Unter Druck
Jesse
Er legt auf als er hört wie sich der Schlüssel im Schloss dreht. Cassie kommt heim. Sie war bei Alisson. Sie hat ihn zwar gebeten mitzukommen, aber er hat sich irgendeine Ausrede einfallen lassen weshalb das nicht geht, die ihm jetzt schon nicht mehr einfallen will. Ja, das ist erbärmlich und alles andere als nett. Dem ist er sich bewusst. Er weiß auch, dass er Xander gerade mehr als nur unschön abgewürgt hat, aber was soll er sonst machen? Oder vielleicht wäre die bessere Frage: Warum hat er bloß vorher nichts gemacht? Wie konnte er sich selbst überhaupt in diese bescheuerte Lage bringen? Und wieso beendet er es nicht ganz einfach? Die Lösung all seiner hausgemachten Probleme wäre den Kontakt zu Xander jetzt abzubrechen. Cassie müsste nichts davon erfahren und Xander ebenso wenig. Nur das er das nicht kann. Obwohl der Jüngere ihn ohnehin für ein riesengroßes Arschloch halten wird, aber vielleicht würde er sich so zumindest nicht so maßlos verraten und verarscht vorkommen, wie er es wird, wenn er von seiner Verlobten erfährt. Jesse weiß selbst nicht, wieso er, diesen Punkt betreffend, überhaupt gelogen hat. Er weiß auch nicht, weshalb er Xander überhaupt geküsst hat. Zweimal. Es hat sich einfach richtig angefühlt in diesem Moment. Oder in diesen beiden Momenten, wie man es nimmt. Gut möglich das er aber einfach nur nach einer Ausrede für sein grenzdebiles Verhalten sucht. Er hätte es einfach nie tun dürfen. So einfach wäre das gewesen. Er weiß es ja. Genau, das ist das Problem. In diesen Momentfragmenten war es vielleicht richtig, aber jetzt fragt er sich, wie er nur so dumm sein konnte. Wann ist er eigentlich zu so einem verlogenen Arschloch mutiert? Er belügt alle. Xander. Cassie Am meisten vielleicht sich selbst.
Er zuckt erschrocken zusammen, als ihn eine Hand an der Schulter berührt.
„Ich wollte dich nicht erschrecken, aber du stehst hier so Gedankenversunken in der Küche.“
Es ist Cassie. Natürlich. Wer sonst?
„Tut mir leid, ich habe nur nachgedacht. Hab‘ dich gar nicht kommen hören. Wie war‘s bei Ally?“
Er dreht sich zu ihr um und versucht ihr ein strahlendes Lächeln zu schenken, auch wenn er sich absolut nicht danach fühlt.
„Nett. Nachgedacht? Mit dem Handy in der Hand? Hast du vor noch jemanden anzurufen?“
Sie zieht kritisch eine Augenbraue in die Höhe.
„Ach, das. Ich hab‘ nur kurz mit Jo telefoniert. Du weißt doch, er ist immer unterwegs und da erreicht man ihn ja fast nur über sein Handy.“
Er lächelt noch verkrampfter. Schon wieder lügt er.
Sie nickt.
„Hast du ihn erreicht?“
„Hmm? Ehm, ja.“
Wieder nickt sie, dieses Mal langsamer.
„Ja, Zuhause konntest du ihn ja nicht erwischen. Er arbeitet ja gerade. Alisson und ich waren im Restaurant. Du weißt doch, dass sie noch immer eine Schwäche für ihn hat… das er da ran geht? Er hat echt Nerven.“
Jesses lächeln fällt. Sie weiß es, denkt er. Doch dann dreht sie sich um, als wäre nichts gewesen. Er ist erleichtert und fühlt sich gleichermaßen schäbig. Langsam folgt er seiner Verlobten ins Wohnzimmer, die sich offenbar erschöpft auf die Couch sinken lässt. Den Kopf lässt sie über die Sofakante baumeln. Ihr dunkel braunes Haar fällt wie seidige Wellen auf den Boden hinab. Die Augen hat sie geschlossen. Die Lippen sind leicht geöffnet. Sie ist wunderschön. Jesse weiß es und er sieht es, aber er fühlt es nicht. Gerade in diesem Augenblick fühlt er eigentlich gar nichts. Genauso war es vor ein paar Tagen, als er erfahren hat, dass sie schwanger ist.
