Wortlos stiegen wir zusammen die Treppen hoch. Eine seltsame Spannung lag zwischen uns in der Luft. Ich wusste, er würde es nie zulassen, dass ich mich zwischen ihm und meinem Vater stelle aber ich werde es nicht zulassen das Tristan wegen eines dummen Kinderstreiches zu einem gefallenen Engel würde. Auch wenn ich wusste das er nicht ehrlich zu mir war. Etwas verheimlichte er mir.
Straftäter wurden in Skyland auf brutale Art und Weise ihrer Engelswürde beraubt: Ihnen wurden die Flügel bei Vollmond mit kochend heißem Pech überschüttet. So wurden aus den schneeweißen Federflügeln, Pechschwarze Lederflügel. Bei dem Gedanken daran lief mir ein Schauer über den Rücken. Ungewollt schüttelte ich den Kopf. Nein, das würde ich nicht zulassen.
„Was ist los?“ fragte Tristan. In seiner Stimme schwang ein Hauch Besorgnis mit.
„Es ist nicht fair,“ antwortete ich knapp. Er wusste worüber ich sprach.
Tristan seufzte. „Das Leben ist nicht fair, Raven. Schon gar nicht zu uns Auserwählten. Wir müssen Dinge tun, von denen die Nichterwählten nicht mal Träumen. Wir haben eine Last zu tragen, von unschätzbarem Gut. Aber wir können uns unser Leben nicht wählen. Wir bekommen es auferlegt.“
Verwundert lauschte ich seinen Worten. Hatte nicht Taylor gestern beim Training dasselbe zu mir gesagt? Es waren nicht dieselben Worte gewesen, doch der Sinn war es.
„An unserer Bestimmung können wir nichts ändern, Tristan,“ murmelte ich leise.
„Das wird uns gesagt, Raven. Aber stimmt es auch?“ gab er mir zu bedenken während wir die letzte Treppe hinauf schnauften und er die dortige Tür ansteuerte und mich anzublicken.
Eine Weile dachte ich über seine Worte nach. Hatten wir eine Wahl? Konnten wir uns für ein anderes Leben entscheiden? Wenn ja, wie würde dieses Leben aussehen? Wollte ich überhaupt ein anderes Leben?
„Raven?“ hörte ich eine Stimme meinen Namen sagen.
Verwundert sah ich hoch. Zwei Meter vor mir stand Tristan und musterte mich besorgt.
„Ist alles in Ordnung?“ fragte er nach während er mit seinem Rücken die Tür für mich aufhielt. Ich war wohl vollkommen in Gedanken gewesen und dabei stehen geblieben.
„Ich weiß es nicht,“ sprudelte es aus meinem Mund.
„Was weißt du nicht?“ fragte mich Tristan erstaunt.
„Ich weiß nicht ob ich ein anderes Leben möchte,“ flüsterte ich und senkte meinen Blick beschämt. „Wie sieht so ein Leben aus? Ich kann es mir nicht vorstellen, Tristan. Ich kenne kein anderes Leben als das.“
Tristan seufzte wieder.
„Komm endlich. Die Flasche ist schwer,“ brummte er nur ungeduldig und senkte den Blick.
Rasch stieg ich die letzten zwei Stufen hoch und quetschte mich an ihm vorbei. Dabei erhaschte ich einen Blick auf sein Gesicht. Er war enttäuscht. Hatte ich etwas Falsches gesagt?
Quälend lange kam mir der Weg zurück zur Eingangshalle vor. Tristans Enttäuschung war greifbar für mich und ich verstand einfach nicht warum. Was hatte ich gesagt oder getan das er enttäuscht war?
Eingeschüchtert stolperte ich hinter ihm den Flur entlang.
„Beeilt euch. Wir haben nur noch eine knappe Stunde,“ maulte Magnus als er uns entdeckte.
„Wir kommen ja schon,“ knurrte Tristan.
„Sag mal wo seid ihr eigentlich hingelaufen um das Brennmittel zu holen? Nach Skycity?“ scherzte Taylor der mir entgegenlief und mir die schwere Flasche abnahm.
Dankend lächelte ich ihm zu. Taylor zwinkerte mir kurz zu und lief schließlich mit dem Brennmittel zu den aufgehäuften Möbeln.
Ohne die schwere Last begannen meine Arme zu zittern. Meine Muskeln Schmerzen. Ich streckte mich und versuchte die starre loszuwerden.
„Raven jetzt ist nicht die richtige Zeit für Gymnastik. Verschieben deine Turnstunde auf einen anderen Tag,“ hörte ich gleich wieder Magnus Stimme.
Seufzend streckte ich meine Arme ein letztes Mal und eilte schnell zu den anderen die am Fuße des Scheiterhaufens standen und zusahen wie Andrew den letzten Tierkadaver auf dem höchsten Punkt platzierte.
