Jetzt sah er ein, dass er Jillians Vertrauen missbraucht hatte und unterbrach seinen Großvater: „Wenn Jillian nicht umziehen möchte, dann kann sie hier bleiben.“
„Nein!“ Seine Großmutter widersprach ihm heftig. Ihr Enkel verlangte von ihnen, dass sie Jillian, die in ihren Augen noch ein halbes Kind war, hier sich selbst überließen, während er durch die Weltgeschichte reiste. Den Teufel würden sie tun! „Ich weiß nicht, was du auf einmal hast. Es war deine Idee. Jetzt wird es gemacht! Wir wollen Jillian wirklich zu nichts zwingen, aber wir sehen doch, dass sie hier nicht allein zurechtkommt.“
„Sie ist nicht allein!“ Diese Worte kamen von Jonas. Alle sahen ihn erstaunt an. In den letzten Minuten hatten sie ganz vergessen, dass er da war. Jetzt ergriff er erstmals das Wort. Er würde Jillian nicht gehen lassen. Nicht etwa, weil er zu egoistisch dafür war, sondern weil er sich um sie sorgte. Sie brauchte ihre vertraute Umgebung, ihre Erinnerungen, ihre Klassenkameraden, ihn. Und er brauchte sie.
„Jillian hat viele Freunde und auch unsere Lehrer stehen hinter ihr. Wenn etwas mit ihr nicht stimmen würde, dann würden sie euch sofort benachrichtigen. Die Idee eines Umzuges ist völlig unsinnig. Außerdem kommt sie sehr wohl allein zurecht – besser als jeder andere von uns, würde ich meinen!!“
Jillian sah ihn dankbar an. Woher nahm er nur immer all die Kraft, während sie sich taub und müde fühlte?
„Was glaubst du eigentlich, wer du bist?!“, fuhr ihr Großvater nun auf und musterte den Jungen mit scharfen Blicken.
Jonas blieb erstaunlich ruhig. „Ich glaube, dass es nicht gut wäre, Jillian aus ihrer gewohnten Umgebung zu reißen und in eine Kilometer weit entfernte Großstadt zu schleifen.“
„Jetzt reicht es aber!“ Nun wurde es auch Jillians Großmutter zu viel. „Ihr tut ja alle gerade so, als würden wir ihr schaden wollen, dabei wollen wir genau das Gegenteil. Wenn sie nicht freiwillig mitkommen will, dann müssen wir eben das Jugendamt einschalten.“
Diese Worte zogen eine schneidende Stille nach sich, bis Jillian endlich wieder Worte fand. „Das kann ja wohl nicht dein Ernst sein!“ Sie sprang auf und gleichzeitig wurde auch ihre Stimme bedrohlich laut. „Ihr habt nicht über mich zu bestimmen. Ich bin volljährig. Zudem wisst ihr rein gar nichts von mir!! Wo seid ihr denn gewesen, als Mama und Papa gestorben sind und wir zusehen mussten, wie wir klarkommen? Jetzt, wo es mir wieder besser geht, wollt ihr die strahlenden Retter sein, aber da mache ich nicht mit! Ich werde nicht von hier fort gehen. Das ist mein Zuhause.“
Nun rannen die Tränen erneut über ihre Wangen und niemand traute sich, ihr zu widersprechen. Nur Jonas sprach ihr leise beruhigende Worte zu, bevor sie fortfuhr: „Ich habe meine Eltern verloren, aber ich habe immerhin noch ein Zuhause und das lasse ich mir nicht auch noch nehmen.“
Nach diesen Worten stürmte sie aus dem Zimmer und rannte überstürzt die Treppe hoch, sodass sie beinahe ausgerutscht wäre. In ihrem Zimmer angekommen, ließ sie die Tür hinter sich krachend ins Schloss fallen, warf sich auf ihr Bett und begann hemmungslos zu weinen.
Unten im Wohnzimmer warfen sich Jonas, Tim und seine Großeltern unterdessen entsetze und besorgte Blicke zu. Keiner von ihnen hatte Jillian jemals so aufgeregt erlebt. Ihre Großeltern fühlten sich dadurch in ihrem Glauben bestätigt.