Das war irgendwie ein Horrorszenario. Ja, er weiß, das ist das Letzte, was es sein sollte, wenn man erfährt, dass man Vater wird. Vor allem, weil Cassie trotz der schwierigen Situation eigentlich glücklich war. Er hat es kaputt gemacht. Aber das war ein Schlag ins Gesicht. Er hat nicht damit gerechnet. Das sie ungeschützten Sex haben kommt eigentlich so gut wie nie vor – ja, nie wäre besser gewesen -, noch dazu nimmt Cassie die Pille, eine Schwangerschaft ist somit die unglücklichste Verkettung von Ereignissen die irgendwie möglich ist, aber Tatsache ist, so ist es jetzt. Jesse weiß sogar ziemlich genau welcher Tag im November es gewesen sein muss. Der Tag ihrer Verlobung. Als die Welt noch in Ordnung war. Sie waren so euphorisch. Einfach glücklich. Da war es egal, dass eben kein Kondom mehr da war. Hätte er zu diesem Zeitpunkt gewusst, dass Cassie wegen des Prüfungsstresses in den Wochen zuvor Johanniskraut für ihre Stimmung genommen hat, dann wären sie jetzt vermutlich nicht in dieser Situation. Nur leider ist es für jedes mögliche ‚Wenn-Szenario‘ zu spät. Es stellt sich ja eigentlich gar nicht erst die Frage, wie es jetzt weitergeht. Cassie könnte dieses Kind nie abtreiben und Jesse würde das auch nie von ihr verlangen. Dieses kleine Wesen kann ja nichts für seinen Fehler. Fakt ist auch, dass Cassies Vater außer sich vor Wut sein wird, wenn er es erst einmal erfährt. Einzig und alleine ihre Verlobung wird ihn beruhigen. Jesse kann das nur bedingt nachvollziehen. Sicher, er ist schließlich Pastor, für ihn gibt es nichts Schlimmeres als ein uneheliches Kind. Er wird sie sehr wahrscheinlich sogar selbst trauen wollen und das so bald wie möglich. Da ist er sicher.
Er bewegt sich vom Türrahmen weg, an dem er festgewachsen zu sein scheint und merkt, dass Cassie eingeschlafen ist. Ihr Atem geht gleichmäßig aber nicht einmal im Schlaf sind ihre Züge in den letzten Tagen entspannt. Es geht ihr mindestens so Elend, wie er sich fühlt. Er geht auf sie zu, bleibt wieder unschlüssig im Raum stehen, bevor er sich vor dem Sofa auf die Knie fallen lässt. Er fühlt sich so müde und erschöpft. Emotional in einem Tiefseestrudel gefangen. Langsam streicht er ihr über die, wohl noch von der Kälte draußen, geröteten Wangen. Sein Blick ruht auf ihr und doch will sich das altbekannte Gefühl, dieses Flattern, einfach nicht einstellen. Er gibt es auf, seufzt und erhebt sich. Er greift unter Cassies schlafenden Körper und trägt seine Freundin in ihr gemeinsames Schlafzimmer. Dort breitet er die Decke über sie aus, bevor er in die Küche geht um das Abendessen zu kochen.
Am nächsten Morgen schläft Cassie noch friedlich, als Jesse sich auf den Weg zur Uni macht, samstags hat er zwar keine Vorlesungen, aber sein Büchereidienst wartet. Er wird seine Verlobte vor dem Abend auch nicht widersehen, falls sie ihm nicht bei seiner Schicht im „Ma Maison“ besuchen kommt. Da muss er nämlich direkt nach der Uni hin, während Cssie in ein paar Wochen ihr Anerkennungsjahr an der Baker Elementary School beginnen wird, und mit der Uni seit Beginn des neuen Jahres durch ist. So lange hat sie frei, aber vermutlich braucht sie diese freie Zeit auch erst einmal und wenn Jesse ehrlich ist, weiß er nicht genau, was die Schwangerschaft für Cassies berufliche Karriere bedeutet. Er weiß auch noch nicht, wie sie sich das alles eigentlich leisten wollen. Aber irgendwie muss es gehen und Jesse weiß, auch wenn sein Vater nicht begeistert sein wird, er wird sie finanziell unterstützen. Das heißt, noch mehr, als er es jetzt schon tut. Wenn es nach ihm gegangen wäre, hätte Jesse gar nicht nebenbei arbeiten sollen. Sein Vater wollte damals schon die gesamten Kosten tragen, doch Jesse hatte das Gefühl, dass wenn er schon nicht BWL studierte, wie sein Vater sich das erhofft hatte, er zumindest seinen Teil dazu beitragen sollte. Außerdem gefiel ihm der Gedanke nicht, seinen Eltern auf der Tasche zu liegen, aber in den nächsten Monaten würde das vermutlich unumgänglich werden. Er konnte wohl von Glück reden, dass seiner Familie diese Art der Unterstützung möglich war. Besser macht es den Gedanken allerdings auch nicht. Gott, er wird es seine Eltern bald sagen müssen. Mit schweren Gedanken verlässt er die Wohnung so leise wie möglich, um Cassie nicht zu wecken.
