Es war tatsächlich schon sehr spät und selbst Kaden konnte nicht direkt einschätzen, wie viel Kraft Sezunas Gabe sie kostete.
Er merkte es nur bei sich selbst. Wenn er gezwungen war zu viele Gefühle zu erhaschen und zu viele Gefühlsschwankungen mitbekam, wurde er sehr schnell hungrig und müde.
Immerhin war es auch eine Art körperliche Anstrengung. Vor allem bei Gaben, die man nicht aktiv aus und an schalten konnte.
„Hexen?“, fragte Orion und wirkte mehr nachdenklich, als geschockt.
Es war kein Geheimnis, dass Hexer und Hexen existierten, nur wurden diese in der magischen Welt eher ungern gesehen, da sie zur Hälfte menschlich waren. Vor einigen tausend Jahren wurden sie soweit rausgeekelt, dass sich der Großteil von ihnen auf die Erde verzog. Von daher war es gar nicht so unwahrscheinlich, dass es hier diese Rasse vermehrt gab... doch Geister?
Das ergab in Orions Augen wenig Sinn. Schließlich hatte auch er nie an die Existenz von Geistern geglaubt, doch nach dem was Sezuna und Kaden ihm erzählt hatten, schienen sie sich mehr als sicher zu sein.
„Ich denke das reicht für heute“, beendete Kaden die Recherche mit dem Blick auf Sezuna gerichtet. „Wir leihen das Buch am besten aus. Sicher ist sicher“, fügte er hinzu und begann bereits die restlichen Bücher wieder zurück zu räumen.
„Ich möchte das hier auch mitnehmen“, erklärte sie und stibitzte sich eines der Bücher, bevor Kaden es mit wegräumen konnte.
Es befasste sich mit der menschlichen Geschichte und handelte von Hexenverbrennungen.
Ein Thema, was bei Sezuna für aufgestellte Nackenhaare sorgte.
Dennoch konnte es vielleicht Anhaltspunkte bieten.
„Und morgen möchte ich mir die Abteilungen mit den archivierten Zeitungsartikeln ansehen“, fügte sie hinzu, was Lika dazu veranlasste sich zu melden.
„Ich habe alle wichtigen Seiten, die sich mit dem Hotel, oder der Umgebung befassen, bereits gespeichert. Wir können sie uns dann zuhause ansehen“, erklärte sie und zog gerade einen Stick vom Rechner ab.
Das sorgte bei den anderen Dreien für reichlich Verwirrung, aber niemand sagte etwas.
„Du hast erstmal genug gelesen. Es reicht“, ermahnte Kaden die Vampirin, die trotz ihres Zustands zu weit vorgriff.
Allerdings hielt er sich zurück Sezuna von ihrem Stuhl aufzuhelfen, sondern ging einfach an ihr vorbei, mit den Büchern in der Hand zur Rezeption.
Auf wackeligen Beinen versuchte die dunkelhäutige Vampirin Schritt zu fassen, wobei sie vollkommen ausgelaugt über ihre eigenen Füße stolperte. Mit einer fließenden Handbewegung fing Orion sie auf und stellte sie zurück auf ihre Füße.
„Alles in Ordnung?“, fragte der Werwolf verwirrt, worauf er einen irritieren Blick von Lika erntete.
Sezuna griff nach ihrem Kopf und schenkte Orion ein zittriges Lächeln.
„Meine Fähigkeiten brauchen viel Energie, aber ich bekomme nur selten mit, wann ich sie überstrapaziere“, erklärte sie leise und versuchte ruhig zu atmen und die restlichen Kraftreserven anzuzapfen, um wenigsten bis zu ihrer Wohnung durchzuhalten.
„Aktuell verarbeitet mein Kopf gerade alle Details, die ich in den Büchern gelesen habe und setzt sie zusammen“, erklärte sie weiter, weil sie wusste, dass die meisten überhaupt keine Ahnung davon hatten, was ein magisches Archiv eigentlich war.