„Tim, sieh uns nicht so an!“ Seine Großmutter schrie beinahe. „Es war deine Idee!“
„Und damit wahrscheinlich die Dümmste meines ganzen Lebens.“, bestätigte er ihr wütend. „Es war eine Idee, ja. Ein Vorschlag an Jillian und keine geheime Abmachung unter uns, sie gegen ihren Willen von hier zu entführen!“
„ENTFÜHREN!!“, polterte sein Großvater. „Was glaubst du eigentlich, mit wem du hier sprichst? Eigentlich ist es deine Pflicht, auf das Mädchen aufzupassen, aber du reist ja lieber in der Weltgeschichte umher. Wahrscheinlich vom letzten Nachlass deiner Eltern!!“
„Nein, denn mit diesem habe ich die Beerdigung heute finanziert.“, knirschte er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Das Verhältnis zu seinen Großeltern väterlicher Seite ist ja nie das Beste gewesen, jedoch war er sicher nie in seinem Leben von irgendjemandem so heftig beleidigt worden. „Eigentlich hättest du als Elternteil die Kosten dafür übernehmen müssen, aber stattdessen tat ich es, ohne zu murren. Wenn Mutters Eltern noch leben würden, wäre heute alles anders abgelaufen. Und wenn Vater euch jetzt hören könnte… erstaunlich eigentlich, dass ihr ihn mit eurer Engstirnigkeit nicht verdorben habt und er so ein wundervoller Mann geworden ist.“
Sein Großvater sprang auf und erhob die Hand gegen ihn, doch Jonas war sofort an Tims Seite und hielt die erhobene Hand fest. „In diesem Haus gibt es keine Schläge!“
Tim sah seine Großeltern voller Abscheu in die Augen. Er würde dafür sorgen, dass sie sich aus Jillians Leben raushielten, noch heute! „Ihr geht jetzt besser.“
Seine Großmutter sah ihn empört an. „Du wirfst uns raus? Aus dem Haus meines Sohnes?“
„Ich beschütze meine Schwester davor alles zu verlieren, was ihr noch geblieben ist!“ Tim fuhr auf und konnte seine Wut kaum noch unter Kontrolle halten. „Und ganz recht, ihr befindet euch im Haus meiner Eltern. Wenn sie wüssten, dass ihr Jillian am Tag ihrer Beerdigung mit dem Jugendamt gedroht habt, dann würden sie genauso handeln wie ich, glaubt mir.“
Jonas ließ Tims Großvater los – die Gefahr schien nun gebannt - und legte Tim beruhigend die Hand auf die Schulter. Die Geste schien ihre Wirkung nicht zu verfehlen. Als Tim fortfuhr hatte er seine Stimme wieder einigermaßen unter Kontrolle. „Wie gesagt, es ist richtig, dass das Ganze wohl meine Idee gewesen ist. Aber ich habe gesagt, wir ziehen einen Umzug in Erwägung. Ihr solltet Jillian nur fragen. Mit einem nein ihrerseits hat sich die Sache erledigt und egal, was ihr jetzt noch sagt, ich werde meine Meinung daran auch nicht mehr ändern.“
„Jillian muss...“, begann sein Großvater, wurde aber dieses Mal von Jonas unterbrochen. „Jillian muss gar nichts!! Sie ist achtzehn Jahre alt. Die schwerste Woche hat sie hinter sich. Wo waren Sie in dieser Zeit eigentlich? Sie hat nicht einmal einen Anruf von Ihnen erhalten.“
„Ich lasse nicht so mit mir sprechen! Was nehmen Sie sich eigentlich heraus?!“, polterte ihr Großvater.