Nach der Uni fährt er direkt zum Café. Als er sich noch schnell im Umkleideraum umziehen will, staunt er nicht schlecht, als er Jorells Rucksack in der Ecke erspäht. Entweder hat sein bester Freund einmal mehr, gedankenverloren, seine Tasche liegen lassen, oder aber er arbeitet schon wieder. Sein Blick schwenkt zum Dienstplan an seinem Spind. Doch, Jo arbeitet heute. Zumindest noch eine Viertelstunde. Dann endet seine Schicht. Er arbeitet heute, nicht gestern. Er schaut noch einmal genau hin, um sicher zu gehen, merkwürdig. Vielleicht ist Jorell ja abermals für einen Kollegen eingesprungen? Er schüttelt den Kopf. Eigentlich spielt das ja auch keine Rolle. Seine Schicht zieht so ziemlich an ihm vorbei. Er kann sich nicht so Recht konzentrieren, aber zum Glück schmeißt er kein Geschirr. Jorell hat er nur zu Beginn seiner Schicht einmal zugenickt. Er bedauert es, in den letzten Wochen kaum Zeit für den Jüngeren zu haben. Aber es wäre nun einmal denkbar unpassend gewesen hier her zu kommen und den Anfang seiner Schicht, noch dazu bei vollem Haus, mit quatschen zu verbringen. Nach fünf Stunden ist er allerdings froh sein weißes Hemd wieder gegen einen deutlich bequemeren Strickpullover eintauschen zu können.
„Hey, Jess!“
Er erschreckt fast zu Tode.
„Bei Gott, Jo. Jag mir doch nicht so einen Schrecken ein. Sag mal, was machst du eigentlich noch hier?“
„Na, was wohl? Ich habe auf dich gewartet. Was für ‘ne Frage.“
„Was? Jo, deine Schicht ist seit fünf Stunden zu Ende! Jetzt erzähl mir nicht, du hast die ganze Zeit hier gewartet.“
„Na, nicht hier. Im Hinterzimmer. Ich hab‘ schon meine Unisachen dabei, Jess. So wichtig bist du nun auch wieder nicht, dass ich mich hier fünf Stunden für nichts hinsetzten würde.“
„Trotzdem …“
Jesse kann es nicht fassen und freut sich doch insgeheim wahnsinnig. Jorell ist ein völlig verrückter Idiot, aber dafür liebt er seinen besten Freund. Wer würde sonst stundenlang freiwillig hier abhängen? Na, gut. Der Kuchen hier ist super, das Essen auch und eigentlich ist es hier auch echt gemütlich, aber dennoch. Als er Jorell seinen „Du-spinnst-doch“ Blick zuwerfen will, grinst der ihm überlegen entgegen. Das ist der Maßen entwaffnend, Jesse muss mit einem Mal lachen. Jo stimmt mit ein.
Sie machen sich gemeinsam auf den Weg zu Jesses Auto, wenn sein Freund schon so lange auf ihn gewartet hat, möchte er ihn zumindest eine Fahrt mit der Tube ersparen und ihn zum Wohnheim bringen. Gelinde gesagt hat Jo nämlich ein mittelschweres Trauma was dieses Gefährt angeht. Eine lange Geschichte. Als der junge Mann mit dem kupfernen Haar neben ihn in den Sitz gleitet, kann er sich einer Frage allerdings nicht enthalten:
„Sag mal, Jo, bist du gestern eigentlich für jemanden eingesprungen?“
„Auf der Arbeit? Nein, wie kommst du darauf? War Not am Mann? Sorry, aber ich hatte das beste Date meines Lebens. Also keine Zeit zum Arbeiten.“
Er erwähnt nicht weiter, dass Cassie und Alisson ihn gesehen haben wollen. Merkwürdig. Stattdessen fragt er:
„Immer noch Marie, oder hast du schon wieder eine Neue?“
„Was soll das denn heißen?“
Jo klingt entrüstet und beteuert, dass Marie die Frau seines Lebens ist. Jesse muss lachen. Er weiß nicht, wie oft Jo das schon gesagt hat. Übrigens auch schon über Alisson. Auch, wenn das lange her ist und nur von kurzer Dauer war.
„Nein, Mann. Ich meine es echt ernst. Mir ist noch nie so jemand wie Marie begegnet. Sie ist unglaublich. Klug. Witzig. Wort gewandt. Elle n'est pas délurée.
„Ehm, Jo?“
„Oh, ich meine, sie ist um keine Diskussion verlegen. Aber viel schlimmer, sie gewinnt sie auch noch.“
Jesse grinst vermutlich gerade so breit wie ein Honigkuchenpferd. So etwas hat Jo noch nie über eine Frau gesagt.
