Am nächsten Morgen stand Bahe früh auf, wusch sich und spähte beim Zähneputzen durch die Fenster nach draußen. Auf der Seite zur Straße hin, wartete den Himmeln sei Dank niemand auf ihn. Standardweise überprüfte er auch noch den Innenhof durch das Badezimmerfenster und stellte erleichtert fest, dass er heute mal Glück hatte und keine Schlägertypen auf ihn warteten.
Er frühstückte noch schnell die letzten Essensreste, die er zu Hause hatte, schnappte sich seine Haustürschlüssel, riss die Tür auf und erstarrte entsetzt.
Vor seiner Tür lag eine Frau!
Mit angezogenen Knien und dem Rücken zur Tür lag die Frau auf der Seite und rührte sich nicht. Bahe wagte kaum zu atmen!
Wurden jetzt auch schon Frauen auf ihn angesetzt?!
Angespannt musterte er die Frau genauer und stellte erleichtert fest, dass sie schlief. Zumindest sah er, wie sich der Brustkorb hob und senkte.
Ganz vorsichtig schloss Bahe wieder die Tür und ließ noch behutsamer die Klinke los. Verdammt noch eins, hatte er ein Glück gehabt, dass die Frau vor seiner Tür eingeschlafen war!
Leise ging er durch den Flur zurück ins Badezimmer und stieg dort durch das Fenster nach draußen. Danach lehnte er das Fenster vorsichtig an und fixierte es mit einem kleinen Holzkeil. Er machte sich keine Sorgen darum, dass jemand bei ihm einbrechen könnte. Seitdem er seinen Account verkauft hatte, befand sich nichts mehr von Wert in seiner Wohnung.
Bahe bewegte sich anschließend leise zur Gartenhütte und achtete auch beim Hinaufklettern darauf, möglichst keine lauten Geräusche zu verursachen.
Es lief alles reibungslos ab, bis ihm kurz vorm Schluss der Balken aus den Händen rutschte, den er stets benutzte, um auf die gegenüber liegende Mauer zu kommen.
Mit einem lauten Poltern krachte das Balkenende auf den Beton der Mauer und schreckte die Frau aus ihrem Schlaf.
„Hä, was? Wo?“, rief sie zunächst verwirrt, während sie sich umblickte.
Bahe ließ sich diese Chance jedoch nicht entgehen und sprintete regelrecht zur anderen Seite.
„Hey, bleib stehen! Bist du Bahe Dragon?!“, rief die Frau hinter ihm her.
Drüben angekommen, glaubte er bereits den Haarschopf der Frau über der Mauer zu erkennen, als er schnell den Balken anhob und zu sich herüber zog.
„Was zum…“, erklang es dumpf von der gegenüber liegenden Mauer, während er den Balken sicher verstaute. Danach blickte er noch ein letztes Mal zurück und sah den verärgerten Gesichtsausdruck der Frau, die ihm auf die Gartenhütte gefolgt war.
Ohne länger zu zögern, machte er sich auf seiner Seite an den Abstieg und ignorierte die Worte der Frau, die zu ihm herüber schallten: „Warte doch! Ich will nur mit dir reden!“
Aber sicher doch, er sollte warten? Nur damit die Typen, die sich irgendwo versteckt hielten, ihn erneut zusammen schlagen konnten?
Die Frau hätte sich schon was Besseres einfallen lassen können.
Bahe machte vorsichtshalber noch ein paar Umwege, bis er sich schließlich sicher war, dass ihm niemand folgte. Danach lief er zur nächsten U-Bahnstation und nahm eine Bahn in Richtung Stadtmitte.
Nach vierzig Minuten kam er endlich am Krankenhaus seiner Mutter an und klopfte wenig später an ihre Zimmertür und trat ein.
„Bahe?!“, rief seine Mutter überrascht.
„Hallo Mama…“, sagte Bahe mit gesengtem Blick. Nachdem, was er gestern gehörte hatte, konnte er ihr kaum in die Augen blicken.
Er vernahm ein paar eilige Schritte und bevor er den Blick heben konnte, fand er sich bereits in einer festen Umarmung wieder.
„Bahe, ich habe mir solche Sorgen gemacht!“, schluchzte seine Mutter vor Freude, während sie ihn noch fester an sich drückte.
„Mit mir ist alles in Ordnung, Mama“, meinte Bahe mit einem schlechten Gewissen und drückte seine Mutter zurück.