„Perfekt,“ Vernahm ich Tristans Stimme leise als ich nähertrat. Besorgt beobachtete ich wie Taylor die schwere Flasche Andrew reichte und dieser zusammen mit Magnus begann den Scheiterhaufen mit den Kadavern damit zu tränken.
Der Geruch von Benzin und rohem vergammelten Fleisch hing dumpf im Raum. Angestrengt versuchte ich durch den Mund ein und aus zu atmen um die Übelkeit zu bekämpfen.
„Alles in Ordnung mit dir?“ fragte Taylor besorgt.
„Ja, mir ist nur…“
„Ihr ist nur schlecht von dem Gestank,“ unterbrach mich Tristan und trat näher. „Euch beide brauche ich sowieso an einem anderen Ort. Taylor hol dir Magnus Bogen und Pfeile,“ befahl er schnell.
„Aber…,“ wollte Taylor ihm dazwischenreden.
Doch Tristan zeigte nur auf den Stapel Waffen wo der Langbogen aus Ebenholz lag. Mit hängenden Schultern schleppte sich Taylor zu dem Stapel. Ich wusste was er sagen wollte: der Langbogen den Magnus gewählt hatte war Taylors größte Schwäche.
„Tristan, ich… das ist keine gute Idee,“ wandte ich mich vorsichtig an ihn als Taylor außer Hörweite war. Langsam wandte er sich zu mir. „Warum? Weil es nicht deine Idee ist?“
„Was soll das bedeuten?“ fragte ich ihn geschockt. Was hatte ich ihm bloß getan das er so gemein zu mir war?
„Die große Raven, Tochter des großen Michael. Die Perfekte. Die Makellose. Die Auserwählte. Glaubst du es ist angenehm in deinem Schatten zu stehen? Immer mit dir verglichen zu werden? Und dann verliebe ich Trottel mich auch noch in dich. Aber du, … du verschwendest an so etwas keine Gedanken, denkst nicht mal an die Zukunft. Oder wie sieht deine Zukunft aus, große Raven? Hat ein Mann Platz in deinem großartigen Leben?“ fuhr er mich mit zornfunkelnden Augen.
„Tristan, ich… Das stimmt doch alles gar nicht. Von was zum Erzengel redest du?“ stotterte ich.
„Ich spreche von dir und mir, … von einem normalen Leben. Aber alles was du sagen kannst ist, dass wir unser Leben nicht aussuchen können. ‚Wir müssen unserer Bestimmung folgen‘. Du klingst wie dein Vater, weißt du das?“
Ich schüttelte nur den Kopf. Meine Augen füllten sich mit Tränen die mir langsam über die Wangen liefen und dort eine nasse Spur hinterließen. Verärgert wischte ich sie mit dem Handrücken weg und schluckt. Das hatte er gerade nicht gesagt. Nie im Leben war ich wie mein Vater. „Das stimmt nicht.“
„Doch, das stimmt. Auf einer gewissen Art und weiße bist du wie dein Vater.“
„Nein. Das ist nicht wahr. Ich bin weder Arrogant noch herrisch. Tristan, ich will dir helfen. Würde ich das tun, wenn ich wie mein Vater wäre?“ schleuderte ich ihm wütend entgegen und kämpfte weiter gegen die Tränen.
Tristan öffnete seinen Mund um mir etwas zu entgegnen, doch ihm schien kein Argument einzufallen und er schloss zerknirscht seinen Mund wieder.
„Dachte ich es mir. Was ist los? Was habe ich in der letzten halben Stunde getan das du mir so etwas vorwirfst? Zuerst küsst du mich, sagst mir das du mich liebst und dann wirfst du mit anschuldigen um dich die gar nicht stimmen. Von deinen Gefühlsschwankungen wird mir schwindlig.“
Beschämt sah Tristan zu Boden. „Ich dachte ich würde hier sterben und dann hörte ich eure Stimmen. Zuerst dachte ich sie hätten endlich herausgefunden in welches Portal ich eingestiegen wäre und schickten Wächter um mich zu verurteilen. Doch dann erkannte ich eure Stimmen. Mein bester Freund und die Frau die ich liebe standen plötzlich vor mir. Ich war glücklich, denn mir wurde klar ich konnte wieder nach Hause. Zu meiner Familie. Doch dann wurde mir klar, dass etwas meinem Glück entgegensteht: Die Verurteilung. Ich bin ein Straftäter, Raven,“ Murmelte er geknickt.
„Das werde ich nicht zulassen.“ Entgegnete ich ihm bestimmt mit Tränen verschleierten Augen.
„Was willst du tun? Glaubst du dein Vater wird auf dich hören? Du weißt genauso gut wie ich wie er ist. Erzengel Michael ist ein strenger und harter Krieger dem nicht mal seine allseits gelobte Tochter was recht machen kann,“ kopfschüttelnd wandte er sich weg um zu sehen wie weit Andrew und Magnus waren. Sie waren beinahe fertig damit den Scheiterhaufen mit Brennmittel zu tränken.