„Das klingt ernst.“
„Ist es, Mann. Ich habe vor ein paar Tagen ihre Mutter kennengelernt und, wow, die willst du nicht gegen dich aufbringen, Jess. Ich glaube sie zieht mir bei lebendigem Leib das Fell über die Ohren, wenn ich ihrer Tochter auch nur ein Haar krümme.“
Jesse lacht herzhaft auf.
„Oha, dann sollten wir beten, dass du Recht behältst und sie dieses Mal wirklich die Richtige ist.“
„Ganz sicher. Ehrlich.“
Jesse setzt Jo vor seinem Wohnheim ab, als der ihn fragt, ob er nicht zumindest noch mit rein kommen möchte.
„Auf einen Kaffee?“, fragt Jesse und zuckt dabei mit den Augenbrauen.
Jo beginnt prustend zu lachen.
„Oh, nein. Eher nicht. Hey, nur weil Typen jetzt offensichtlich auch eine Option für sich sind, heißt das nicht gleich, dass ich dich abschleppen möchte, denn falls dir ein klitzekleines Detail entgangen ist, ich bin immer noch hetero.“
„Und ich immer noch verlobt, aber danke für den Hinweis.“
Es kommt viel unfreundlicher zurück, als es sollte. Jo zieht scharf die Luft ein.
„Okay, Jesse. Was ist los?“
„Ich…, ach nichts.“
„Merde. Es ist nie nichts. Jesse, wenn du dir so unsicher bist, was deine Beziehung zu Cassie angeht und Kumpel, das bist du, dann wäre es vielleicht besser, wenn du ihr schonend beibringst, dass ihr vielleicht mal Abstand braucht. Verlobung hin oder her. Ich meine, sie will sicher auch keinen Mann heiraten, der sich seiner eigenen Gefühle nicht sicher ist. Und ich kenne Xander zwar nicht, aber so wie du den Jungen beschrieben hast, Mann, der wird auch keine Luftsprünge machen, wenn er erfährt, dass du verlobt bist. Was soll er denn denken? Und wenn du dir sicher bist, dann musst du das mit Xander, was auch immer das mit euch ist, verdammt schnell beende. Sonst kommt er sich verarscht und benutzt vor und ich denke nicht, dass du das willst.“
In Jesse flammt heiße Wut auf. Gott verdammt. Was weiß Jorell schon davon. Er hat schließlich jede Woche eine neue Bettgeschichte. Zwischen zusammengepressten Zähnen bringt er ein „Halt dich daraus, Jorell“ hervor.
„Hey. Du kannst doch so nicht weiter machen, Jess. Scheiße, wenn dir die Beziehung zu Cassie so wichtig ist, warum lässt du sie dir dann von irgendeinem dahergelaufenen Junky kaputt machen?“
Das bringt das Fass zum überlaufen. Das Blut rauscht in seinen Ohren, nur mit Mühe und dem aller letzten Funken Selbstbeherrschung kann er sich zurückhalten, als er mit bebender Stimme sagt:
„Nenn ihn nie wieder so, Jo. Nie wieder.“
Jorell schluckt. Jesse kann seinen Adamsapfel sehen.
„Jesse, ich…, ich verstehe es einfach nur nicht, okay? Rede doch einfach mit mir! Was ist es dann? Wenn er dir so-“
„Sie ist schwanger.“
Jetzt ist es raus.
„Was?“
„Cassie ist schwanger.“
„Oh, Gott. Jesse. Was zur Hölle tust du da bloß?“
Jo will noch mehr sagen, doch Jesse kann und will es nicht hören. Mit einem Ruck zieht er die bisher immer noch geöffnete Beifahrertür zu. Der Motor seines kleinen Smarts heult auf und seine Reifen quietschen, als Jesse Vollgas gibt. Er will einfach nur weg. Er braucht jetzt ganz sicher keine Moralpredigt. Das er mit seinem Verhalten im voll befahrenen New York beinahe einen Unfall verursacht ist ihm in diesem Moment ziemlich egal.
Als er die Tür zur Wohnung aufschließt ist es spät in der Nacht. Er ist stundenlang einfach nur umher gefahren. Sein Handy hatte er aus. Er brauchte einfach Zeit für sich. In der Wohnung brennt kein Licht. Cassie scheint schon zu Bett gegangen zu sein. Das ist vermutlich besser so. Er hat keine Ahnung, ob sie versucht hat ihn zu erreichen. So oder so wird sie aber nicht gerade begeistert von seinem Verhalten sein. Grund gütiger, nicht das sie denkt, er hätte sie sitzen lassen. Aber so etwas wird sie wohl hoffentlich nicht glauben. Das kann morgen nur eine Szene geben.
