Alles neu
Xander
Er liegt im Bett und starrt an die weiße Zimmerdecke. Die ersten Abende hat er immer aus dem Fenster gestarrt. Aber dieses Unterfangen hat er aufgegeben. Die Wahrscheinlichkeit in New York City einen klaren Sternenhimmel zu sehen, geht gen null. Da ist die Wahrscheinlichkeit, ist er zum Schluss gekommen, dass sich auf wundersame Weise Muster an der Decke bilden schon höher. Auch wenn es sich nur um einen geringen Prozentsatz handeln mag. Aber immerhin. Da oben könnten sich ja Schimmelsporen bilden. Dann ist das ganze schon gar nicht mehr so unwahrscheinlich und ein Muster würden die auf jeden Fall ergeben.
Ein Klopfen an der Tür bringt Xander vielleicht nicht aus der Ruhe, lässt ihn zumindest aber aufhorchen. Auf eine Antwort wartet auch keiner, da geht schon die Tür auf. Also ein Betreuer. Die Sache ist die, alle Bewohner untereinander sollen Privatsphäre wahren, was bedeutet, immer anzuklopfen, wenn man ein fremdes Zimmer betreten will und auch zu respektieren, wenn man nicht herein gebeten wird. Bei den Erziehern in diesem Haus sieht die Sache aber schon wieder ein wenig anders aus. Zwar klopfen die meisten von ihnen der Höflichkeit halber an, aber das hindert sie in der Regel auch nicht daran, binnen Sekunden sowieso hereinzustürmen. So wie jetzt.
Es ist Mike, das hört Xander an den Schritten. Deshalb setzt er sich auf und blickt ihm entgegen. Was er an Mike zu schätzen weiß ist, dass er die nötige Distanz wahrt. Abstand hält. Die Hauptbetreuerin der Mädchen, er glaubt zu wissen sie heißt Charlotte, ist wahnsinnig aufdringlich. Für Xander ist sie das zumindest. Ständig umarmt sie alle Mädchen und generell verhält sie sich, als wären die Mädchen und sie die aller besten Freundinnen. Mike aber bleibt im Türrahmen stehen. Er Lehnt sich lässig dagegen und fragt:
„Läuft doch bisher gar nicht so schlecht, oder?“
Xander zuckt mit den Schultern. Geht so.
Mike nickt wissend und sagt dann:
„Ich habe übrigens mit deiner Mentorin telefoniert. Sie hat heute Nachmittag angerufen.“
Xander kann gar nicht anders, als die Augen zu verdrehen. Seine Mentorin, das ist die Schulsozialarbeiterin, die Xander bei der Eingewöhnung in der High School helfen soll. Er kann sie nicht leiden. Das ist doch jetzt nicht wahr! Was hat er denn bitte nun schon wieder gemacht? Er geht erst seit Montag wieder zur Schule, scheiße genug und heute ist Mittwoch. So daneben kann er sich eigentlich noch gar nicht benommen haben. Er seufzt.
„Und was habe ich getan? Sie wird ja nicht ohne Grund hier angerufen haben.“
Mike runzelt die Stirn
„Wer sagt denn, dass du etwas verbrochen hast?“
„Na, sie ruft doch wohl nicht aus Spaß an.“
„Stimmt, das tut sie nicht. Aber niemand hat gesagt, dass du etwas angestellt hast. Sie macht sich allerdings Sorgen, weil du jetzt schon angefangen hast dich von den Leuten in deinem Jahrgang abzukapseln.“
„Mike.“ Xander atmet tief durch, es fühlt sich irgendwie komisch an jemanden mit „Du“ anzusprechen, der älter ist als man selbst. Aber darauf bestehen sie hier nun mal.
„Ich bin jetzt seit drei Tagen dort. Was erwartet sie bitte, dass ich einen Haufen wildfremder Jugendlicher so mir nichts dir nichts als meine neuen besten Freunde betrachte? Mal abgesehen davon, dass in jedem Kurs zehn neue Gesichter sitzen. Ich kann mir ja nicht mal annähernd ihre Namen merken.“
„Das glaube ich dir gerne und es verlangt auch niemand von dir, dass du gleich Freundschaften fürs Leben knüpfst. Aber es ist definitiv auch kontraproduktiv, wenn du mit den Leuten kein einziges Wort sprichst und dich in den Pausen auch noch in irgendwelchen dunklen Ecken verkriechst.
„Woher will sie das denn bitte wissen? Hat sie in den Pausen den Schulhof nach mir abgescannt oder mich observiert? Nur weil ich nicht besonders gesprächig bin heißt das nicht, dass ich mich von den anderen abkapsele. Wo wir gerade dabei sind, ein kleiner Denkanstoß: Worüber soll ich mich denn mit denen unterhalten?“
Mike schüttelt den Kopf und Xander weiß genau, egal was er jetzt noch sagt, er wird es doch nicht verstehen.
„Du hast Nerven, ehrlich. Hör mal zu, Junge. Wir sind sowieso schon auf dich zugegangen. Eigentlich hättest du gar nicht im Abschlussjahrgang eingeschult werden sollen. Wir müssen uns schließlich nichts vormachen, du hast die High School ein Jahr lang besucht, du schaffst diesen Abschluss ohnehin nicht. Aber du wolltest ja auf keinen Fall mit Leuten in einen Kurs gehen, die vier Jahre jünger sind als du. Also reißt du dich jetzt besser zusammen und bemühst dich zumindest darum Anschluss zu finden. Keine Diskussion.“
Das hat gesessen. Du schaffst das ohnehin nicht. Xander fühlt sich mit einem Mal regelrecht herausgefordert.
„Sagt, wer?“, fragt er stoisch.
„Ich bitte dich, wie denn?“, erwidert Mike gelassen. Er weiß ganz genau, dass er Recht hat und Xander weiß es auch. Das heißt aber noch lange nicht, dass er sich das von jemand anderem sagen lässt.
„Wie gesagt, darum geht es auch gar nicht. Reiß dich einfach zusammen, verstanden Junge?“
Irgendetwas in Xander sträubt sich regelrecht gegen diese Aufforderung. Dennoch weiß er, dass er im Grunde genommen gar keine andere Wahl hat. Also nickt er nur. Er würde nur sagen was er wirklich denkt, wenn er antwortet. Mikes Blick aus grauen Augen verrät ihm sehr wohl, der Ältere weiß auch das Xander besser nicht laut antworten sollte.
„Geht doch und jetzt zu einem anderen Thema. Deine Gruppentherapie.“
Unwillkürlich stöhnt er. War ja klar, dass dieses Thema wieder kommen muss. Die Grippe letzte Woche war schließlich Glück im Unglück. Dass er nicht länger darum herum kommt, ist ihm bewusst.
„Okay“, antwortet er deshalb nur und lässt sich von Mike ein weiteres Mal das Prozedere erklären, dass ihm am Wochenende erwarten wird.
Nachdem Mike sein Zimmer wieder verlassen hat - Gott sei Dank hat Xander zumindest für den Moment noch keinen Mitbewohner, er befürchtet er wird damit nicht klar kommen, sobald es soweit ist - beschließt er, dass es Zeit fürs Bett ist. Er ist unheimlich müde. Sobald er die Augen schließt, er weiß es genau, wird er einschlafen. Trotzdem wird er spätestens heute Nacht um vier wieder wach sein. Er hat regelrecht Angst davor die Augen zu schließen, weil er weiß, welche Träume ihn erwarten. Es ist merkwürdig. Er kann sich nicht daran erinnern, wann er das letzte Mal so konstant jede Nacht geträumt hat. Es ist eine regelrechte Heimsuchung. Er ist in der letzten Woche keine einzige Nacht von diesen Alpträumen verschont geblieben. Zu seiner Zeit in New Jersey hatte er diese Träume auch. Vielmehr die immer selbe Episode aus der Vergangenheit und er wird sie einfach nicht los. Aber damals war Romeo da, wenn es ganz besonders schlimm wurde und der hat ihn geweckt. Dann war der Spuk meist für die restliche Nacht vorbei. Denn Romeo ist mit ihm wach geblieben bis der Morgen graute. Auch in New York ist er die Träume zunächst nicht losgeworden. Bis ... ja, bis er Angel getroffen hat, oder besser gesagt, bis er Bekanntschaft mit den Drogen und dem Vergessen gemacht hat.
Im Gemeinschaftsbad gönnt Xander seinem Gesicht erst einmal eine kalte Ladung Wasser, um auf andere Gedanken zu kommen. Gemeinschaftsbäder sind echt nicht sein Ding und so beschränkt er sich aufs Zähneputzen und eine schnelle Katzenwäsche. Zurück in seinem Zimmer setzt er sich unruhig auf sein Bett, sofort sind die schlechten Gedanken wieder da.
