Ein halbe Stunde später, trat Bahe aus dem Krankenhaus und genoss für einen Moment das spärliche Sonnenlicht, das sich durch die relativ dichte Wolkendecke gekämpft hatte.
Es gab einige Dinge zu tun, dachte Bahe mit geschlossenen Augen und überlegte, wie er am besten vorgehen sollte. Das Wichtigste war, ein Dimensional Leap-System zu bestellen und es zum Haus seiner Großeltern liefern zu lassen. Er brauchte keine Luxusvariante, das System würde jedoch trotzdem mindestens 15 000 Yuan kosten. Dann kamen noch die Lieferkosten hinzu, wahrscheinlich nochmal 400-500 Yuan. Damit musste er leben, es gab schließlich nichts umsonst.
Sobald er das erledigt hatte, würde er sich intensiver mit dem Spiel Raoie auseinandersetzen müssen. Es durfte ihm nicht nochmal passieren, dass er auf gut Glück durch die Gegend rannte und ahnungslos einer gefährlichen Situation nach der nächsten begegnete.
Wenn er das geschafft hatte, konnte er sich in Ruhe etwas zu essen besorgen und ein letztes Mal seine herunter gekommene Wohnung aufsuchen, ehe er sich dann auf den Weg zu seinen Großeltern machte.
Für die ersten beiden Dinge brauchte er allerdings eine Internetverbindung. Bahe öffnete die Augen und starrte zum Internetcafe, schräg gegenüber vom Krankenhaus. Er konnte genauso gut dort hingehen, dachte er und setzte sich in Bewegung.
Als er gerade im Begriff war die Straße zu überqueren, klingelte plötzlich sein Smartphone und Bahe blieb kurz stehen, um die Nummer zu checken. Die Telefonnummer war ihm unbekannt. Achselzuckend würgte er das Klingeln ab. Sofern er die Nummer nicht kannte, gab es für ihn keinen Grund dran zu gehen. Schlimmsten Falls würde irgendein Handlanger von Ping Lun am anderen Ende dran sein, besten Falls wollte man ihn mit Werbung zu texten. Er konnte auf Beides verzichten.
Bahe wollte gerade weitergehen, als die Anrufmeldung verschwand und den Blick auf die Meldung von hundertdrei verpassten Anrufen freigab!
Verblüfft hielt er inne und schaute sich die Nummern an. Es waren mindestens zwanzig verschiedene, Bahe erkannte aber keine. Die Anrufe verteilten sich von gestern Mittag bis zum Letzten, den er gerade weg gedrückt hatte.
Während er drüber nachdachte, konnte er sich vage erinnern, dass sein Akku gestern zur Neige gegangen war, als er sich im Dimensional Leap-System befand. Er hatte es erst heute Morgen, auf der Hinfahrt zum Krankenhaus, wieder eingeschaltet und sofort den Flugmodus eingestellt. Auf dem Weg hinaus hatte Bahe den Modus gewechselt, den Ton wieder eingeschaltet und prompt den nächsten Anruf erhalten.
Wo hatten all diese Leute seine Telefonnummer her? Und was wollten sie überhaupt von ihm?
Kopfschüttelnd steckte er sein Smartphone wieder ein und überquerte die Straße zum Internetcafe. Drinnen angekommen, entdeckte er hinter der Ladentheke diesmal einen Mann mittleren Alters.
Schade, dachte Bahe, wäre ja auch zu schön gewesen, nochmal ein Schnäppchen zu machen.
„Guten Morgen, was kann ich für dich tun?“, fragte der Mann, als Bahe bei ihm ankam.
„Ich brauche einen einfachen Computer mit Internetzugang.“
„Mit Druckfunktion, Speichermedium oder ohne alles?“
Bahe überlegte kurz und entschied sich dann die Druckfunktion in Anspruch zu nehmen. Es war zwar altmodisch und wurde in den letzten Jahren zunehmend teurer auf Papier zu drucken, andererseits brachte ihm ein digitales Speichermedium nichts, da er keinen eigenen Computer besaß und er hatte auch keine Lust alle Notizen in sein Smartphone eingeben zu müssen.
„Mit Druckfunktion bitte.“
„Das macht dann 50 Yuan pro Stunde und jeweils 10 Yuan pro Blatt, das du in Schwarz-Weiß druckst. Wenn du farbig drucken willst, kostet dich das 40 Yuan pro Blatt. Das Geld für den Internetzugang bekomme ich sofort. Deine Drucke bezahlst du am Ende gesondert.“
„Ok, dann nehme ich erst mal eine Stunde“, sagte Bahe und überreichte der Bedienung das Geld.
Der Mann nickte und gab ihm einen Zahlencode mit dem er sich an einem Computer seiner Wahl einloggen konnte.