So leise wie möglich hängt er seinen Mantel an die Garderobe. Dieses Mal macht er einen weiten Bogen um die Topfpflanze im Wohnzimmer, die er schon einmal im Dunkeln fast mitgenommen hätte. Langsam beginnen seine Augen sich an die Lichtverhältnisse in der Wohnung zu gewöhnen, als er plötzlich grell geblendet wird.
Cassie steht im Türrahmen. Die Hand auf dem Lichtschalter. Der Blick ist nicht zu deuten und Jesse erschaudert unwillkürlich.
„Cassie“, murmelt er nur.
Er hat etwas völlig anderes erwartet. Dass sie ihn anschreit oder das sie völlig aufgelöst ist, aber nichts davon ist der Fall. Sie steht ganz ruhig da und betrachtet ihn. Ihr kommt kein Wort über die Lippen. Das macht Jesse nervös. Er hält die Stille nicht aus.
„Du bist noch wach.“
Eine lasche Feststellung. Aber er weiß nicht, was er sagen, was er denken soll.
„Warst du bei Xander?“
„Woher…“
„Oh, fantastisch. Also warst du bei ihm.“
„Was? Nein. Woher kennst du überhaupt diesen Namen? Hast du mit Jorell gesprochen?“
Er kann sich durchaus denken, dass ein bester Freund glaubt er müsste hier irgendetwas in die Hand nehmen. Verdammt.
„Oh, mit Jorell? Nett. Habt ihr in letzter deshalb so viel miteinander zu reden? Oh, Gott. Ist das irgendeine Dreiecksgeschichte. Wie gut für Alissom, dass sie ihn los ist.“
„Warte… was? Wovon reden wir hier eigentlich? Ich glaube, ich weiß nicht einmal, wovon du sprichst.“
Das weiß er wirklich nicht mehr. Diese ganze Situation ist völlig obskur.
„Weißt du nicht? Aber Xander kennst du schon noch, ja? Wirklich, ich muss sagen, er ist hübsch. So große braune Augen, fast ein bisschen zu feminin, oder? Ich meine, dafür, dass du jetzt offensichtlich auf Männer stehst. Und ein bisschen jung für dich, nicht? Wie alt ist er? 16. 17? Er war heute Mittag leider so kurz angebunden. Weiß er das wir verlobt sind?“
Er ist betäubt. Fühlt sich völlig starr. Wenn sie schreien würde, könnte er zurück schreien. Doch so hat er ihr nichts entgegenzusetzten. Sie weint nicht einmal. Sie wirkt völlig abgeklärt und Jesse kann nicht glauben, dass Xander hier war. Wie zur Hölle kommt er auf die Idee hier aufzutauchen und woher wusste er, wo er Jesse finden würde?
Cassie schüttelt ungläubig den Kopf. Ihre Hände sind zu Fäusten geballt, als sie fragt:
„Willst du nicht einmal irgendetwas zu deiner Verteidigung sagen?“ Ihre Stimme bricht zum Ende der Frage.
Jesse schluckt, sagt nichts und ihr treten Tränen in die Augen.
„Schlaft ihr miteinander?“
Die Stimme bebt. Cassie fängt an zu zittern.
Er schüttelt nur den Kopf.
„Gott, verdammt. Jesse. Sag etwas. Irgendetwas!“
Er kann seine eigene Stimme nicht finden.
Cassie blinzelt gegen die Tränen an.
„Ein Junge …,Jesse. Ein Junge. Warum?“
„Ich-, was auch immer er gesagt hat, Cassie, es hat nichts zu bedeuten. Er bedeutet mir nichts.“
Sie sieht ihm stillschweigend entgegen. Er zittert jetzt genauso wie sie. Die Temperatur im Raum scheint schlagartig gesunken. Er wünscht sich, er hätte es nie so weit kommen lassen. Er wünscht sich, Xander wäre ihm nie begegnet, denn dann wäre jetzt noch alles beim Alten und er wäre sicher nicht einmal auf die Idee gekommen, seine Beziehung zu Cassie in Frage zu stellen.
„Er bedeutet dir nichts, ja?“
Die Frage klingt so harmlos. Jesse würde gerne heulen.
Er zögert. Nur eine Sekunde.
„Ja.“
„Dann beende es, was auch immer es ist. Ich will ihn hier nie wieder sehen.“
Ihr Blick macht das deutlich. Jesse weiß er hätte es längst tun sollen. Wenn er nicht will, das alles was er sich bisher aufgebaut hat in die Brüche geht, dann darf und kann er Xander nicht wiedersehen. Er antwortet verhalten:
„Das werde ich.“
Sie fixiert ihn, bevor sie ihren Blick zum Wohnzimmer wendet.