Unwillkürlich wird ihm schlecht. So wie immer, wenn er nur an das scheiß Heroin denkt. Es macht ihn fertig. Die Tatsache, dass er daran denkt ebenso, wie die Tatsache, dass er besser die Finger davon lassen sollte. Mit einem Mal ist er schrecklich unmotiviert, er will aber auch nicht in seinen Kleidern schlafen. Also schlurft er zum Kleiderschrank in dem die Sporttasche liegt, die Jesse ihm noch in Wisconsin gepackt hat. Sie liegt in der hintersten Ecke und wurde noch nicht ausgepackt. Sie auszupacken würde bedeuten sich hier Zuhause zu fühlen und das tut er nicht. Da ist wieder diese kleine, leise Stimme, die er schon lange nicht mehr gehört hat und die ihm zuflüstert, eine ausgepackte Tasche würde bedeuten bleiben zu wollen und das sei jawohl nicht ernstlich sein Plan. Er weiß es noch nicht. Wirklich nicht. Es ist nicht so übertrieben übel wie er befürchtet hat, aber gut ist es definitiv auch nicht. Diese ganzen Regeln sind doch irgendwie für den Arsch. Hier ist jede noch so kleine Minute durchgeplant und das kotzt ihn verdammt an. Wann er Freizeit hat, wann er irgendwelche Dienste zu verrichten hat, wann er Hausaufgaben zu machen hat. Wann er zu schlafen hat, ja sogar wann er zu Essen hat. Das ist doch völlig bescheuert. Nur so am Rande wollte er wissen, wofür die ganzen festgeschriebenen Zeitpläne eigentlich gut sein sollen und als Antwort kam von irgendeinem Betreuer zurück, dass die Einrichtung ja vom Staat kein Geld bekäme, wenn es nicht so wäre. Tolle scheiße. Als ob es den Staat interessiert, wann er isst. Letztendlich geht es doch nur um Kontrolle. Nicht mehr und nicht weniger. Er hasst es. Schnell schüttelt er den Kopf. Versucht die ganzen negativen Gedanken zu verscheuchen.
Er kramt in der Tasche, bis er ein T-Shirt in der Hand hält. Nicht irgendein T-Shirt, sondern das T-Shirt, dass er an dem Abend getragen hat, an dem Jesse - mehr oder minder verzweifelt – versucht hat ihm die Formationen des Sternenhimmels näher zu bringen. Das T-Shirt, das eigentlich Jesse gehört und diesen komischen Eigengeruch an sich hat. Nicht komisch. Angenehm. Ein bisschen nach dem Rasierwasser, welches Jesse immer benutzt und einfach ein bisschen nach ihm selbst. Es ist absolut albern, aber er fühlt sich besser, wenn er es trägt. Sicherer. Zumindest für den Augenblick. Jeans und Oberteil legt er gefaltet neben die Tasche. Die Socken werden zu einem Knäul und landen daneben. Das T-Shirt ist ihm ein ganzes Stück zu groß und eignet sich alleine deshalb schon zum Schlafen. Deshalb trägt er es auch schon seit fast einer Woche, einmal ganz ungeachtet der Tatsache, dass das nicht besonders hygienisch ist. Deshalb beginnt Jesses Geruch allerdings auch langsam zu verschwinden und – das ist noch viel alberner -, irgendwie macht ihn das nervös.
Draußen ist es dunkel und Xander hat nicht genug antrieb, um die Jalousien zu schließen. Außerdem kann er es nicht besonders gut leiden, wenn der ganze Raum in Dunkelheit gehüllt wird. Deshalb kommt ihm die Straßenlaterne vor seinem Zimmer eigentlich ganz gelegen. Alles verkriechen unter der Decke nützt aber nichts. Schlafen kann er auf einmal doch nicht mehr. Soviel dazu. Die Furcht vor einem Albtraum hält ihn wach. Er wirft sich im Bett von links nach rechts und findet keine Ruhe. Bis ihm dann doch irgendwann die Augen zufallen.
Er zittert, schwitzt und ringt nach Atem als er erwacht. Mit einem Mal sitzt er aufrecht in seinem Bett. Die Digitaluhr an der gegenüberliegenden Wand zeigt, wie sollte es auch anders sein, vier Uhr. Der kalte Angstschweiß läuft seinen Rücken herunter und er erschaudert. Müde und mit fahriger Hand fährt er sich über die Augen. Du bist wach. Du bist wach. Du bist wach. Er sagt diesen Satz immer wieder in Gedanken, wie ein Mantra. Trotzdem wird das Zittern nicht besser. Langsam lässt er sich zurück in die Kissen sinken. Seine Augen wandern unruhig durch den Raum, der im schummrigen Licht der Straßenlaterne liegt. Die weißen Wände sind kahl bis auf die Digitaluhr und dem Poster irgendeines Kinofilms, das langsam abblättert. Auch der Raum selbst wirkt eigentlich nicht sonderlich einladend. Es ist allerdings auch nicht viel darin. An der gegenüberliegenden Wand steht ein weiteres Bett. Außerdem ein Schreibtisch. Direkt neben der Tür steht der Kleiderschrank. Das war’s. Kein Nachtschrank, keine Leselampen, keine weiteren Möbel. Kein Schnickschnack. Schon okay so. Er macht sich sowieso nicht besonders viel aus Gemütlichkeit und einladender als die Straße ist das hier allemal. Zu dem flauen Gefühl in seiner Magengegend gesellt sich nach geraumer Zeit ein pochender Kopfschmerz und spätestens jetzt weiß Xander, dass er heute Nacht keinen Schlaf mehr finden wird. Entnervt dreht er sich auf die Seite. Scheiße.
Sein Blick fällt nach einer Weile auf den Kleiderschrank. Xander überlegt noch einen Moment, wenn er jetzt wirklich aufsteht, anstatt liegen zu bleiben, schwinden auch seine letzten Chancen doch noch einmal einzuschlafen. Ach was soll‘s. Er schläft ja doch nicht wieder ein.
Minuten später sitzt er grübelnd unter dem Fenster. Die Schultasche aus dem Kleiderschrank direkt neben ihm, bewaffnet mit Stift und Papier. Da ist diese Melodie in seinem Kopf und er versucht sie irgendwie festzuhalten. Er vermisst seine Gitarre, die Romeo vielleicht heute noch hat, wenn er das ramponierte Ding nicht mittlerweile in den Müll geworfen hat. Die Gitarre und ein Rucksack mit ein paar Klamotten und einem Foto waren alles, was er vor etwas mehr als drei Jahren von Zuhause mitgenommen hat. Und was ist davon übrig geblieben? Gar nichts. Am längsten hat tatsächlich das Foto überlebt, das er zumeist in Hosen oder Jackentasche gehabt hat. Der Rucksack. Könnte ‘ne lustige Geschichte sein, wenn das für ihn damals nicht übertrieben mies gewesen wäre. Sein Rucksack hat nämlich exakt drei Wochen überlebt, dann ist er ihm am Bahnhof in Jersey City geklaut worden. Wer von Solidarität spricht, weil ja schließlich alle in einem Boot sitzen würden, der hat eckt keine Ahnung. In der Szene sieht das schon anders aus. Da hilft man sich auch ab und zu. Trotzdem gibt es seine Grenzen und auch da kann es schon mal vorkommen, dass dir Dinge abhandenkommen, wenn du die Augen zu lange zumachst. Schlaf ist also eher ein Luxus. Vielleicht schafft sein Bio-Rhythmus es deshalb nicht, sich auf die veränderten Umstände einzustellen. Schwer zu sagen.
Deshalb sitzt er jetzt auch hier, nachts um viertel vor fünf, leider ohne Gitarre, und versucht den Klang dieses Liedes einzufangen, bevor er fort ist. Er schreibt sich Tabs auf, auch auf die Gefahr hin, dass sie nicht stimmen und desto länger er schreibt, desto klarer wird die Melodie in seinem Kopf und mit der Melodie kommt auch der Text.
And I’m sitting here on the cold hard ground
Knowing I’m lost still wishing to be found.
Sometimes it feels like I’m over and out.
But I know life’s worth there’s more about.
Es kommt, wie es kommen muss und wie es vermutlich zu erwarten war. Am nächsten Morgen hat Xander einen Liedtext, einen Haufen Tabs, von denen die Hälfte höchstwahrscheinlich nicht stimmt, und mindestens ein Dutzend zerknüllte Papierkugeln vor sich. Dafür ist er jetzt absolut übernächtigt und er muss sich zusammenreißen, damit ihm nicht gleich doch noch die Augen zufallen. Mist. Schon klar, jetzt ist er todmüde. Gähnend reibt er sich mit dem Handrücken über die Augen. Er schaut auf die Uhr an der Zimmerwand und seufzt. Eher unwahrscheinlich, dass er sich gleich ins Bett legt und binnen Sekunden einschläft, aber er hofft trotzdem noch eine halbe Stunde Schlaf erhaschen zu können, bevor er gleich zur Schule muss. Er legt sich also doch noch einmal ins Bett. Ihm fallen gerade die Augen zu, er weiß nicht genau, wie lange es gedauert hat, da fängt das verfluchte Ding von einem Wecker, das auf dem Boden neben seinem Bett steht, an sein Trommelfell zu belästigen. Fuck. Okay, er ist ja schon auf den Beinen und zurück auf dem Boden der Tatsachen. Zeit für Schule und Frühstück. Er hasst Frühstück. Irgendwie hat er in letzter Zeit null Appetit und insgeheim hofft er, dass er sich davor drücken kann. Aber sie haben strenge Dusch- und Essenszeiten, also kann er nirgendwo Zeit vertrödeln um sich davor zu drücken. Deshalb sorgt er lieber dafür, dass er aus dem Bett kommt. Mangels Alternativen, er hat nur drei T-Shirts und zwei Jeans, dauert die Suche nach etwas annehmbaren zum Anziehen auch nicht sonderlich lang. Ein Blick auf die Uhr verrät ihm, dass er sich lieber beeilen sollte, wenn er seine Badzeit nicht verpassen will. Er rollt mit den Augen. Er hasst durchgetaktete Abläufe. Was soll's. Bisher hat er sich noch mit keinen seiner 'Mitbewohner' angelegt und so wie einige von denen aussehen, will er es auch in nächster Zeit lieber nicht darauf ankommen lassen, deswegen ist es besser er hält sich fürs erste an die festgeschriebenen Zeiten.