„Lass dich ansehen“, stieß seine Mutter plötzlich hervor und hielt ihn auf Armeslänge von sich. „Was ist mit dir passiert?!“, fragte sie, als sie seine blauen Flecken und Schrammen bemerkte.
„Es sieht schlimmer aus als es ist…“, winkte Bahe ab.
„Sie haben dir aufgelauert?“
„…“
Seiner Mutter reichte seine stumme Antwort. Sie nickte gefasst und führte ihn an einen Tisch im Krankenzimmer. Bahe setzte sich und sie nahm neben ihm Platz.
„Wir müssen reden“, meinte sie bestimmt und blickte ihn an. „Wo lebst du? Und ich möchte nicht eine ungefähre Richtung wissen, sondern deine genaue Adresse.“
„Wieso ist das wichtig?“
„Bahe, wage es ja nicht, so zu tun, als ob es dir gut ginge! Für wen hältst du mich? Ich bin deine Mutter, wenn ich nicht weiß wie es in dir aussieht, dann weiß es keiner!“
„Mama…“, setzte Bahe an, um sie zu besänftigen, wurde jedoch unterbrochen.
„Bahe, ich sitze hier in diesem Krankenhaus fest und langweile mich Tag ein Tag aus. Was also tue ich? Ich denke an meine Lieben. Deine beiden, kleinen Geschwister, die ohne ihren großen Bruder bei ihren Großeltern leben. Ich hoffe, dass es ihnen gut geht und sie Má und Pá nicht in den Wahnsinn treiben. Ich denke an deinen verstorbenen Vater und wünsche mir er wäre hier. Und dann bist da noch du. Mein Sohn, der plötzlich verschwunden ist, die Schule abgebrochen hat und laut meines Vaters jede Woche Geld für meine Behandlung anschleppt. Ich weiß nicht wo du lebst. Von Woche zu Woche siehst du ab gemergelter aus und deinen Schrammen nach, kann sich nun wirklich jeder Dummkopf denken, weshalb du untergetaucht bist!“, nachdem sie sich in Rage geredet hatte, stockte sie kurz und fuhr fort: „Ich ertrage es nicht länger, dass du mich im Ungewissen lässt. Also, entweder klärst du mich jetzt auf, was du die letzten Monate getrieben hast oder ich schwöre dir, ich suche mir das nächstbeste Fenster und stürze mich hinunter! Ich werde nicht länger eine Mutter sein, die ihrem Kind sowas antut!“
Bahe brauchte einen Moment, um alles zu verdauen und entschied sich dann zu reden. Er hatte gewusst, dass es dazu kommen würde, wenn er das nächste Mal unter die Augen seiner Mutter trat.
„Ich habe hauptsächlich auf Baustellen gearbeitet. Es waren harte Jobs die schlecht bezahlt wurden. Wie du weißt, falle ich mit meiner europäischen Herkunft ziemlich auf und die meisten Einheimischen begegnen mir mit Skepsis, wenn ich nach Arbeit frage. Das ich keinen Schulabschluss vorzeigen kann, lässt mich in ihrer Achtung meistens direkt nach ganz unten sinken. Ich kann von Glück reden, überhaupt irgendwas gefunden zu haben. Von dem Geld habe ich so viel zurück gelegt, wie möglich. Für mich hat es gerade eben zum Leben gereicht. Den Rest habe ich immer Großvater für deine Behandlung gegeben. Ich wohne bei einer alten Dame im Erdgeschoss. Das Haus ist eine Bruchbude, es reicht aber für mich. Das Haus liegt am nordwestlichen Stadtrand, Tengfei Road 284.“
„Bahe, ich möchte, dass du damit aufhörst“, sagte Bahes Mutter ruhig.
Bahe wusste nicht, was er darauf antworten sollte und schwieg lieber.
„Ich werde morgen das Krankenhaus verlassen und hätte dich gerne bei mir. Wir werden dann zusammen für ein paar Wochen bei meinem Vater leben, bis er unser großes Anwesen verkauft hat.“
„Es liegt daran, dass die Ersparnisse von Opa und Oma aufgebraucht sind, oder?“
„Wie… Woher weißt du davon?“, fragte Bahes Mutter überrascht.