„Die Computer mit Druckfunktion befinden sich allesamt in der ersten Etage, von der Treppe aus gesehen im hinteren Bereich“, erklärte der Mann hinter der Theke und entließ ihn damit.
Bahe ging nach oben und lief eine Weile durch die vielen Gassen von Computer- und Spielstationen, bis er am Ende endlich auf die gewöhnlichen Computer mit Internetzugang stieß. Der Besitzer wusste eindeutig, womit er werben musste und hatte die Prestige trächtigen Geräte allesamt vorne aufgebaut.
Bahe suchte sich schnell einen Computer in einer ruhigen Ecke aus, gab den Code ein und machte sich daran sein Dimensional Leap-System zu bestellen. Er verglich noch kurz ein paar unterschiedliche Preiskategorien, stellte aber fest, dass sich die Systeme nur in unnötigen Extras unterschieden. Da TNL der alleinige Hersteller war, gab es auch kaum eine Möglichkeit ein Schnäppchen zu machen. Letztlich kaufte er ein System im Angebot für 14 200 Yuan. 800 Yuan gespart, waren immer noch besser als nichts, lächelte Bahe zufrieden in sich hinein.
Anschließend begann er Informationen über Raoie zu sammeln und raufte sich schon kurze Zeit später die Haare. Fast in jedem Beitrag oder Guide[i] für Anfänger wurde ausdrücklich davon abgeraten von Waldenstadt weiter Richtung Norden zu wandern.
Ein Kilometer, um die Startstädte herum, befand sich jeweils eine Art „Safe Zone“, in der es nur harmlose Level 0-Kreaturen gab, die zudem von sanftmütiger Natur waren, wenn man sich ihnen gegenüber nicht feindselig verhielt. Außerhalb des sicheren Radius bekam man es aber schon mit Monstern und Kreaturen höherer Level zu tun, ganz zu schweigen davon, dass sie bei weitem nicht mehr so friedliebend waren.
Waldenstadt war die nordwestlichste Startstadt und hatte das Problem, dass die Gebiete im Norden nahezu unzugänglich waren. Bereits zwei Kilometer von der Stadt entfernt, bestand die Gefahr tödlichen Level 20-Monstern zu begegnen. Selbst wenn man es schaffte sich an all den Monstern vorbei zu schleichen, wurde jedem weiteren Weg durch die Drachenschlucht ein Ende gesetzt.
Drachenschlucht…? Bahe seufzte nur kopfschüttelnd. Er hatte so ziemlich alles falsch gemacht, als er sich nach Norden gewandt hatte, um die ersten Kreaturen zum Leveln[ii] zu suchen.
Aber es wurde noch besser.
Überall wurde Anfängern empfohlen die Tutorials durchzuführen. Einzig Spieler die sofort in eine Gilde aufgenommen wurden, konnten sich erlauben, die Tutorial-Missionen ausfallen zu lassen.
Die Tutorial-Missionen offenbarten nicht nur Informationen, sondern vermittelten auch lebenswichtige Fähigkeiten, die auf externen Wegen nur wesentlich kostenintensiver zu erlernen waren. Zusätzlich bestand die Möglichkeit, Waffen zu einem absoluten Tiefpreis zu erwerben. Es waren natürlich nur gewöhnliche Waffen und zudem recht einfach gearbeitete. Dennoch stellte der Preis von gewöhnlichen Waffen für die meisten Spielanfänger ein Vermögen dar. Im gesamten Spiel waren bisher erst zwei, in Gold eingestufte, Waffen aufgetaucht. Wo er auch schon die nächste nützliche Information fand.
Jegliche Ausrüstungsgegenstände und Artefakte wurden in Raoie anhand ihres Seltenheitsgrades in elf verschiedene Kategorien eingeordnet. Es begann mit Gewöhnlich, der untersten Kategorie, in der man von Alltagsgegenständen bis hin zu speziellen Waffen alles finden konnte. Die weiteren Kategorien enthielten dann zunehmend seltenere Gegenstände und folgten einer strikten Reihenfolge: Bronze, Silber, Gold, Weißgold, Smaragd, Rubin, Saphir, Diamant, Mystisch und Legendär.
Natürlich träumte jeder Spielanfänger davon, irgendwann einmal eine legendäre Waffe in den Händen zu halten, doch Bahe konnte nur den Kopf schütteln, als er der enormen Preise gewahr wurde, die bereits gewöhnliche Waffen auf den Märkten der Startstädte erzielten.
TNL hatte sich sogar auf ihrer offiziellen Homepage dazu geäußert. Der Konzern hatte das Preissystem mit Absicht in der Art angelegt, um den Spielern ein besseres Gefühl dafür zu vermitteln, wie es in den mittelalterlichen Jahrhunderten zugegangen war. Bauern und einfache Leute, hatten es extrem schwer sich aus der Armut zu erarbeiten. Zudem hatte TNL den Wunsch, dass die Spielanfänger die Welt Raoie wirklich erleben sollten und nicht nur stupide dem Ablauf eines VRMMORPG[iii] folgten.