Die Erzieher und Pädagogen bestehen darauf, dass sie alle gemeinsam frühstücken. Alle heißt dann auch alle. Obwohl die Mädchen separate Schlafräume in der unteren Etage haben verbringen sie doch ihre gesamte restliche Zeit gemeinsam, da die Räume allen gleichermaßen zur Nutzung zur Verfügung stehen. Trotzdem versucht er sich möglichst unauffällig in die Küche zu bewegen. Dumm nur, dass Mike direkt in der Tür steht und ihn noch nicht einmal wortlos vorbeiziehen lassen kann.
„Was ist denn mit dir passiert? Du siehst aus als hättest du in der ganzen Nacht kein Auge zugetan.“
„Hmm.“
Er will sich schon an ihm vorbeischieben, da geht Mike einen weiteren Schritt auf ihn zu.
„Bekomme ich darauf auch ‘ne vernünftige Antwort?“
Er verdreht genervt die Augen, es ist viel zu früh für solch dämliche Diskussionen, und schiebt sich doch noch an Mike vorbei. Dabei murmelt er:
„Vielleicht, wenn du vernünftig fragst.“
Das war definitiv die falsche Antwort, kaum ist er an ihm vorbei, wird er unsanft an seinem Ellbogen zurückgezogen. Sein Puls rast binnen einer Millisekunde, aus Affekt versucht er direkt seinen Arm wegzuziehen. Es gelingt vermutlich nur, weil Mike ihn direkt loslässt. Er hasst es, dass er in solchen Momenten nie Herr seines eigenen Körpers ist. Er zittert unkontrolliert und die gesamte Situation ist ihm wahnsinnig peinlich. Einige der Jugendlichen, die schon am Frühstückstisch sitzen bedenken ihn mit einem verständnislosen Blick, andere schauen eher verwirrt und als er in Jades Augen blickt, das Mädchen welches ihm am ersten Tag die Einrichtung gezeigt hat, meint er einen wissenden Schimmer in ihren Augen zu erhaschen. Mike sagt irgendetwas zu ihm doch er nimmt es nicht wirklich wahr. Gerade ist die Welt wie in Watte. Die Gedanken in seinem Kopf rasen ohne, dass er auch nur einen einzigen zu fassen bekäme. Am liebsten würde er sich umdrehen und einfach nur weg von hier. Doch da ist diese Stimme in seinem Kopf, die leise flüstert, dann ist es schneller vorbei als du auch nur darüber nachdenken kannst.
Irgendwo am Rande bekommt er mit, dass er sich von der Stelle bewegt. Das er unterbewusst aufgenommen haben muss, was Mike ihm gesagt hat. Er folgt ihm aus dem Esszimmer, durch einen schmalen Flur bis hin zu seinem Büro, wo er die Tür mit einem lauten knarzen aufstößt. Xander bleibt zögernd davor stehen, doch der Ältere macht eine Geste, die ihm klar symbolisiert, er soll eintreten. Er macht es, fühlt sich dabei aber wahnsinnig unwohl.
Mike schaut einmal nach links, dann nach rechts und schließt dann die Bürotür.
„Ich glaube wir sollten nochmal unter vier Augen reden“.
Xander schüttelt automatisch den Kopf.
„Doch. Das sollten wir definitiv. Setz dich!“
Er schüttelt wieder den Kopf. Vehement. Er will nicht.
„Xander, setz‘ dich. Jetzt.“
Die innere Anspannung droht ihn fast zu zerreißen. Alles in ihm schreit förmlich danach das Weite zu suchen. Er will hier nur weg. Er will nicht angefasst werden, er will nicht daran denken und schon gar nicht will er darüber reden. Aber er weiß, dass ihm das nicht vergönnt ist. Wenn er jetzt durch diese Tür geht kann er seine Koffer packen und gehen. Dann tut er das, was vermutlich alle von ihm erwarten und wie soll er Jesse dann noch einmal unter die Augen treten? Gar nicht, wäre die passende Antwort. Widerstrebend lässt er sich also auf den abgegriffenen Lederstuhl sinken, der dem Schreibtisch gegenüber steht. Verdammt, seit wann ist er eigentlich so erpicht darauf, die Erwartungen anderer zu erfüllen? Das ist gruselig. Wirklich gruselig. Er atmet tief durch, als ihm klar wird, dass Mikes Blick auf ihm ruht. Er versucht bewusst in eine andere Richtung zu blicken. Augenkontakt macht ihn nicht nur wahnsinnig nervös sondern lässt ihn sich meist auch ziemlich unwohl fühlen. Beobachtet und gemustert. Er schaudert unwillkürlich und hofft sofort, dass Mike das nicht gesehen hat.
Sein Blick fällt auf die tickende Uhr an der Wand. Na, fantastisch. Wenn er hier nicht sehr bald wieder herauskommt, dann kommt er auch noch zu spät zur Schule. Nicht das er besonders erpicht auf Unterricht wäre, ganz sicher nicht, aber alles wäre besser als hier sitzen zu müssen.
„Ich muss zur Schule“, murmelt er ohne Zusammenhang.
„Du musst jetzt nirgendwo hin.“
„Dann will ich zur Schule“.
„Ich wette deine Eltern haben diesen Satz nicht oft gehört.“
Er versucht ihm einen entrüsteten Bick zuzuwerfen, aber er fühlt sich so unwohl in diesem kleinen Büro, dass sich vermutlich niemand einen Reim daraus machen kann. Trotzdem räuspert Mike sich, als wäre ihm unangenehm, was er zuvor gesagt hat.
„Ich hätte dir beim Aufnahmegespräch nicht sagen sollen, dass es okay ist, wenn wir nicht weiter über deine Person oder deine Vergangenheit sprechen, denn das ist es nicht. Wenn wir dir wirklich helfen wollen, dann sollten wir Bescheid wissen. Dann sollte ich Bescheid wissen und offensichtlich ist es nicht okay.“
In Xanders Magen zieht sich alles zusammen.
„Ich will nicht darüber reden!“
Mike schüttelt den Kopf, begegnet ihm mit ernstem Blick.
Xander erwidert seinen Blick. Versucht es zumindest. Mal ehrlich? Was soll das ganze Theater? Warum ist das zwei Wochen später plötzlich ein Thema? Andere Leute reagieren empfindlich auf Spinnen, er nun mal auf Berührungen. Kein Grund ein Drama daraus zu machen. Ganz abgesehen davon, dass er Mike alles erzählen könnte. Egal was. Er müsste es erst einmal glauben. Mangels an Überprüfungsmöglichkeiten könnte Xander sich so ziemlich als jede Person ausgeben und sonst welche Lebenslügen erfinden. Er hat keine Art von Ausweispapier, abgesehen von seiner Geburtsurkunde die irgendwo in einem Schrank in Cape May vor sich hin rottet, und vollkommen gleich, was er ihm erzählen würde, Mike hat gar nicht die Möglichkeit es zu überprüfen. Warum ersparen sie sich diese Farce hier also nicht einfach und überspringen den Mist?
„Ich weiß was du denkst, aber hier geht es um dich und nicht um mich. Ich kann dich natürlich nicht zwingen mir irgendetwas zu erzählen, dennoch geht es hier um dein Wohl und es täte dir sicher gut, wenn du darüber sprechen würdest.“
Xander schüttelt abermals den Kopf.
„Nein.“
Mike zieht eine Augenbraue in die Höhe.
Mit seinen Händen schiebt er einen Stapel Papiere zusammen, die auf seinem Schreibtisch verteilt liegen. Als er sie glatt streicht knistert das Papier. Das Geräusch ist unheimlich laut in der drückenden Stille und Xander wagt es kaum zu atmen. Die Atmosphäre ist angespannt.
Mike atmet tief ein. Das Geräusch liegt schwer in der Luft. Sein Blick ist Ernst und er wirkt viel älter als für gewöhnlich.
„Gut. Ich will ja auch nicht sagen, dass wir hier irgendwen bevorzugt behandeln, aber natürlich fällt es uns leichter Handlungen und Motive nachzuvollziehen, wenn wir die Beweggründe und Hintergründe unserer Schützlinge kennen.“
Xander schüttelt wiederum den Kopf. Dieses Mal in Unverständnis. Ernsthaft?