„Jonas kann sagen, was er will. Das hier ist auch sein Zuhause!“, sagte Tim bestimmt. „Er war immer da. Er hat auch Mama und Papa geholfen. Wir sind wie Geschwister aufgewachsen. Einer von Jillians älteren Brüdern geht nach Amerika. Der andere ist noch hier und ich lasse nicht zu, dass ihr sie gegen ihren Willen von ihm trennt.“
Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Tims Großeltern standen auf und verließen das Wohnzimmer. In der Haustür drehte sich sein Großvater noch einmal um. „Für uns ist das letzte Wort in dieser Sache noch lange nicht gesprochen.“
Tim lachte bitter auf. „Für uns allerdings schon!“, sagte er dann und warf die Tür ins Schloss, um jegliche Widerworte zu vermeiden. Dann sahen er und Jonas einander an. „Ich danke dir… ich kann nicht ausdrücken, wie sehr. Mein Gott, er hätte mir einen Kinnhaken verpasst.“
„Wenn das einer tut, dann bin ich das.“ Jonas lachte bitter. „Jillian hätte das nie und nimmer gewollt… und ich wollte es auch nicht.“
„Geh du zu ihr.“, sagte Tim schließlich und schluckte schwer. „Das mit dem Bruder… das war nicht so dahin gesagt, das bist du wirklich für mich. Ich hab es nie gemerkt neben all dem Neid auf dich wegen Jills grenzenlosem Vertrauen zu dir, aber ich hab es schon immer so empfunden.“
Jonas war seltsam berührt von diesen Worten und konnte nichts erwidern außer: „Tim, in einer dreiviertel Stunde musst du am Flughafen sein. Ihr werdet euch ein halbes Jahr nicht mehr sehen. Du solltest zu ihr gehen!“
„Jonny, versteh es doch. Jillian will mich jetzt nicht sehen. Wenn du es schaffst, sie zu beruhigen, schön und gut. Wenn nicht, dann muss ich halt gehen, ohne mich von ihr zu verabschieden. Ich hab es ja nicht anders verdient.“
Jonas überlegte, was er sagen oder tun sollte, aber sein Gefühl gab Tims Worten Recht. Also stieg er die Treppe hoch und betrat leise Jillians Zimmer. Sie lag auf ihrem Bett, den Kopf in die Kissen gestützt und weinte leise vor sich hin.
Sie bemerkte ihn erst, als er sich zu ihr setzte. „Sie behandeln mich, als hätte ich keinen eigenen Willen oder keine Rechte, Jonas.“
Sie presste die Worte mühsam hervor. Als sie ihr Gesicht zu ihm umwandte, brach ihm das Herz. Ihre Wimpertusche war verschmiert und einzelne Strähnchen ihres dunklen Haares klebten an ihren nassen Wangen, auf die ein zarter Hauch von Rosa getreten war.
„Sie können dich nicht von hier wegreißen, wenn du das nicht willst, Jill. Tim steht auch vollkommen hinter dir.“
Jonas hatte die Worte kaum ausgesprochen, da lachte Jillian schon freudlos auf. „Oh ja, das habe ich gesehen. Die ganze Sache war doch überhaupt erst seine Idee.“
An ihrem Gesichtsausdruck konnte er sehen, dass nun äußerste Vorsicht geboten war. Er überlegte genau, bevor er weitersprach. „Das stimmt, aber er hat es nur vorgeschlagen, weil er geglaubt hat, du wärst dort besser aufgehoben, als hier. Er hat nicht einfach über dich entschieden, Jill! Er wollte dich fragen, ob du willst. Er hat sicher gedacht, dir würde alles viel leichter fallen, wenn du erst einmal aus diesem Haus raus wärest.“
Jillian fuhr auf und funkelte ihn wütend an. „Dieses Haus gibt mir den Halt, den ich brauche. So habe ich wenigstens das Gefühl, doch nicht alles verloren zu haben.“
Jonas strich ihr beruhigend über das Haar und sagte leise: „Das weiß ich doch, aber Tim weiß es nicht. Wie soll er dich denn verstehen, wenn du nicht mit ihm redest?“
„Er hätte mich fragen können! Aber nein -Was macht er? Er geht sofort zu meinen lieben Großeltern, die mir mit dem Jugendamt drohen. Ich bin erwachsen, verdammt noch mal!“
Ihre Faust krallte sich in ihr Kissen. Sie hatte noch niemals so eine Wut verspürt, so eine unendliche Wut. Sie hatte das Bedürfnis zu schreien oder irgendetwas zu zertrümmern, stattdessen saß sie nur ganz still da und starrte Jonas an, ohne ihn wirklich zu sehen.