„Ich wollte dich gestern besuchen und bin aus Versehen ins Nachbarzimmer geplatzt. Bevor ich die Verbindungstür öffnen konnte, habe ich Opa so ernst reden hören und zunächst gewartet… Später konnte ich dir dann einfach nicht mehr unter die Augen treten“, erklärte sich Bahe kleinlaut.
„Oh, Bahe!“, sagte seine Mutter leise und umarmte ihn.
Bahe erwiderte die Umarmung mit Tränen in den Augen und drückte seine Mutter fest. Eine Weile verblieben sie Beide so und rührten sich nicht.
„Ich bin dir für alles dankbar, was du für mich und unsere Familie getan hast, mein Sohn“, flüsterte Bahes Mutter ihm schließlich ins Ohr. „Aber du hast genug getan. Das Geld, dass du erarbeitet hast, hat uns zeitweise helfen können. Doch jetzt, da es keinen Unterschied mehr ausmacht, solltest du endlich mal an dich selbst denken.“
Sie löste sich aus der Umarmung und sagte leise: „Der Verkauf unseres Anwesens wird uns genug Geld einbringen, um meine Operation davon zu bezahlen und die anschließende Behandlung im Krankenhaus und zu Hause zu gewährleisten. Tut mir Leid, Bahe…“
„Das Haus ist mir doch egal, Mama! Du hättest es schon längst verkaufen sollen!“
Stille Tränen liefen seiner Mutter über die Wangen, als sie die Lippen aufeinander presste und sagte: „Danke, Bahe.“
Danach drückte sie Bahe erneut in einer kurzen Umarmung und ließ sich anschließend wieder auf ihrem Stuhl nieder.
„Mama“, sagte Bahe vorsichtig. „Ich habe genug Geld, dass du die nächsten Wochen noch im Krankenhaus bleiben kannst.“
Seine Mutter blickte ihn verwirrt an: „Wie meinst du das?“
„Weißt du noch wie ich mit Papa immer Dreamworld gespielt habe? Wir hatten uns zusammen eine Account erstellt und einige wichtige Sachen gemeinsam erspielt.“
„Ja, natürlich weiß ich das noch.“
„Im Spiel gibt es ein Aktionshaus, in dem man auch die gespielten Avatare, also im Endeffekt die Accounts, versteigern kann. Nun, ich habe den alten Account rein gestellt und ein Bisschen Geld damit gemacht.“
„Bahe… das hättest du doch nicht tun müssen!“, meinte seine Mutter wohlwollend. „Ich fürchte nur, dass ein Bisschen Geld nicht reichen wird. Wie viel hast du denn?“
„Nicht viel… nur knapp 400 000 Yuan“, grinste Bahe.
„Was…? Mach über sowas bitte keine Scherze, Bahe.“
„Nein, ich meine es ernst“, sagte Bahe stolz und kam aus dem Grinsen nicht mehr heraus. „Der Avatar besaß eine seltene Rüstung und ist tatsächlich für 400 000 Yuan versteigert worden.“
„Das… ich weiß nicht was ich sagen soll…“, sagte seine Mutter verblüfft.
„Zumindest kannst du jetzt die letzten zwei Wochen in Behandlung bleiben, bis der Verkauf abgeschlossen ist“, antwortete Bahe schlicht.
Seine Mutter schwieg eine ganze Weile und sah ihm dann in die Augen, als sie zu sprach: „Bahe, wenn ich dein Geld nochmal annehmen soll, müssen wir vorher ein paar Dinge klären.“ „Ok.“
„Ich will nicht, dass du alles ausschließlich für mich ausgibst. Ich werde das Geld gerne dazu verwenden, um meine nächsten zwei Wochen hier im Krankenhaus zu bezahlen. Das restliche Geld wirst du aber behalten. Ich fühle mich nicht wohl damit, das Geld, das der Erinnerung an deinen Vater entstammt komplett für meine Behandlung zu verwenden.“
„Aber…“, wollte Bahe widersprechen.
„Nein, kein aber! Sie dich doch mal an. Du bist nur noch Haut und Knochen! Verwende das Geld, um dich vernünftig zu ernähren!“, sagte seine Mutter aufgebracht. „Wobei wir auch schon beim zweiten Punkt wären. Ich möchte, dass du zu deinen Großeltern ziehst. Nutze das Geld, um vernünftiges Essen auf den Tisch zu bringen. Du hast es selbst gehört, Pá hat seine Ersparnisse aufgebraucht und wird jede Unterstützung gut gebrauchen können. Haben wir uns verstanden?“
Bahe nickte beim strengen Blick seiner Mutter nur.