„Ach verstehe …“
Xander schnalzt unwillig mit der Zunge.
„Wenn ich jetzt also brav alles erzähle was du hören willst und dabei unheimlich auf die Mitleidsschiene gehe, habe ich davon einen Vorteil, oder wie soll ich das verstehen?“
Er verdreht seine Augen so gut er kann. Einen Teufel wird er tun. Das kann ja wohl unmöglich sein Ernst sein. Der bisher halbwegs sympathische Betreuer wird ihm mit einem Mal absolut unsympathisch.
Mike legt den Kopf in den Nacken und starrt an die Decke als er antwortet:
„So wie du das sagst klingt es, als wären wir beeinflussbar. Dabei versuchen wir nur unsere Schützlinge besser einschätzen und sie verstehen zu können. So wie du es ausdrückst, klingt es ja schon wie eine Art Bestechung.“
Was es in Xanders Augen ist. Nicht mehr und nicht weniger. Aber statt das zu Antworten beißt er sich auf die Lippen. Dies eine Mal versucht er nicht unüberlegt zu antworten.
„Wie denn auch sei", sein Blick gleitet zur Uhr an der Wand, er wird definitiv zu spät zur Schule kommen „ich hab‘ nicht vor hier mit dir ein Kaffeekränzchen zu halten.“
Mike seufzt, als wäre er es leid weiter mit Xander zu sprechen. Hoffentlich. Xander will auch nicht weiter mit ihm sprechen.
„Wie du meinst.“
Auch Mike wirft einen Blick in Richtung Uhr.
„Besser du verschwindest jetzt zur Schule.“
Xander steht auf. Ist ja nicht schon, dass der Unterricht vor zwanzig Minuten begonnen hat. Er ist schon an der Tür, als er Mike sagen hört: „Ach ja und für die beiden blöden Sprüche gibt es eine Woche Küchendienst.“
Tief durchatmen. Das war ja zu erwarten. Er geht durch die Tür, ohne auch nur ein weiteres Wort zu verlieren.
Natürlich kommt er mehr als eine dreiviertel Stunde zu spät zur Schule. Was vermutlich auch daran liegt, dass er sich weigert an der U-Bahnhaltestelle vor der Schule auszusteigen, weil er genau weiß, dass sich dort eine Szene befindet. Streng genommen muss das eigentlich jeder wissen. Die abgebrochenen Gestalten die vor und im U-Bahnhof umherstreunen sprechen für sich. Xander hat sie am ersten Tag jedenfalls gleich erkannt und irgendetwas sagt ihm, sie ihn auch. Es ist jedenfalls ziemlich schwierig all der Scheiße aus dem Weg zu gehen, wenn man jeden scheiß Tag daran vorbei muss. Also hat er für sich beschlossen, dass er daran nicht vorbei gehen wird. Dem ganzen aus dem Weg zu gehen bedeutet allerdings, dass er eine U-Bahnstation früher aussteigen muss, was wiederum einen gar nicht allzu kleinen zusätzlichen Fußweg zur Folge hat und das Resultat daraus ist, dass er gar keine Chance mehr hatte pünktlich in die Schule zu kommen.
Nun steht er vor dem Klassenzimmer und ist hin und hergerissen, ob er anklopfen oder besser erst zur dritten Schulstunde auftauchen sollte. Ins Klassenbuch ist er vermutlich ohnehin schon eingetragen, spielt also eh keine Rolle mehr. Also doch lieber erst zur dritten Stunde auftauchen, dann umgeht er es zumindest, sich vor der ganzen Klasse für sein zu spät kommen rechtfertigen zu müssen. Stellt sich nur die Frage, wo er die restliche Zeit totschlagen soll. Er sollte nämlich besser keinem Lehrer in den Fluren begegnen, dass würde einen wahnsinnsärger mit sich bringen. Auch wenn er unter normalen Umständen ja ganz gerne mal für Ärger sorgt, er arbeitet ja gerade daran sich aus solchen Geschichten herauszuhalten. Langsam entfernt er sich von der Klassenzimmertür. Bisher noch niemand auf den Fluren zu sehen. Er nimmt die Tür die zum Hof hinaus führt. In der Nähe ist der Sportplatz mit der großen Tribüne. Unter der Tribüne fühlt er sich sicher. Zumindest so lange, bis einer der Knalltüten aus dem Unglückskurs der bei dem miesen Wetter zum Sportunterricht im freien verdonnert wurde den Ball mitten in die Zuschauerränge schießt. Da er nicht scharf darauf ist erwischt zu werden, verschwindet er lieber wieder ins Gebäude. Immer noch ist es still auf den Fluren. Vielleicht ist das Glück heute ausnahmsweise mal auf seiner Seite. Er nimmt die nächstbeste Treppe ohne genau zu wissen, wo sie hinführt. Diesen Teil der Schule hat er bisher noch nicht gesehen. Er geht die Treppe weiter hinunter, vermutlich in den Keller. Er fragt sich welche Klassenräume sich hier unten befinden. Falls sich irgendwelche Klassenräume hier befinden. Aber es sieht ganz danach aus. Er läuft langsam weiter den Gang entlang, als er es plötzlich hört. Eine Melodie. Klangvoll. Melodisch und gleichzeitig simpel. Der volle Klang einer Akustikgitarre. Das Lied kommt ihm bekannt vor, aber er erkennt es nicht direkt, der Rhythmus gefällt ihm auf Anhieb. Es ist ein Vier-Viertel Takt. Der Liedtitel liegt ihm auf der Zunge, aber er mag ihm einfach nicht einfallen. Da setzt Gesang ein. Er kann auch die Stimme niemandem zuordnen, aber sie klingt gut. Am Anfang ist ein leichtes zittern zu hören, als wäre sich der Sänger – denn so viel steht schon einmal fest, die Stimme ist definitiv männlich – ein wenig unsicher, ob Text und Takt stimmen. Er findet die unbekannte Stimme schwierig einzuordnen. Bei Jesse ist das leicht. Seine Stimme ist nicht besonders hoch, aber auch nicht allzu tief. Sie ist satt und warm aber nicht dunkel. Jesses Stimme ist ein Bariton. Vielleicht an der Grenze zum Bass. Aber für ihn doch noch klar ein Bariton. Diese Stimme ist anders. Ganz anders. Viel heller und leichter, aber nicht besonders hoch. Trotzdem ist diese Stimme für Xander ein Tenor. Auch wenn es gut sein könnte, dass jeder Chorleiter oder Gesangslehrer hier die Hände über dem Kopf zusammenschlagen würde. Außerdem fällt ihm direkt der Akzent auf, mit dem gesungen wird. Spanisch oder mexikanisch vielleicht. Auf jeden Fall kein ganz sauberes englisch. Aber es klingt angenehm und irgendwie freundlich und auch das Lied erkennt er nun. Es ist „Sweet Child o‘ Mine“ von Guns N‘ Roses. Ein Klassiker aus den 80ern. Wenn Xander nicht alles täuscht sogar der einzige Nummer-Eins Single Erfolg der Band. Zumindest in Amerika. Er ist sich aber nicht sicher. Sicher ist nur, dass das Lied verdammt cool ist.
Er folgt dem Gesang bis zum Ende des Flurs. Die Tür steht einen Spaltbreit offen, aber Xander ist sich unsicher ob er es einmal versuchen sollte unauffällig hineinzuspähen. Ist nämlich doch ein Lehrer im Raum und sieht ihn hat er definitiv ein Problem. Schließlich hat er ja eigentlich längst im Unterricht zu sitzen. Nun ja, wie man es nimmt. Er ist ja auf dem besten Weg dahin ... nach der Pause. Wie aufs Stichwort ertönt die Klingel. Das Pausenzeichen. Am anderen Ende des Flurs öffnet sich die Tür eines Klassenraumes und Schüler strömen heraus. Xander fällt nun auf dem Gang nicht weiter auf. Doch das Lied im Klassenzimmer vor ihm wird unbeirrt weiter gespielt. Es droht beinahe im Lärm der Masse unterzugehen. Niemand scheint es zu hören. Vielleicht interessiert es auch einfach niemanden. Niemanden außer Xander, dem es unter den Fingernägeln brennt zu erfahren, wer da singt und Gitarre spielt.
Zwar beschleicht ihn noch in der Sekunde in der er den Musikraum betritt ein mulmiges Gefühl, aber er geht dennoch hinein. Es ist ein Musikraum. Nicht der selbe in dem er anfang der Woche unterricht gehabt hat. Dieser hier ist viel größer und schöner. Im hinteren Teil des Raums ist ein Podest, das einer Bühne gleicht und von dort kommt auch die Musik. De Junge mit der Gitarre blickt weder auf, noch unterbricht er Gesang oder Spiel, als Xander näher kommt. Entweder bemerkt er ihn nicht oder es ist ihm einfach vollkommen gleich. Jedenfalls lässt er sich nicht stören und Xandder blickt sich abermals um. In einer Ecke steht ein großer Schrank und die Türen sind geöffnet. Darin hängen mehrere Gitarren an ihren Haltern. Neben dem Schrank steht ein Klavier und daneben ein Drum-Kit. Der Raum ist gut ausgestattet. Xander geht ganz automatisch af die Gitarren zu, als er unvermittelt stehen bleibt. Er braucht einen Moment um zu bemerken, was sich verändert hat. Es ist plötzlich ganz still.