„Noch was, kannst du heute Abend auf dem Sofa schlafen?“
Er nickt.
Am nächsten Morgen ist Cassie nicht in der Wohnung, als Jesse aufsteht. Auf dem Küchentisch liegt eine Nachricht.
Bin bei Brittany. Komme heute Abend wieder. Kümmere dich um die Sache.
Cassandra
Das ist deutlich. Jesse fühlt sich mehr als nur mies. Am liebsten würde er sich in der Wohnung verkriechen und nie wieder herauskommen. Es ist Sonntag und den verbringen Cassie und er normalerweise mit einer befreundeten Gruppe von Kommilitonen und anderen Studenten, aber Cassie ist ohne ihn unterwegs und er weiß, dass er mit Xander sprechen muss. Sobald wie möglich. Trotzdem bleibt er einfach auf der Couch liegen. Vielleicht ist das alles hier ja auch nur ein riesiger, völlig verrückter, Albtraum und er wacht jeden Moment auf. Jesse wünscht sich nichts sehnlicher. Fantastisch und weil er ein riesengroßer Vollidiot ist, kann er nicht einmal Jorell anrufen, um mit ihm darüber zu sprechen. Himmel, das hat er auch echt versaut. Wie soll er das wieder in Ordnung bringen? Er kann sich nicht einmal dazu motivieren aufzustehen und sich Frühstück zu machen. Er will am besten gar nichts mehr tun. Nie wieder. Wer nichts tut, kann auch nichts falsch machen. Er hört der Wanduhr dabei zu, wie sie mit ihrem gleichmäßigen Tick und Tack die Zeit todschlägt. Produktiver wird es heute wohl nicht mehr.
Nach einer weiteren Stunde des Nichtstuns beschließt er zu duschen. Möglich das er so den Kopf frei bekommt. Eine Dreiviertelstunde später sitzt er am Küchentisch und dreht unablässig das Ultraschallfoto in den Händen, mit welchem Cassie ihm ihre Schwangerschaft offenbarte. Das Bild stammt aus der 7.Woche. Es ist der erste Ultraschall. Einen Moment stutzt Jesse. Sollte Cassie nicht jetzt erst in der 7. Woche sein? Oder irrt er sich mit dem Tag. Verdammt. Er kann ja nicht einmal sicher sein, dass es der Tag ihrer Verlobung war. Das Mal davor haben sie es auch ohne Kondom getan, da war die Packung schon leer und Cassie hat betont sie würde schließlich verhüten. Du bist so ein Idiot, Jesse. Er kann sich das selbst nicht oft genug sagen, obgleich es nichts an der Situation ändert. Er schüttelt den Kopf. Er wird Vater. So oder so. Er muss aufhören sich etwas einzureden. Und in vier Monaten werden Cassie und er wissen, ob es ein Junge oder ein Mädchen ist. Egal welches Geschlecht, dieses Kind hat das Recht auf eine funktionierende Familie.
Er denkt unweigerlich an die Dinge, die Xander ihm in Wisconsin anvertraut hat. Xander hatte nie eine wirklich funktionierende Familie. Es fällt ihm immer noch schwer zu begreifen, was Xander widerfahren ist und obwohl er daran zweifeln könnte, ob alles was der Jüngere ihm anvertraut hat auch der Wahrheit entspricht, weiß er, dass es so ist. Nicht nur das Xander keinen Grund hatte ihn zu belügen – nicht so wie damals die Sache mit seinem Alter – es waren schlichtweg die Emotionen die der Achtzehnjährige gezeigt hat, als er von all diesen Dingen erzählt hat. Unwillkürlich denkt er an Lilly. Was täte er, wenn seine kleine Schwester ohne jede Spur verschwinden würde? Er weiß es nicht. Insgeheim aber, fragt er sich, wie viel schlechtes einem Menschen eigentlich wiederfahren kann, wie viel Pech man im Leben haben darf und wie viel ein Mensch wirklich erträgt. Er hat zwar versucht Xander mit dem Glas begreifbar zu machen, dass nach Regen immer auch Sonnenschein kommt, aber er gibt zu, er ist sich selbst nicht so sicher, ob es nicht doch einen Punkt gibt, an dem alles zu viel wird. Nein, falsch. Er weiß, es gibt diesen Punkt. Kein Schema X, jeder Mensch hat seine ganz eigenen Grenzen der Belastbarkeit, er weiß nur nicht, wie nah Xander dem Abgrund schon ist. Viel zu nah vermutlich. Grundgütiger, wenn Jesse nur daran denkt, wie viel der Junge eigentlich schon durchgemacht hat, nicht nur das Verschwinden seiner Schwester, sondern auch den Verlust der leiblichen, sowie der Stiefmutter und dazu noch