Bahe fand besonders interessant, dass sich eine unfassbar große Anzahl von Gamern über die Tatsache aufgeregt hatte, dass die Stats der Avatare auf den realen Körpern der Spieler basierten. Er selbst hatte ja auch darunter gelitten.
Es war sogar so weit gegangen, dass mehrere tausend Spieler gemeinsam streikten und das Spiel nicht anrührten. Sogar Demonstrationen sollte es vor den Bürogebäuden TNLs gegeben haben.
Doch sämtliche Proteste hatten nichts gebracht. TNL hatte schlicht weg das Statement veröffentlicht, dass das Avatarsystem fair sei, da jeder Spieler seine Statistiken durch regelmäßiges Sporttreiben und angemessene Ernährung verbessern konnte oder auch wieder absinken konnte, sofern ein regelmäßiges Training ausblieb.
Gegen das Argument, dass TNL die Gesundheit der Raoie-Spieler am Herzen lag, kam niemand an. Zumal die Spielwelt mit so unglaublich vielen Reizen lockte, dass mit der Zeit sogar die kritischsten Stimmen verstummten.
Er wollte weiterlesen, als sein Telefon plötzlich laut zu klingeln begann und ihn aus seiner Konzentration schreckte. Es war wieder nur eine unbekannte Nummer. Bahe drückte sie entschlossen weg und schaltete das Telefon anschließend auf lautlos. Er hatte keine Lust sich intensiver damit auseinander zu setzen, woher die ganzen Anrufe kamen.
Bahe arbeitete sich weiter durch unzählige Foren und filterte nützliches Wissen heraus. Als er schließlich auf Informationen zu den Berufen im Spiel stieß, las er mit größter Konzentration weiter.
Dem Autoren des Beitrags zufolge, gab es zunächst einmal die Standardberufe, welche allesamt in den Startstädten zu erlernen waren. Von einer Spezialisierung sprach man, sobald man sich zum Beispiel als Nahkämpfer dafür entschied, die Richtung eines Ritters einzuschlagen. Dies waren die gewöhnlichen Berufsklassen, die jedem Spieler grundsätzlich zur Verfügung standen.
Dann gab es aber auch noch versteckte Berufsklassen, die von einigen Spielern in Raoie wohl bereits entdeckt wurden. Hierunter fielen beispielsweise normale Berufe die allerdings von Helden oder besonderen Persönlichkeiten weitergegeben wurden. Die Meister lehrten die Spieler zusätzlich zum Beruf noch spezielle Fähigkeiten, die ihnen gewisse Vorteile einbringen konnten. Der Autor stellte, mit der Erlaubnis eines Freundes, das einzige Beispiel vor, das er kannte. So war sein Bekannter wohl einem alten Holzfäller tief in den Wäldern begegnet und dieser hatte ihm den Beruf eines Holzfällers gelehrt. Seitdem war der Spieler in der Lage, im Axtkampf weit höheren Schaden zu erzielen, als übliche Nahkämpfer, die sich der Axt verschrieben hatten.
Damit endete es aber noch nicht. TNL selbst, hatte wohl in verschiedenen Statements bereits andeuten lassen, dass dies noch nicht das Ende war. Da ansonsten nichts weiter über dieses Thema bekannt geworden war, wurde ganz allgemein noch von geheimen Berufsklassen gesprochen. Manche Spieler vermuteten dahinter besondere Berufe, die nur durch ungewöhnliche Questen oder Ähnlichem erspielt werden konnten. Alles Weitere war jedoch reine Spekulation.
Seinen Artikel schloss der Autor am Ende mit der Vermutung, dass einige Berufe wohl erst nach sehr viel längerer Spielzeit erlangt werden konnten. Er stützte seine Überlegungen darauf, dass verschiedene NPCs[iv] ihm in Gasthäusern von alten Legenden über unglaublich mächtige Krieger erzählt hatten, die eigentümlichen Berufungen nachgegangen waren.
Bahe kopierte sich einige Informationen in seine Sammlung für den Druck und stöberte noch einige Zeit weiter. Zwischendurch verlängerte er seine Zeit noch um eine Stunde und druckte am Ende seine gesammelten Informationen aus.
Nachdem er dann bezahlt hatte, wandte er sich zum Gehen und begegnete kurz vor der Tür noch dem jungen Angestellten von gestern. Mit einem knappen Nicken grüßte er ihn, lief an ihm vorbei und machte sich auf den Weg zu seiner Wohnung.
Ying traute seinen Augen nicht, als der junge Ausländer vom Vortag an ihm vorbei ging und ihn sogar noch kurz grüßte. Völlig verblüfft drehte er sich zu ihm um und lief ein paar Schritte rückwärts.