„Du bist doch Xander, oder?“
Unwillkürlich dreht Xander sich zu der Stimme um, die ihn so erschreckt hat. Beim Sprechen ist der Akzent noch prägnanter als beim Singen. Der Junge ihm Gegenüber ist offensichtlich in seinem Alter. Ein Latino, etwas größer als er selbst – was kein besonders großes Kunststück ist – und deutlich athletischer. Xander sieht es direkt an der gleichmäßig trainierten Muskulatur. Kein Footballspieler aber definitiv ist er sportlich irgendwie aktiv. Er sieht unverschämt gut aus, um es auf den Punkt zu bringen. Sein Haar ist dunkel, fast schwarz und sieht so wild aus, dass es ihn ganz von alleine verwegen aussehen lässt. Im Nacken kringelt es sich zu kleinen Locken. Viel mehr ist er aber von den Moosgrünen Augen überrascht, die ihm so amüsiert entgegen funkeln. Irgendetwas geht hier doch nicht mit rechten Dingen zu. Wie viel Prozent der Weltbevölkerung haben noch gleich grüne Augen? Weniger als zwei Prozent? Dann sammeln sie sich zurzeit wohl alle in Manhattan. Er denkt sofort an Jesse und an Nile und nun auch noch der Fremde. Der fängt plötzlich an zu Grinsen. Es ist ein schiefes Lächeln aber Xander stellt verblüfft fest, dass es genau das ist, was es anziehend macht. Trotzdem fehlt ihm Charisma, so wie Jesse es besitzt.
„Soy Daniélle, ich freue mich, dich endlich kennenzulernen. Ich wollte dich letztens schon ansprechen.“
Xander blinzelt verwirrt und fährt sich unbehaglich durchs Haar.
„Ich … sollten wir uns kennen?“
Daniélle schüttelt den Kopf und zeigt einen Satz strahlend weißer Zähne als er erneut sein sympathisches Grinsen zeigt.
„Na ja, wir teilen uns bisher fast alle Kurse miteinander und ich sitze eigentlich immer hinter dir, aber … na ja, du musst ja auch erst mal ankommen.“
„Oh …“, gibt Xander verdutzt von sich. Das hat er wirklich nicht gemerkt.
„Echt?“, murmelt er verlegen. „Welche Kurse denn?“
„Musik bei Señor Delgardo zum Beispiel und amerikanische Geschichte, sowie Chemie und Sport.“
„Oh.“
Das ist echt peinlich. Xander kommt nicht umhin sich zu fragen, weshalb ihm Daniélle vorher nicht aufgefallen ist. Der lacht jetzt und erklärt:
„In Musik sitzen wir sogar direkt nebeneinander.“
„Oh“, antwortet Xander nun schon zum dritten Mal schlicht.
„Ja“, erwidert Daniélle gedehnt.
„Du magst Musik, oder?“, fragt er dann.
Xander ist überrascht. Er fragt wie Daniélle darauf kommt und der erwidert, er habe Xander fast die ganze Stunde leise neben sich summen hören, irgendeine ihm unbekannte Melodie und Xander habe auf seinem Block einen Songtext gekritzelt. Zumindest sah es aus der Entfernung so aus. Das macht Sinn. Aber er ist nicht besonders gut darin Songs zu schreiben. Er textet nur so vor sich hin. Das sagt er Daniélle auch, doch der schüttelt unvermittelt den Kopf. Man muss immer positiv denken ist seine Devise. Schließlich ist ja auch noch kein Meister vom Himmel gefallen. In Daniélles Augen funkelt die Begeisterung und Xander sucht unauffällig nach einer Fluchtmöglichkeit.
Er hat das Gefühl die Luft um ihn herum wird dünn. Genau solche Situationen hasst er. Menschen die irgendetwas von ihm erwarten und seien es nur irgendwelche Antworten. Er will nicht sagen, dass Daniélle nicht irgendwie ganz nett wäre, aber das hier ist definitiv schon zu viel Interaktion am Morgen. Also nutzt er die Gelegenheit als der Dunkelhaarige sich umdreht um seine Gitarre zu holen und verschwindet. Kaum auf den Flur rennt er allerdings in seinen Musiklehrer. Na, fantastisch. Doch als der ihn nur verdutzt ansieht, statt zu einer Standpauke anzusetzen, macht Xander das er davon kommt, bevor er es sich noch anders überlegen kann.
Er kommt erst zur Ruhe als er die Klotür hinter sich zuschließt und gleichzeitig kommt ihm dabei der Gedanke, wie unheimlich bescheuert er sich gerade benommen hat. Was zur Hölle war das schon wieder? Wütend über sich selbst schlägt er mit der Faust gegen die Kabinenwand, ganz ungeachtet der Tatsache, dass sich dort neben ihm in der Kabine durchaus jemand sein könnte, der sich gerade vielleicht fragt, welcher Verrückte sich da neben ihm befindet. Wieso kann er sich auch nicht einfach mal wie ein normaler Mensch verhalten? Gott, Daniélle wird ihn für einen Volltrottel halten. Nein. Daniélle muss ihn für einen Volltrottel halten. Er hält sich ja selbst für einen. Er klappt den Klodeckel zu, setzt sich darauf und probiert sich möglichst klein zu machen. Vielleicht wird er dadurch unsichtbar? Die vage Hoffnung besteht. Er schlägt die Hände über den Kopf zusammen und versucht die rasenden Gedanken zu sortieren. Es ist zu viel. Viel zu viel.
Er denkt an die Situation von heute Morgen und ohne es zu wollen schiebt sich ein anderes Bild in seinen Kopf.
Der Regen prasselt gegen die dreckige Fensterscheibe des Polizeiwagens. Xander zittert. Allerdings nicht vor Kälte. Das Tempo des Autos ist mäßig und wenn Raynolds, dieses Arschloch, ihn nicht allen Ernstes mit Handschellen am Vordersitz festgemacht hätte, dann hätte er vermutlich schon längst die Autotür aufgerissen und wäre über alle Berge. James sagt kein Wort und die stille die sich im Wagen ausbreitet droht ihn zu verschlingen. Er versucht sich seine Panik nicht anmerken zu lassen und schaut mit sturer Verbissenheit aus dem Fenster, doch als sie ohne auch nur langsamer zu werden durch die Straße und an seinem Haus vorbeirauschen sieht Xander seine schlimmsten Befürchtungen bestätigt. Nur probehalber zerrt er noch einmal an den Handschellen, doch keine Chance. In der Fensterscheibe sieht er Raynolds Gesicht süffisant grinsen. Kurz darauf kommt der Wagen ruckelnd am Rand eines Waldweges zum Stehen. Sein Puls rast. Er will hier weg. Bitte. Verdammt. Wieso ist et heute Nacht denn nicht einfach Zuhause geblieben? Wieso muss er auch jedes Mal aufs Neue so blöd sein und sich in die scheiße reiten? Er sollte es besser wissen. Er weiß es besser. Er lernt nur einfach nicht dazu und scheinbar ist es jedem anderen scheiß egal. Die Autotür wird aufgerissen. Der Mann in Polizeiuniform steht wie ein Schatten über ihm. Als die Handschellen gelöst werden, versucht Xander über die Rücksitzbank bis zur anderen Tür zu kommen. Doch noch bevor er seine Hand auch nur an der Türklinke hat, wird er bereits am Ellbogen zurückgezogen. „Wo hin denn so eilig?“
Mit diesen Worten drückt er Xander auf die Rücksitzbank. Keine Sekunde später ist er über ihm. Heißer Atem in seinem Gesicht.
„Wir beide müssen uns dringend noch einmal unterhalten.“
Er spürt die Hitze durch seinen gesamten Körper jagen. Genau wie heute Morgen. Die bloße Erinnerung lässt ihn beinahe die Beherrschung verlieren. Er spürt das brennen in seinen Augen, aber er unterdrückt einen Gefühlsausbruch. Du hast in den letzten Tagen echt genug geheult, sagt er sich selbst. Nicht schon wieder. Er steht auf, ringt um Fassung, aber in seinen Ohren rauscht es nur. Ihm ist als wäre das Klingeln der Schulglocke weit entfernt. Der Unterricht geht weiter, doch er rührt sich nicht. Auf den Fluren ist gepolter zu hören. Alle Schüler bemühen sich so schnell wie möglich in ihre Klassenzimmer zu kommen. Alle außer Xander. Er wartet darauf, dass es auf den Fluren leise wird. Das dauert einen Moment. Er rührt sich nicht, bis auch die letzten schlurfenden Schritte von betagten Lehrern auf den Fluren verhallen. Dann entriegelt er die Tür.
Erst als er das Schulgebäude an der nächsten Straßenecke hinter sich gelassen hat, kann er wieder durchatmen. Kaum das er einen tiefen Luftzug genommen hat, hört er eine Stimme hinter sich und fährt zusammen.