„Magnus wird es auch nicht zulassen. Und dein Bruder. Jaxson wird zu dir halten, warum hätte er uns sonst hierhergeschickt?“ fiel mir ein als ich zum Scheiterhaufen sah und beobachtete wie Magnus die letzten Tropfen des Benzins großzügig verteilte.
„Ich werde nicht zulassen, dass ihr euer Leben für mich aufs Spiel setzt. Das ist mein letztes Wort, Raven.“
Ich trat näher an Tristan heran und zog ihn an einer Schulter so zu mir so, dass er gezwungen war mich anzusehen. „Hab ich je auf dich gehört?“
Seine Augen funkelten belustigt. „Nein. Dafür gehört dir eigentlich mal ordentlich der Arsch versohlt.“
Ich lachte. „Als würde ich dich lassen.“
Tristan trat näher. „Als würde ich dich um Erlaubnis bitten,“ flüsterte er mir ins Ohr.
„Hör auf mit dem Scheiß. Ich meine es ernst,“ entgegnete ich ihm ungeduldig, da ich sah das Taylor mit dem Langbogen zurückkam und uns stirnrunzelnd betrachtete.
„Genauso wie ich.“
„Was hatte dann der Kuss zu bedeuten?“
„Das habe ich dir doch gesagt.“
„Warum darf ich dir dann nicht helfen?“ fuhr ich ihn leise verärgert an.
„Warum willst du mir überhaupt helfen?“
Ich lachte verärgert auf. „Was für eine seltsame Frage.“
„Beantworte sie einfache.“
Nervös kaute ich auf meiner Unterlippe. Warum wollte ich Tristan helfen? Liebte ich ihn? Mein Blick wanderte zu Taylor der einige Meter von uns entfernt stand und sich den Scheiterhaufen ansah. Der Kuss von letzter Nacht drängte sich in meine Erinnerung. Er war Süß und ganz anders als Tristan. Mehr wie ich. Aber liebte ich ihn? Ich wusste es nicht. Verzweifelt biss ich mir auf die Lippe. Was sollte ich nun tun. Ich wusste was Tristan hören wollte. Schnell sah ich zu Tristan dessen Augen mich abwartend betrachteten. Er wird hierbleiben, wenn du jetzt was Falsches sagst, sagte eine Stimme in meinem Kopf. Nein, das darf nicht passieren! Aber ich konnte ihn nicht anlügen.
„Weil du mir wichtig bist,“ antwortete ich nachdrücklich und hoffte inständig, dass er das Zögern nicht wertete. Ich zwang mich zu einem Lächeln. Tristans Augen wurden traurig.
„Ich hatte gehofft das du das nicht sagst,“ murmelte er und ging zu Taylor.
Verwirrt blieb ich zurück. Ich hatte doch gesagt was er wollte. Ich atmete tief durch und ging ebenfalls zu den Männern die am Scheiterhaufen standen. Tristan deutete nach oben. Im ersten Stock war ein runder Balkon zu sehen von dem man auf die Eingangshalle heruntersehen konnte. Links und rechts führte eine Treppe hoch.
„Es wird folgendermaßen ablaufen: Taylor und Andrew gehen auf dieser Seite des Balkons hoch. Dort oben Platziert ihr euch und werdet mit brennenden Pfeilen den Scheiterhaufen entzünden. Ich, Magnus und Raven nehmen die linke Seite des Balkons und machen das selbe.“
„Wer schießt?“ fragte Magnus stirnrunzelnd als er seinen Bogen in den Händen von Taylor sah.
„Taylor und Raven. Warum fragst du?“ Magnus schnaufte belustigt und Taylors Gesicht lief rot an.
„Dann ist besser er nimmt Ravens Bogen.“
Tristan wandte sich verwirrt an Magnus. „Warum?“
„Mit dem Langbogen bekommt Taylor keinen ordentlichen Schuss hin. Taylor schießen zu lassen ist überhaupt keine gute Idee. Die einzigen guten Bogenschützen hier sind Raven und Ich,“ knurrte er.
„Wer soll dann schießen?“
„Ich gehe mit Andrew,“ beantwortete Magnus schnell und nahm Taylor den Langbogen aus der zitternden Hand.
„Gut. Dann kommt Taylor mit mir und Raven,“ schlussfolgerte Tristan und wir folgten ihm zu den Treppen.
„Aber Tristan? Wer öffnet jetzt die Tür?“ fiel mir ein als ich hinter ihm die Treppe hochstieg.
„Das werde ich dir gleich erklären,“ erwiderte Tristan ungeduldig.
Am oberen Treppenende wandte ich mich um und betrachtete die Schwingtür. Sie hatte kein Schloss. Einzig das dicke Seil hielt die Tür geschlossen. Immer wieder drang ein scharren an mein Ohr und sie wurde gewaltsam nach ihnen gedrückt.
Mit klopfendem Herzen verstand ich was er mir erklären wollte: Ich musste die Tür öffnen. Mit einem gezielten Schuss meines Bogens.