„Und drittens, erwarte ich von dir, dass du wieder zur Schule gehst.“
„Dann kann ich aber nicht mehr arbeiten Mama.“
„Das ist ja der Sinn der Sache“, lächelte seine Mutter schwach. „Du wirst die zweite Hälfte der zwölften Klasse wiederholen müssen. Aber ich möchte, dass du später die Möglichkeit hast auf eine Universität zu gehen. Das hätte dein Vater gewollt.“
„Aber Mama, eine Universität ist viel zu teuer, dass werden wir uns niemals leisten können.“
„Lass das mal meine Sorge sein“, meinte sie. „Sind wir uns einig?“
„Wie soll ich denn dann Oma und Opa unterstützen?“, fragte Bahe unschlüssig.
„Dein Geld wird eine Weile reichen und dein Opa wird vorübergehend wieder arbeiten, bis ich mich erholt habe.“
Bahe schaute seine lächelnde Mutter an und dachte nach. Natürlich würde er nur zu gerne wieder nach Hause zurück kehren, in diesem Fall zu seinen Großeltern. Er machte sich nur Sorgen, wie sie zurecht kommen würden, wenn das Geld eines Tages zur Neige ging. 250 000 Yuan waren für sechs Personen nicht unbedingt ein Vermögen, wenn davon Essen, Schulgeld und eventuell sogar später seine Universität-Gebühren bezahlt werden mussten.
Seinen Job auf der Baustelle hatte er eh verloren. Und Nebenjobs, die man als Schüler am Nachmittag oder Abend ausüben konnte, brachten nicht allzu viel ein. Stattdessen kehrten seine Gedanken immer wieder zu Raoie und der ungewöhnlichen Berufsklasse zurück.
Zwar brach ihm beim bloßen Gedanken an das Spiel bereits der Schweiß aus, allerdings wusste er auch, dass er damals zusammen mit seinem Vater durchaus Talent für Dreamworld bewiesen hatte. Wieso sollte es ihm also nicht noch einmal gelingen, mit Raoie Geld zu verdienen? Er müsste sich dieses Mal allerdings richtig vorbereiten und nicht einfach stur im Spiel umher laufen…
Zuerst bräuchte er allerdings ein Dimensional Leap-System, was gar nicht so billig war. Wenn man es jedoch als Investition betrachtete, sollte es sich in näherer Zeit rentiert haben. Die Frage war nur, wann?
Hinzu kamen auch noch die Strom- und Internetkosten. Da das System die gesamte Nacht laufen sollte, würden die Mehrkosten auf Dauer gar nicht so unerheblich sein…
Trotzdem, dachte Bahe, musste er es einfach versuchen.
„Wäre es ok, wenn ich von dem restlichen Geld ein Dimensional Leap-System kaufe?“
„Was für ein System?“, stutze seine Mutter.
„Nach Dreamworld ist nun ein neues Spiel auf dem Markt gekommen, das unglaubliche Neuerungen mit sich bringt. Es gewinnt immer mehr an Beliebtheit und um es zu spielen, braucht man ein Dimensional Leap-System“, erklärte Bahe.
„Wenn ich dich richtig verstehe, willst du das Spiel spielen, um den Gewinn mit deinem Account zu wiederholen?“, fragte seine Mutter mit gehobenen Augenbrauen.
„Woher…“
„Wofür denn sonst“, verdrehte seine Mutter die Augen und musterte ihn dann streng. „Meinetwegen kauf dir das System. Egal wie viel es kostet. Selbst, wenn du kein Geld mit diesem Computerspiel verdienst, ist es das Mindeste was ich dir erlauben sollte.“
„Danke“, grinste Bahe.
„Versprich mir nur eins, pass in der Schule gut auf und vernachlässige nicht deine Noten, um dieses Spiel zu spielen, ok?“
„Oh, da kannst du beruhigt sein, man spielt das Computerspiel im Schlaf.“
„Wie denn das?“, fragte seine Mutter verwirrt.
„Also…“, holte Bahe aus und begann seiner Mutter das Computerspiel Raoie und das dahinter steckende Spielsystem näher zu bringen…
Jeder Kommentar motivert mich sehr! Denkt drüber nach mir ein paar Worte da zu lassen, wenn euch das Kapitel gefallen hat. :)
RiBBoN