„Solltest du jetzt nicht eigentlich im Klassenzimmer sitzen?“
Daniélle. Gott verdammt! Wo kommt der Kerl denn jetzt auf einmal her? Leichtfüßig wie eine Katze springt er von der Mauer auf der er sitzt.
„Und du? Bisschen weitläufig und laut hier, für ’n Klassenzimmer. Oder täusche ich mich da?“
Ein heiteres Lachen ertönt.
„Oha, gut gekontert. Du magst keine Fragen, was? Nenn‘ mich Danny.“
Ihm wird eine Hand entgegen gestreckt und Xander zögert, er will eigentlich keine Freundschaften schließen. Schließlich hat er ja gar keinen Bock auf die ganze Scheiße hier und desto mehr Kontakte er knüpft umso schlimmer wird es, wenn er seine Zelte hier wieder abbricht. Als er keine Anstalten macht, die ihm dargebotene Hand zu ergreifen lässt Danny sie sinken. Er ist enttäuscht. Sein Gesicht verrät das deutlich.
„Okay. Lo entiendo.* Ich gehe dir wohl auf die Nerven. Bin schon weg“, die Stimme wird zum Ende des Satzes immer leiser. Es klingt wahnsinnig verletzlich und er ist schuld.
Xander ist schuld. Er will sagen, dass das so nicht stimmt. Dass er nichts gegen ihn hat. Dass es nicht an ihm sondern an Xander selbst liegt. Aber er bekommt den Mund nicht auf und der andere geht davon, ohne ihn eines weiteren Blickes zu würdigen. Das tut irgendwie verdammt weh. Ist besser so, versucht er sich einzureden. Danny hat sicher genug andere Freunde. Nur weiß er selbst, dass er damit lediglich versucht sein schlechtes Gewissen zu beschwichtigen. Er schaut noch eine Weile in die Richtung, in die Danny verschwunden ist, bevor er sich selbst auf den Weg macht. Wohin weiß er nicht so genau. Hauptsache weg.
Es dauert vielleicht eine halbe Stunde, da ist er wieder in seiner alten Routine drin. Es sieht planlos aus, aber er weiß genau, wo er hingeht. Noch besser weiß er, welche Orte er bewusst meidet. Er war vielleicht drei Wochen nicht mehr hier unterwegs, aber Manhattan bleibt Manhattan und er kennt diesen Bezirk beinahe wie seine – nicht vorhandene - Westentasche. Er läuft bekannte Wege ab. Folgt unsichtbaren Fußstapfen und irgendwann steht er in Angels Block. Oder besser, in dem Block, in dem Angel gewohnt hat. Er schaut sich um. Es sieht aus wie immer. Genauso dreckig. Genauso trist. Nichts hat sich verändert. Fast nichts. Er steht vor der Eingangstür des Gebäudes in dem sie wohnte und blickt nach oben. In dem Fenster das zu ihrer Wohnung gehörte hängen unbekannte Gardinen. Lila, mit irgendeinem Muster. Scheinbar ist die Wohnung schon wieder vermietet. Ihm dreht sich der Magen um. Natürlich ist sie das. Willkommen in New York.
Er schaut die dreckige Gasse hinunter. Wenn er dem Weg folgt kommt er zum alten Kirchplatz. Hier ist vormittags die Szene. Ihn ergreift eine wohlbekannte Unruhe. Nein. Ein leises flüstern. Die Stimme in seinem Kopf. Nun geh schon. Ein lauter Schrei. Wieder die Stimme in seinem Kopf. Er taumelt zurück, obwohl niemand außer ihm hier ist. Wieso ist er bloß hergekommen? Er setzt sich in Bewegung. Ganz von alleine. Er läuft erst. Dann rennt er. Schneller, immer schneller. Weg aus der Gasse. Weg vom alten Kirchplatz. So schnell wie möglich.
Es ist später Nachmittag als er den Weg zum Wohnheim einschlägt. Die letzten Stunden sind verschwommen, obwohl er vollkommen nüchtern ist. In jeder Hinsicht. Der Rucksack mit den Schulsachen auf seinem Rücken fühlt sich an, als wäre er mittlerweile mit Bleigewichten befüllt. Er ist müde und erschöpft obwohl er ja eigentlich nichts gemacht hat. Er ist nur gelaufen und das hat er früher jeden Tag gemacht. Früher. Also vor drei Wochen noch. Sein Blick ist auf den staubigen Gehweg geheftet, da hört er plötzlich eine leise Stimme neben sich.
„Hey, Xander.“
Es ist Jade. Ihre Stimme ist sanft und melodisch.
„Hey“, er blickt auf. Eigentlich will er auch mit ihr nicht reden –bloß keinen Kontakt suchen-, doch dann sieht er wieder den verletzten Ausdruck in Dannys Gesicht vor sich und mit einem Mal fühlt es sich falsch an.
„Hat du jetzt erst Schulschluss?“, fragt sie überrascht.
Nein. Aber das kann er ihr ja schlecht sagen. Jade ist diejenige die unter der Woche am längste außer Haus ist. Ihre Schule liegt in Queens. Eine reine Mädchenschule, deshalb der weite Weg. Sie fährt jeden Morgen mit dem Zug und kommt erst kurz vor dem Abendessen zurück. Er hat gehört, wie sich einige Mädchen aus der Unterkunft darüber unterhalten haben. Jade hat ein Problem mit Männern und Jungen im Allgemeinen. Er merkt davon grade nichts, aber er weiß ja auch nicht, wie schwerwiegend dieses Problem wirklich ist und wie es sich äußert. Obwohl eines der anderen Mädchen sagte, sie würde jeden Kontakt mit dem anderen Geschlecht so gut wie möglich vermeiden.
„Na, ja …“, er beschließt das es keinen Sinn macht sie anzulügen „eventuell zögere ich gerade auch nur meinen Rauswurf hinaus.“
Denn das ist es was er, wenn er ehrlich ist, befürchtet. Er kann sich nicht vorstellen, dass irgendjemand im Heim besonders angetan von seinem Verhalten sein wird. Und er kennt die Konsequenzen für wiederholtest Fehlverhalten: Rauswurf. Verdient hätte er es ja. Mal ehrlich. Erst die Nummer heute Morgen und dann hat er auch noch glatt den ganzen Tag geschwänzt.
„Was, wieso?“
Jade klingt erschrocken.
„Mach dir keinen Kopf, Jade.“
„Du kennst meinen Namen?“
Sie klingt überrascht.
„Sicher“ er zieht eine Augenbraue in die Höhe, „warum auch nicht?“
„Die meisten Menschen erinnern sich nicht an mich.“
Er blickt irritiert zu ihr.
Ihr leuchtend pinkes Haar ist vorne länger als hinten und auf der rechten Seite hat sie ein paar Strähnen zu einem kleinen Zopf abgeteilt. Auf ihrem kanariengelben T-Shirt hat sie – wohl mit einem Edding – einen Smiley gezeichnet, der dem Betrachter die Zunge herausschreckt. Der Smiley erinnert Xander an die Band Nirvana. Selbst ihre Jeans ist auffällig, denn sie ist am linken Hosenbein über und über mit bunten Aufnähern versehen. Er schüttelt leicht amüsiert den Kopf. Ausgerechnet dieses Mädchen will ihm erzählen, dass man sich nicht an sie erinnert?
Sie lächelt verlegen, als sie hinzufügt:
„Na, ja. Zumindest an meinem Namen erinnern sich die meisten Menschen nicht.“
„Wirklich? Dabei passt er irgendwie ziemlich gut zu dir.“
Sie lacht. Selbst ihr Lachen ist leise und sanft. Es ist ein bisschen merkwürdig wie dieses ruhige Wesen im Kontrast zu ihrer grellen Erscheinung steht. Noch merkwürdiger findet er allerdings, dass er das sympathisch findet.
„Mein Name passt also zu mir? Witzig, das gleiche habe ich vor ein paar Tagen über Nile gedacht.“
„Nile?“
„Seid ihr nicht befreundet? Ich dachte, weil ihr euch letztens unterhalten habt.“.
Nile ist Student. Er kommt aus Schottland und er absolviert ein Schlagzeug Studium hier in den USA. Das weiß er, weil Nile sich tatsächlich mit ihm unterhalten hat. Nun, eher ein Monolog. Es gilt ja: So wenig Kontakte wie nur irgend möglich. Er hat zumindest davon abgesehen sich direkt zurückzuziehen.
„Freunde ist vielleicht ein bisschen viel.“
„Ich finde jedenfalls sein Name passt zu ihm auch… auch wenn er mir ein bisschen Angst macht.“
„Angst?“ Xander lächelt milde.
„Jemand der vom New Yorker U-Bahn System überfordert ist, wird wohl nicht so gefährlich sein. Er kann einen jedenfalls nicht so schnell verfolgen.“
Sie kichert. Er freut sich darüber, dass sie wegen ihm lacht.