„Wenn du mich nach einem Wort fragst, kann ich dir sagen in welchen Büchern es auf welcher Seite wie oft vorkam. Solche unwichtigen Dinge von den wichtigen Dingen zu trennen dauert etwas und braucht seine Zeit.“
Orion hob anerkennend eine Augenbraue.
So genau hatte er das gar nicht gewusst. Es klang, wie eine hilfreiche Gabe, wenn es um das aufspüren und entschlüsseln von Informationen ging.
Er fragte sich jedoch, ob die Vampirin nicht noch zu jung war, um mit einer solchen Gabe umgehen zu können. Es schien, als würde es ihr Schmerzen bereiten, zu viel damit zu arbeiten.
„Dann kann ich mich Kaden nur anschließen. Genug für heute. Wir brauchen alle etwas Schlaf. Morgen müssen wir uns auch noch über den Rest unterhalten“, erklärte der Werwolf und blickte sich um.
Sezuna lächelte vorsichtig. Er wusste gar nicht, wie Recht er hatte.
Sie würde diese Nacht ins Bett fallen und wahrscheinlich erst einmal nicht mehr ansprechbar sein!
Auch wenn Kaden noch Mental bei Sezuna war, so war er sich doch mehr als bewusst, dass er sich in der Bar befand. Eigentlich wollte er nur noch ins Bett und schlafen, doch sowohl der Werwolf zu seiner rechten, als auch sein Gewissen wussten, dass sie keine Zeit verlieren sollten.
Als Havok plötzlich wieder hinter der Bar auftauchte und Kaden ein kühles Getränk vor die Nase stellte, musterte sie die beiden Männer eindringlich.
„Wo ist meine Mitbewohnerin hin?“, fragte sie nach einer Weile und nahm in der Zwischenzeit eine weitere Bestellung auf, von Leuten die hinter den jungen Männern standen.
„Sie... ruht sich aus“, entgegnete Orion etwas zögernd. Er war es nicht gerade gewohnt in verdeckter Ermittlung zu arbeiten und genau das war es wohl, was diesen Auftrag so schwer machte.
Kaden schnaubte und klang dabei ein wenig verächtlich, allerdings nur, um seine Sorge zu überspielen.
„Wahrscheinlich ist sie ins Bett gefallen, ohne sich auszuziehen. Sie war noch nie jemand, der lange aufbleiben konnte. Sie ist sogar schon einmal bei einem Wetttrinken eingeschlafen“, erklärte der blonde Mann und lächelte dann, als er sich an den Abend erinnerte.
Sezuna war nicht begeistert von der Idee gewesen, hatte aber reichlich mitgetrunken und war wahrscheinlich trotzdem am nüchternsten. Wenn die Müdigkeit sie nicht übermannt hätte, hätte sie wahrscheinlich gewonnen.
Wieder eine Erinnerung die ihn daran erinnerte, dass es wohl nie wieder solche Momente geben würde. Leise seufzend drehte er sich auf seinem Hocker um, um die Menge zu begutachten.
Orion schien wenig Lust zu haben sich hier aufzuhalten, geschweige denn mit einem Vampir.
Doch da Lika scheinbar nicht der Typ war für solche Orte, hatte Kaden angeboten sich alleine ein wenig über die Unfallopfer umzuhören.
Er verstand nicht wieso Orion darauf bestanden hatte mitzukommen, schließlich schien er nicht gerade viel mit sozialen Kontakten anfangen zu können.
Vorsichtig schielte er zu dem dunkelhaarigen zu seiner linken und hob vielsagend eine Augenbraue.
Dieser saß nur da und drehte einen der Untersetzer in seiner Hand herum. Seufzend drehte sich Kaden wieder zur Bar und nahm einen tiefen Schluck aus seinem Glas.
„Havok, hast du von diesem Hotel gehört wo angeblich Leute verschwinden sollen?“, fragte Kaden die Frau mit dem bernsteinfarbenen Blick. Irgendwo mussten sie ja anfangen und da Havok sich in dieser Gegend auszukennen schien, würde sie sicher das eine oder andere wissen.
Havoks Lippen verzogen sich zu einem Lächeln. „Interessierst du dich für Geistergeschichten?“, wollte sie ein wenig belustigt wissen, während sie einen Cocktail für einen Gast zu bereitete.