„Er hat sich nichts Böses dabei gedacht. Er war selbst total außer sich, als deine Großmutter die Sache mit dem Jugendamt erwähnt hat. Er hat sie sofort nach Hause geschickt. Du musst mir jetzt vertrauen, Jillian! Tim ist deutlich anzumerken, dass er jetzt keine Sekunde mehr daran denkt, dich zu den beiden gehen zu lassen.“, redete Jonas weiter beruhigend auf sie ein.
Als sie weiterhin verbissen schwieg, versuchte er es anders. „Das alles ist doch auch für ihn so schwer. Versuch ihn wenigstens zu verstehen. Nicht nur du hast heute deine Eltern verloren. Er muss jetzt auch noch die ganze Verantwortung tragen. Rede mit ihm, Jillian. Ich weiß genau, dass du es sonst schon morgen bereuen wirst. In einer halben Stunde fährt er zum Flughafen und dann werdet ihr euch ein halbes Jahr nicht mehr sehen.“ Diese Worte rüttelten sie wach.
„Du hast Recht.“ Sie seufzte tief und sah ihn dankbar an. „Ohne dich würde ich wahrscheinlich gar nichts auf die Reihe kriegen, Jonny. Ich fühl mich wie die größte Versagerin der Welt.“
Er nahm sie in den Arm. „So ein Unsinn. Deine Eltern sind vor kurzem gestorben und du bist so verantwortungsvoll und tapfer. Das würde nicht jeder schaffen. Du warst heute unglaublich stark, Jill. Das hat jeder gesehen. Und jetzt komm!“ Er stand auf und lächelte sie aufmunternd an, während er ihr seine Hand reichte, um ihr aufzuhelfen.
Genau das hatte er immer schon getan. Eine Reihe von Erinnerungsfetzen surrte durch ihren Kopf. Sie war acht Jahre alt und saß verletzt auf dem gefrorenen Teich, weil sie ausgerutscht war. Vier Jahre später hatte ihr erster Freund mit ihr schlussgemacht und sie hockte weinend unter dem großen Kirchbaum in ihrem Garten. Mit sechzehn war sie das erste mal richtig betrunken gewesen und hatte sich auf den hohen Absatzschuhen einfach nicht mehr halten können, sodass sie mitten in der Nacht auf dem nassen Asphalt gekniet hatte, während die Welt um sie herum sich wie ein Karussell gedreht hatte. In all diesen Bildern war am Ende immer seine ausgestreckte Hand erschienen. Immer präsent, so sicher und verlässlich wie Sonne und Mond war er da gewesen, um ihr aufzuhelfen.
Ihr Herz lächelte, als sie ihre Hand in seine legte. Wenn es nötig gewesen wäre, hätte sie auch ihr Leben in diese Hand gelegt. Sie vertraute ihm blind. So gingen sie gemeinsam die Treppe hinunter.
Im Flur war Tim unschlüssig neben seinem Gepäck stehen geblieben. Jetzt sah er erleichtert zu den beiden auf. Jillian lächelte sogar schon wieder. Er hatte von Anfang an darauf vertraut, dass Jonas seine Schwester beruhigen konnte.
Als sie Tim sah, verrauchte ihre ganze Wut so plötzlich wie sie gekommen war. Jonas hatte Recht, Tim hatte nur das Beste für sie gewollte und jetzt überwog die Trauer, dass er sobald schon wieder in New York sein musste. Die letzten drei Stufen übersprang sie einfach und stürzte sich in die Arme ihres Bruders.
Während Tim sie fest an sich drückte, fand er keine Worte, die es ihr hätten leichter machen können oder die sein Verhalten entschuldigt hätten, doch er spürte, dass sie ihm längst verziehen hatte.
Auf Jonas wurde er erst wieder aufmerksam, als sich plötzlich die Haustür öffnete. Er schlüpfte leise hinaus und ließ die zwei Geschwister allein. Tim schenkte ihm, nicht allein dafür, ein dankbares Lächeln.