„Woher weißt du das? Ich meine, er muss doch jeden Tag mit der U-Bahn zu Uni, oder nicht?“
„Stimmt. Aber das Semester hat ja gerade erst angefangen. Davor… zumindest bei seiner ersten Fahrt war er echt überfordert.“
Xander muss selbst grinsen, als er daran denkt, wie Nile ihm das erste Mal begegnet ist. Völlig planlos stand er da vor dem Fahrplan. Gott, wie lange ist das her? Dass er sich überhaupt an diese Situation erinnert. Damals dachte er, Nile müsse bescheuert sein, gemessen an seinem Ziel. Und jetzt ist er selbst genau dort, wo er nie sein wollte. Im Gegensatz zu seinem, scheint Niles Leben in sehr geordneten Bahnen zu verlaufen, wenn er sich ein Studium im Ausland leisten kann. Er wäre damals nie darauf gekommen, dass er einen Studenten – die sehen ja meistens nicht aus wie Punks - vor sich hat, der gerade versucht sich in seiner neuen Umgebung zu Recht zu finden. Im Nachhinein ist er jedenfalls echt froh, dass er damals davon abgesehen hat, ihm sein Portmonee abzuziehen. Ob Nile sich eigentlich an ihre erste Begegnung erinnert? Er hat jedenfalls kein Wort darüber verloren, als er vor ein paar Tagen seinen kleinen Monolog gehalten hat.
Dann biegen sie um die Ecke zum Tellmanns Square und Xander lässt sich ganz bewusst zurückfallen. Wenn er ehrlich ist, würde er gerade alles andere lieber machen, als das Wohnheim zu betreten. Man könnte meinen Jade wüsste, dass er mit dem Gedanken spielt einfach wieder umzudrehen, denn sie bleibt demonstrativ vor der Eingangstür stehen und wartet auf ihn. Mist. Sie klingelt und er folgt ihr, gleichsam er die andere Richtung bevorzugen würde. An der Treppe trennen sich ihre Wege.
Das erwartete Donnerwetter bleibt vollkommen aus. Xander kann es immer noch nicht fassen, als er einige Stunden später in seinem Bett liegt. Gleichzeitig fühlt er sich wahnsinnig mies. Vielleicht sollte er mit Mike reden. Der weiß vermutlich einfach noch gar nicht Bescheid. Obwohl es zumindest für sein langes fern bleiben Ärger hätte geben müssen. Aber, dass er den gesamten Schultag geschwänzt hat, weiß der Betreuer vermutlich noch gar nicht. Im Gebäude ist es still, als Xander die Treppe herunterschleicht um mit Mike zu reden. Doch, kaum betritt er den Flur hört er Stimmen. Die eine ist Mikes und die andere gehört zu Charlotte, der Betreuerin. Er hat gar nicht mitbekommen, dass sie gekommen ist, heute Mittag war jemand anderes im Haus. Er nimmt nur Fetzen auf, um das gesamte Gespräch zu verstehen, müsste er näher herantreten. Es reicht aber um zu verstehen, dass es um ihn geht. Ihm wird klar, dass Mike längst weiß, dass er die Schule geschwänzt hat und die Bruchstücke reichen auch aus, um zu verstehen, dass Mike ihn weder rausschmeißen möchte, noch überhaupt wollte, dass irgendwer von der Geschichte erfährt. Aber warum?
Diese Frage scheint Charlotte sich auch zu stellen. Er muss gar nicht jedes Wort verstehen, er merkt auch so wie sauer sie ist. Sie droht Mike, dem Träger Bescheid zu geben. Er soll an seinen Job denken und sich entscheiden, was ihm wichtig ist. Schließlich soll er einmal überlegen wie ungerecht er gerade den anderen Jugendlichen im Haus gegenüber ist. Der Junge – so nennt sie ihn, na vielen Dank – hat bisher nur Ärger gemacht. Sein Verhalten sei anmaßend und undiszipliniert und da draußen gäbe es genug Jugendliche, denen es ernst sei, mit ihrem Wunsch, ihr Leben in den Griff zu bekommen. Er schluckt, sie ist also davon überzeugt er würde das hier ganz ohne Sinn und Verstand tun. Er will gar nicht. Vielleicht hat sie Recht. Er kann nicht mehr hören, was Mike darauf erwidert, denn er ist schon wieder auf den Weg, zurück in sein Zimmer. Er wird Mike die Entscheidung einfach abnehmen. Er hat hier nicht zu suchen.
Minuten später ist er mit seiner Tasche unten an der Eingangstür. Sie ist nicht angeschlossen. Vermutlich weil Charlotte und Mike beide im Haus sind. Oder aber, weil sie über ihren Streit vergessen haben die Tür zu verriegeln. Wie auch immer. Er schlüpft fast lautlos hinaus. Ins Dunkel der Nacht. Am Himmel sind wieder keine Sterne zu sehen, aber eine eigentümliche Ruhe breitet sich in ihm aus. Es ist, als wäre er bisher unter Wasser gewesen. Noch nah genug an der Oberfläche, um zu erkennen was vor sich geht, aber zu weit entfernt um etwa tun zu können. Endlich kann er wieder frei atmen.
Er schaut nach links und rechts. Er muss nur noch entscheiden, in welche Richtung er gehen soll, da kommt Nile um die Straßenecke gebogen. Das unbekümmerte Pfeifen ist unverwechselbar. Bevor er überhaupt darüber nachdenken kann, wie er sich am besten unauffällig verdrücken könnte hat der junge Schotte ihn schon entdeckt.
„Alexander?“
Okay, er erinnert sich offensichtlich an ihre Begegnung in der U-Bahn, denn er hat sich ihm seither nicht mehr mit Namen vorgestellt und von Mike und allen anderem im Heim wird er Xander genannt, weil dass der Name ist, den er beim Aufnahmegespräch angegeben hat.
Nile kann eins und eins zusammenzählen. Er mustert Xander mit einem kurzen Blick und sieht die Tasche, die er über der Schulter trägt, kurz an bevor er fragt:
„Du verschwindest also?“
Gott, verdammt. Wieso kommt er in letzter Zeit eigentlich nirgend ungesehen weg. Zur Antwort zuckt er also mit den Schultern.
„Sieht so aus“, murmelt er nur.
Nile zieht eine Augenbraue in die Höhe.
„Wohin?“
Wieso glaubt er bitte, dass ihn das irgendetwas angeht?
„Ich meine“, setzt er erneut an, „so übel ist es hier ja nicht.“
Xander sieht sich um. Ist das hier ein Fall von versteckter Kamera? Ein schlechter Scherz?
„Ah, ja. Gut zu wissen.“
Er geht an ihm vorbei. Als ob Nile wüsste, wie es hier ist. Der hat echt gut reden, schließlich hat er ganz andere Voraussetzungen. Er will gerade die Straße überqueren und um die Ecke verschwinden, als ihn Niles Stimme zurückhält.
„Mike macht sich echt Sorgen, weißt du das überhaupt? Oder interessiert es dich schlichtweg nicht?“
Er bleibt stehen. Muss den Klos der sich in seinem Hals bildet herunter schlucken. Fragt nur:
„Und was bitte lässt dich glauben, dass ich ihm solche Sorgen bereite, wie du sagst?“
Nile schüttelt erst den Kopf, schnalzt dann mit der Zunge. Es ist ein Laut der Missbilligung.
„Ganz einfach, man müsste Taub sein, um ihn im Hof nicht in seinem Büro telefonieren zu hören. Und mit diesem Jesse telefoniert er ständig und immer wieder geht es um dich. Wenn er sich keine Sorgen machen würde hätte er dich außerdem spätestens heute rausschmeißen können. Ich wohne vielleicht nur oben drüber, aber wenn du glaubst man bekäme da nichts mit, na dann, gute Nacht.“
Er ist überrascht und verwirrt gleichermaßen. Irgendwie wird ihm gleichzeitig heiß und kalt. In seinem Magen kribbelt es ein bisschen. Mike spricht mit Jesse – und mal ganz davon abgesehen, dass es eigentlich sicher sowas wie eine Schweigepflicht gibt – das bedeutet, es ist Jesse nicht egal und Mike, wie Nile so treffend bemerkt hat, offensichtlich auch nicht.
„Meine Güte“, Nile fährt sich durch den vor Haargel strotzenden roten Iro „du glaubst echt es ist jedem egal, oder? Hast du nie gelernt, dass es Menschen gibt, die sich um einen Sorgen. Die einem nichts Böses wollen?“
Xander gibt Nile zu verstehen, dass er nicht darüber reden möchte, aber gleichzeitig geht er auch nicht und irgendwie Enden sie nebeneinander auf der Mauer vor dem Heim und Nile erzählt wieder, von allen möglichen Dingen. Seinem gerade begonnen Studium, von seiner kleinen Schwester, an die Jade ihn erinnert, wenn sie unten am Fenster steht und durch die Vorhänge späht, weil sie glaubt er würde das nicht sehen oder merken und auch seinem Wunsch eine eigene Band zu gründen. Der Grund warum er sich überhaupt für ein Studium in den USA beworben hat.