„Ja, ich kenne dieses Hotel. Dort soll es angeblich immer zu einer bestimmten Zeit spuken. Wenn du mich fragst sind das nur Teenies, die die Anwohner ärgern.“
Orion runzelte verwundert die Stirn. Wieso tat Kaden so als hätte er es nicht selbst mit eigenen Augen gesehen.
Der Vampir, der seine Gefühle spüren konnte rammte ihm seinen rechten Ellenbogen in die Rippen, um ihm zu signalisieren, dass er ihm nur zustimmen sollte.
Seufzend richtete sich der Werwolf auf und räusperte sich.
„Ja, denke ich auch“, erwähnte Orion so beiläufig wie möglich. Er war eher der Typ der offen auf Konfrontationskurs ging. Doch hier würde er keine andere Wahl haben.
Havok hob eine Augenbraue.
„Ihr seid mir vielleicht ein Gespann“, murmelte sie und widmete sich wieder ihren Kunden, nur um einige Minuten später zurückzukehren.
„Wenn du unbedingt etwas darüber wissen willst, könntest du Reyes fragen.“ Damit nickte sie zu einer Ecke, in der besagter Mann stand.
Die beiden Männer folgten ihrer Geste, als sie den Mann entdeckten, der sich gerade an einem runden Tisch mit einer schlanken Blondine unterhielt.
Kaden verengte seine dunklen Augen zu Schlitzen, als er den Mann erkannte, der am frühen Abend noch Sezuna belästigt hatte.
„Gibt es denn sonst niemanden der sich damit auskennt?“, fragte der Vampir, ohne den Blick von dem schwarzhaarigen Mann abzuwenden.
„Wieso was ist mit ihm?“, fragte Orion abwesend, der wieder ein ungutes Gefühl bekam, als er den Mann so musterte.
Kaden schien in Gedanken versunken zu sein, als er letztendlich doch antwortete: „Nichts.“
Mit einer flüssigen Bewegung stieß er sich von der Bar ab und ging zu Reyes hinüber. Etwas perplex folgte Orion ihm zu dem kleinen Tisch.
Reyes graue Augen blitzen auf, in die Richtung der beiden Männer, die sich auf ihn zu bewegten.
Mit einem Lächeln nickte er der Blondine zu, um ihr zu symbolisieren, dass sie verschwinden sollte.
Kaden ließ sich direkt auf den Stuhl fallen, an dem zuvor noch die blonde Frau gesessen hatte. Im Gegensatz zu Orion der neben Kaden zum Stehen kam, um auf Abstand zu bleiben.
„Wie geht es deiner Freundin?“, fragte der grauäugige Mann mit einem Grinsen und müden Augen.
„Da du sie nicht mehr belästigst, besser. Und wenn du nicht willst, dass sie dich das nächste Mal verprügelt, solltest du uns besser helfen“, erklärte Kaden und spürte nach seinen Gefühlen.
Es war merkwürdig. Er schien weder glücklich, noch neugierig zu sein. Es war eine Stimmung, die Kaden zwar wahrnahm, doch nicht zuordnen konnte.
„Belästigt? Ich habe sie nur willkommen geheißen. Schließlich... seid ihr ja neu hier. Nicht wahr?“, verteidigte Reyes sich in einem merkwürdigen Tonfall, der recht zweideutig klang.
Orion spannte seine Muskeln an. Alles in ihm rief Alarm aus, bei dem Klang seiner unheimlichen Stimme und erweckte in ihm seine Instinkte.
Es herrschte einige Sekunden eisiges Schweigen, abgesehen von der lauten Musik und den restlich anwesenden Gästen im Raum.
Wie aus dem Nichts begann Reyes laut zu lachen und lehnte sich bequem in seinem Stuhl zurück. „Ich verarsch euch doch nur Jungs. Wie kann ich euch helfen?“, fragte er immer noch lachend, nachdem er sich eine Zigarette angezündet hatte.
Trotz seines vorletzten Satzes beruhigten sich die beiden Männer kein bisschen.
Irgendwas stimmte mit dem Typ nicht.