einen gewaltbereiten, alkoholabhängigen, Vater. Es wäre vermessen zu behaupten, diese Dinge hätten ihn nicht geprägt. Sicher, es ist keine reine Entschuldigung, es erklärt aber doch zumindest vieles im Ansatz. Im Nachhinein ist Jesse wirklich erstaunt darüber, wie wenig beschönigend Xander ihn von allem berichtet hat. Er hat dabei nicht einmal versucht seine eigenen Fehler tot zu schweigen. Da waren aber auch einige Dinge die Xander überhaupt nicht benannt hat, die Jesse dennoch beschäftigen. Er ahnt, da gibt es etwas, das Xander nicht wagt auszusprechen. Zwischendurch, in dieser Nacht, hat er immer wieder Pausen gemacht. Zwei Sorten von Pausen, wenn Jesse sich zurückerinnert. Die einen hat er gemacht, wenn er von Emotionen überrollt wurde. Dann gab es noch solche, in denen er vollkommen ruhig war. Pausen, in denen er scheinbar überlegt hat, ob und was er noch erzählen kann. Sicher, Jesse kann es nur vermuten, aber eigentlich ist er sich ziemlich sicher, dass da noch mehr ist. Nur das er niemals erfahren wird was. Allein der Gedanke an Xander macht ihn unruhig. Er muss etwas tun, umso länger er hier sitzt und nachdenkt, desto nervöser macht ihn die Situation. Am besten er setzt sich an seine Hausarbeit, dann hat er zumindest etwas zu tun. Nach über zwei Stunden, ihm raucht mittlerweile der Kopf, schließt er erschöpft die Augen. Sein Kopf fühlt an, als würde er jeden Moment zerspringen. Er kann das Pochen an seiner Schläfe spüren. Heute ist einfach nicht sein Tag. Ein Tee hilft vielleicht. Während der Wasserkocher in der Küche brodelt holt er sein Handy. Seit gestern Nachmittag ist es nicht mehr an gewesen. Sofort öffnet sich ein Benachrichtigungsfeld auf dem Bildschirm. Cassie hat gestern offensichtlich nicht einmal versucht ihn zu erreichen, Jo hingegen schon – vier verpasste Anrufe – und dann ist da noch eine SMS von Mike.
Mike 10am
Jesse? Ist alles in Ordnung mit dir? Melde dich.
Er ignoriert die Nachricht geflissentlich. Selbst wenn er wollte, könnte er sich jetzt nicht darauf konzentrieren. So bleibt er Mike eine Antwort schuldig. Auch Jorell antwortet er nicht. Bis zum Abend bleibt seine Routine gleich. Am Schreibtisch sitzen und vorgeben etwas für die Uni zu tun, in die Küche wandern um sich einen Tee aufzubrühen und dann wieder zurück ins Schlafzimmer. Zwischendurch klingelt das Telefon und dann ebenso sein Handy. Auch das ignoriert er. Vier Tassen Tee und einen gefühlten Nervenzusammenbruch später erreicht ihn die nächste SMS.
Mike 9pm
Jesse? Melde dich, bitte. Xander hat nach dir gefragt. Was soll ich sagen? Du bist ja scheinbar nicht zu erreichen.
Jesse will es eigentlich vermeiden sich die Nachricht anzusehen, aber er tut es doch. Xander hat nach ihm gefragt. Wie mag das Gespräch zwischen Cassie und ihm ausgesehen haben. Was weiß er jetzt? Aber würde er nach ihm fragen, wenn er Bescheid wüsste? Jesse hat unweigerlich Xanders Gesicht vor Augen. Sieht braune Augen, die ihn vorwurfsvoll entgegen blicken. Jesse weiß, dass er es verbockt hat, er weiß es ganz genau, aber besser macht es die ganze Situation noch immer nicht. Er hätte Xander nie küssen sollen, aber er kann sich nicht helfen, selbst wenn er jetzt daran denkt, fühlt es sich nicht wirklich falsch an. Falsch fühlen sich ganz andere Dinge an, aber er wagt es nicht, sich Gedanken daran zu erlauben. Er muss das beenden. Er muss. Also schreibt er Mike eine Nachricht:
Jesse 9:05pm
Ich komme Freitag vor der Gruppe. Habe gerade etwas Stress. Tut mir leid.
Im Grunde genommen weiß er, es ist nur Zeitschinderei, weil er versucht die Situation so lange wie möglich hinauszuzögern und er weiß auch, Cassie wird nicht davon begeistert sein, wenn sie erfährt, dass er heute nicht mit Xander gesprochen hat, aber er muss seine Gedanken erst sortieren. Er will nicht in dieses Gespräch gehen und etwas Sagen und Tun, was er im Nachhinein ohne Ende bereuen wird, also nicht mehr, als er es ohnehin schon tun wird.