Irgendwann mitten drin ist Ginger dazu kommen. Ginger! Der Kater ist einfach lässig um die Ecke stolziert, als wäre es das normalste der Welt und hat sich vor die Mauer gesetzt. Als hätte er genau gewusst, wo er nach Xander suchen muss. Dabei ist ihre letzte Begegnung Wochen her. Xander hätte sich fast vor Freude auf den Kater gestürzt während dieser nur vorwurfvoll gemaunzt hat. Nile ist in schallendes Gelächter ausgebrochen und hat ihn nur gefragt, ob der Kater zu ihm gehört. Xander erfährt, dass er schon seit zwei Wochen immer wieder hier herum streunt und das Nile angefangen hat ihn zu füttern, weil der kleine Strolch ihm leidgetan hat. Xander nimmt die getigerte Fellnase hoch und Ginger schnurrt auf seinem Schoß, als hätte er nie etwas anderes getan.
„Wir unterhalten uns gerade nur, damit ich nicht gehe, oder?“
„Stimmt. Na ja, fast und weil ich nach unserem ersten Treffen beschlossen habe das wir Freunde sein könnten. So und jetzt gehst du bitte wieder da rein, bevor irgendwer bemerkt, dass du nicht da bist.“
Nile verspricht noch, dass er Ginger – der faucht als Xander ihn abrupt absetzt – unauffällig nach oben in seine WG schmuggeln wird. Dann trennen sich ihre Wege und der Schwarzhaarige schleicht leise den Weg zurück, den er vor nicht allzu langer Zeit gekommen ist.
Eine weitere Woche verstreicht und ehe Xander sich versieht ist es Freitag und er muss sich mit dem Gedanken anfreunden in ein paar Stunden mit einem Haufen wildfremder Leute im Kreis zu sitzen und vorzugeben er hätte nichts Besseres zu tun als sein bescheidenes Leben Revue passieren zu lassen. Den ganzen Vormittag über ist er nervös. Das hat schon in der Schule begonnen und die Tatsache mit Niemandem darüber reden zu können macht es nicht besser. Immerhin hat er sich, - auch auf Niles gutes Zureden hin – dazu aufgerafft, sich mit Daniélle auszusprechen und auch mit Jade versteht er sich ziemlich gut. Er hat tatsächlich das Gefühl sie könnten Freunde sein. Irgendwann. Jetzt vielleicht noch nicht. Aber irgendwann eben. Trotzdem oder genau deshalb, sollte er besser nicht mit der Tür ins Haus fallen. Er hat sich nicht einmal getraut Daniélle zu sagen, wo er wohnt, als dieser gefragt hat und wie viel Nile letztendlich durch Gespräche weiß, die er – wie er selbst sagt natürlich nicht belauscht – kann Xander nur erahnen. Jade kann es sich vermutlich denken und trotzdem möchte er sie nicht mit seinen Sorgen belasten, sie hat definitiv selbst genug, sonst wäre sie nicht hier. Beim Abendessen bekommt er keinen Bissen herunter und als Mike ihn mitnimmt, beim nächsten Mal muss er mit Bus fahren, ist er so nervös, dass er sich kaum auf den Weg konzentrieren kann. Autos und Straßen, die Menschen und Häuser ziehen wie Nebelschwaden an ihm vorbei.
Es ist genauso beschissen, wie er es befürchtet hat. Nein, eigentlich ist es noch schlimmer. Denn in dieser ach so tollen Therapiegruppe gibt es eigentlich nur zwei Sorten von Teens, nämlich die der Sorte „Ich-habe-gar-keine-Schuld-und-will-es-ja-auch-nie-nie-wieder-tun“ und diejenigen mit der „Ach-fuck-off-wir-sehen-uns-nach-meinem-nächsten-Schuss“ Mentalität. Glänzende Voraussetzungen. Und er sitzt mittendrin und soll sich auch noch vorstellen und beteiligen. Natürlich nur wenn er will. Will er nicht. Dass ganze Prozedere dauert anderthalb Stunden und er war selten so froh Mike zu sehen, als dieser ihn endlich abholt.
„Und wie war’s?“
„Fantastisch.“
„Und jetzt bitte mit ein bisschen weniger Sarkasmus.“
„Scheiße.“
„Na, wenigstens bist du ehrlich.“
Er muss unweigerlich grinsen und Mike fängt an zu lachen. Xander sitzt neben ihm auf dem Beifahrersitz und kann nur einen Augenblick später sehen wie sich Mikes Blick wieder konzentriert auf die Straße richtet. Dabei beißt er sich auf die Lippe. Dann murmelt er:
„Jesse wollte eigentlich vorbei kommen, aber ihm ist wohl etwas dazwischen gekommen. Vielleicht magst du ihn gleich mal anrufen? Er freut sich sicher, wenn er zumindest von dir hört.“
Jesse wollte vorbeikommen. Aber er ist es nicht. Xander weiß nicht, ob er sich darüber freuen soll oder ob es ihn irgendwie nur deprimiert.
„Ich weiß nicht. Vielleicht.“
„Nicht vielleicht. Tu’s ruhig. Ich gebe dir mein Handy.“
So sitzt Xander also später mit Mikes Handy in der Hand auf der Mauer und drückt zögerlich auf den kleinen grünen Hörer. Ein Freizeichen ertönt, aber es dauert eine Weile bis sich etwas auf der anderen Seite der Leitung tut. Es dauert so lange, dass Xander fast dazu neigt einfach wieder aufzulegen, weil ohnehin keiner ran zu gehen scheint, doch dann ertönt Jesses Stimme durch den Hörer.
„Mike?“, die Stimme klingt gepresst und hektisch als wäre Jesse über alle Maßen gestresst. Wer weiß, eventuell ist er das ja auch. Xander ärgert sich darüber, dass er daran zuvor noch gar keinen Gedanken verschwendet hat. Natürlich hat Jesse zu tun. Er studiert schließlich.
„Tut mir leid, ich wollte dich wirklich nicht stören.“
„Xander?“
Augenblicklich wird die Stimme weicher. Das ist der Jesse, den er kennt.
„Ja, ehm, ich wollte eigentlich nur mal verlauten lassen, dass ich es noch nicht vergeigt habe und immer noch da bin.“
Jesse lacht leise. Er kann ihn fast Grinsen sehen.
„Etwas anderes habe ich auch nicht erwartet. Sag, wie geht‘s dir?“
„Hmm, ganz gut, würde ich sagen. Die Leute hier sind nur halb so schlimm wie man meinen könnte“, antwortet der Achtzehnjährige vage. Er weiß nicht ganz so genau, wie er sich fühlt. Einerseits ist es hier gar nicht so schlimm, andererseits ist es einfach anstrengend und ungewohnt.
„Wow, wenn das aus deinem Mund nicht fast ein Kompliment ist. Also hast du dich von der Grippe wieder erholt? Das ist gut. Ich meine, ich will ja nicht sagen ich hab’s geahnt, aber … Spaß beiseite. Wie steht’s mit Kontakten? Schon Freunde gefunden?“
Irgendwie hat Xander das Gefühl Jesse weiß mehr als er zugibt. Dennoch gibt er bereitwillig Auskunft:
„Da gibt es schon ein paar Leute in meinem Alter mit denen man reden kann, aber Freunde würde ich das jetzt nicht nennen.“
„Oha, Leute in deinem Alter, jetzt fühl‘ ich mich echt alt, Xander. Aber weißt du was, du solltest …“
Was er sollte erfährt er allerdings nicht, denn plötzlich wird es irgendwie hektisch am anderen Ende des Hörers. Jesse meint nur, seine Mitbewohnerin käme nach Hause und er müsse jetzt auflegen, weil er versprochen habe zu kochen und das ganz vergessen hätte. Er verabschiedet sich nicht einmal richtig, sondern sagt nur, sie würden sich demnächst Sprechen und schon ist die Leitung tot. Nur ein gleichmäßiges Tuten erinnert daran, dass er gerade eben noch mit jemandem telefoniert hat. Xander ist völlig perplex. Jesse hat eine Mitbewohnerin? Er hat das nicht einmal gewusst. So wie er vermutlich vieles von Jesse nicht weiß.
Eine Stunde später liegt er in seinem Bett. Irgendwie kann er wieder einmal nicht schlafen. Er ist unruhig und desto länger er darüber nachdenkt umso mehr ärgert es ihn, dass er keine fünf Minuten mit Jesse gesprochen hat. Es ist ein merkwürdiges Gefühl, doch ihm wird klar, er hätte Jesse gerne mehr erzählt und er vermisst seine Nähe. Da fällt ihm die Reisetasche im Schrank wieder ein, die ja eigentlich Jesse gehört, ist da nicht ein Adressanhänger dran? Xander springt auf und eher er sich versieht hat er die Tasche aus dem Schrank geholt. Er hat natürlich keine Ahnung, ob die Adresse aktuell ist, aber es ist auf jeden Fall eine New Yorker Adresse und es ist hier in Manhattan. Die Chancen stehen schon mal gut und kurzer Hand beschließt Xander, Jesse morgen einfach mal einen Besuch abzustatten. Vielleicht können sie dann endlich einmal in Ruhe reden. Auch über den Vorfall in Wisconsin und er erinnert sich nur zu gut an die Fahrt zurück. Unweigerlich hat Xander wieder dieses Prickeln auf den Lippen, es ist doch wirklich zum verrückt werden!