„Was ist denn mit dir los?“, hörte Ying seinen Boss.
Ying kam wieder zu sich und versuchte sich stotternd zu erklären: „Das… das… ist der Junge von gestern…“
„Äh… was?!“, rief sein Boss aufgebracht und Ying wäre am liebsten im Boden versunken. Wie konnte er bloß so dämlich sein und seinen Boss aufklären?
„Du meinst der junge Ausländer, dem du das defekte System vermietet hast?!“
„Ähm… ja?“, meinte Ying kleinlaut.
„Was stehst du denn noch hier du Vollidiot! Renn ihm gefälligst hinterher und entschuldige dich! Und gib ihm diesen Gutschein, für eine freie Benutzung der Dimensional Leap-Systeme“, scheuchte sein Boss ihn hinaus.
„Fuck!“, fluchte Ying leise als er den Laden verließ und nach dem Ausländer Ausschau hielt.
„Das habe ich gehört!“
Ying verdrehte die Augen.
„Das habe ich gesehen!“
„…“
Ying war sprachlos vor Frustration und bemühte sich von seinem Boss weg zu kommen. Was hatte er sich alles anhören dürfen, nachdem er den jungen Ausländer gestern nicht mehr gefunden hatte…
Nachdem er den Jungen nirgendwo in der unmittelbaren Umgebung entdeckte, rannte er die nahegelegene U-Bahnstation hinab und suchte die verschiedenen Bahnsteige ab. Er wollte schon aufgeben, als er den Ausländer auf dem gegenüber liegenden Bahnsteig ausmachte. Ying sprintete los. Er war fast an Ende seines Bahnsteigs angekommen, als er einen Zug vor dem jungen Ausländer einfahren sah.
„Scheiße! Scheiße! Scheiße!“, fluchte er vor sich hin, während er die Rolltreppen hinauf sprintete.
Es kam wie es kommen musste. Auf der anderen Seite unten angekommen, fuhr der Zug bereits ab. Vom Jungen keine Spur.
Wie sollte er das seinem Chef diesmal erklären?
„Fuck!“
Etwa vierzig Minuten später kam Bahe an seiner Wohnung an und machte sich an sein alltägliches Ritual den Balken über die Mauern zu legen, um so in den Hinterhof zu gelangen. Drüben angekommen, inspizierte er den Hinterhof und atmete erst dann erleichtert auf, als er niemanden finden konnte.
Nachdem er den Balken verstaut hatte, ließ er sich hinab und ging zu seinem Badezimmerfenster. Der Keil saß immer noch genauso, wie er ihn am Morgen zurückgelassen hatte.
Behutsam löste er den Holzkeil, kletterte hinein und schloss das Fenster hinter ihm. Anschließend ging er durch den Flur zur Küche, um seine wenigen Habseligkeiten einzupacken und legte den kleinen Blumenstrauß, den er für seine nette, alte Vermieterin gekauft hatte, auf die Arbeitsplatte.
Bahe wollte gerade anfangen die Schränke zu durchwühlen, als ihm etwas Hartes in den Rücken gedrückt wurde und eine Stimme raunte: „Keine Bewegung!“
Jeder Kommentar motivert mich sehr! Denkt drüber nach mir ein paar Worte da zu lassen, wenn euch das Kapitel gefallen hat. :)
RiBBoN
[i] Guide = (hier: Englisch für Leitfaden) Wird im Zusammenhang mit Computerspielen oft an Stelle des deutschen Begriffs verwendet.
[ii] Leveln wird hier im gleichen Zusammenhang, wie der oftmals üblichere Begriff: Farmen verwendet.
Farmen wird, vorzugsweise in Onlinerollenspielen, die andauernde, routinierte und monotone Tätigkeit des Sammeln und Suchen bestimmter Gegenstände, Geld oder Punkten genannt.
Der Begriff rührt aus dem landwirtschaftlichen Bereich, in dem der Farmer „sammelt und sucht“ (seinen Anbau oder sein Vieh). Der Begriff tauchte in seiner jetzigen Bedeutung als erstes in Newsgroups zu Rogue-likes auf, wo er hauptsächlich das dauerhafte Töten von sich vermehrenden Monstern bezeichnete.
[iii] VRMMORPG à Virtual Reality Massively Multiplayer Online Role-Playing Game
[iv] NPC = non-player charakter à Der Begriff fasst prinzipiell alle in einer Geschichte vorkommenden Figuren zusammen, die nicht direkt von einem Spieler, sondern vom Computer, geführt werden. Im Bereich der Computerspiele werden vor allem diejenigen Figuren als NPCs bezeichnet, die sich dem Spieler gegenüber freundlich oder neutral verhalten, in Unterscheidung zu den vom Computer gesteuerten Gegnern oder Monstern.