So ist es auch, als sie eine halbe Stunde später nach Hause kommt. Das erste, was sie fragt, als sie zur Tür herein kommt ist, ob er mit Xander gesprochen hat. Als er das verneint kann er den verletzen Ausdruck in ihren blauen Augen sofort sehen. Er beeilt sich, zu erklären, er könne das Gespräch erst am Freitag führen, weil Xander – er kann beobachten, wie sie bei diesem Namen regelrecht zusammenzuckt – nicht in der Stadt sei. Eine glatte Lüge. Schon wieder, aber er weiß, dass Xander unter der Woche sehr eingebunden in den Tagesablauf und Zeitplan der Wohngruppe ist und hofft, dass der Jüngere kein weiteres Mal hier vor der Tür stehen wird. Er bezweifelt es aber, schließlich weiß Xander von Mike ja höchstwahrscheinlich, dass er am Freitag kommen wird. Zudem weiß er von Mike, Xander hat eigentlich noch keine Freizeit unter der Woche, die er außerhalb der Wohngruppe verbringen darf. Er dachte aber auch, die Reglung gälte für das Wochenende, dementsprechend kann er sich nicht sicher sein. Er nimmt das Risiko dennoch in Kauf. Er braucht diese Zeit einfach noch. Cassies Blick ist skeptisch. Sie scheint nicht allzu begeistert, vergewissert sich noch einmal, dass dieses Gespräch am Freitag auch wirklich stattfindet und lässt das Thema dann auf sich beruhen. Er hat das Gefühl, sie würde ihm am liebsten tausende Dinge sagen, aber sie schweigt und er bringt es nicht über sich, sie darauf anzusprechen.
Die nächste Woche über ist die Stimmung zwischen ihnen mehr als nur unterkühlt. Ja, unterkühlt ist die Untertreibung des Jahrhunderts. Sie sprechen so gut wie gar nicht miteinander, wenn Jesse versucht mit seiner Verlobten zu reden, weicht sie dem Gespräch aus oder gibt nur einsilbige Antworten. Sie reden nicht über wichtige Dinge, zum Beispiel wie es weitergehen soll, wenn das Kind da ist, sie reden aber auch nicht über Kleinigkeiten, wie ihren Alltag. Sie reden einfach gar nicht mehr miteinander. Nach wie vor schläft Jesse auf der Couch. Langsam aber sicher bekommt er davon wirklich Rückenschmerzen, aber er hat es höchstwahrscheinlich mehr als nur verdient. Nicht höchstwahrscheinlich, er hat es verdient. Auch zu Jorell hat er in diesen Tagen keinen Kontakt und er fühlt sich zum ersten Mal seit Jahren einsam. Da ist niemand mit dem er Reden könnte. Jo hat sich seit letztem Samstag nicht mehr bei ihm gemeldet und Jesse ist schlichtweg zu feige, seinen Freund aufzusuchen. Gleichzeitig hat er das Gefühl, es verdient zu haben, alleine zu sein. So kommt der Freitag und Jesse glaubt seine Nerven bestehen nur noch aus hauchdünnen Seidenfäden. Die von glühenden Kohlen malträtiert werden und somit längst versenkt sind. Von Mike hat Jesse in der Woche erfahren, dass Xander um 15 Uhr Schulschluss hat und er beschließt den Achtzehnjährigen abzufangen. Mike meinte zwar, er dürfe Jesse aus Datenschutzrechtlichen Gründen nicht auch noch sagen, welche Schule der Schwarzhaarige derzeit besuche, aber Jesse vertraut darauf, dass es die nächste Schule im Bezirk sein wird. Vielleicht hat er ausnahmsweise, nach der letzten Zeit, einmal Glück. Am Freitagmorgen spricht Cassie das erste Mal seit fünf Tagen wieder mit ihm. Sie hat sogar Frühstück für sie beide gemacht. Sie sprechen nicht darüber, wie der Tag heute ablaufen wird, sie erwähnen auch Xanders Namen nicht, aber sie reden über einen Haufen belangloser Dinge. Gegen Nachmittag verabschiedet sich Jesse von seiner Freundin. Sie gibt ihm einen Kuss auf die Wange, bevor er zur Tür hinaus ist.
Er kommt sich mehr als nur bescheuert vor, wie er da an der Bushaltstelle, der Schule gegenüber, sitzt und doch tatsächlich glaubt, Xander könne hier jeden Moment vorbeikommen. Er ist wirklich ein Idiot. Vor etwa fünf Minuten war Schulschluss und von Xander ist weit und breit keine Spur. Selbst wenn Jesse hier richtig sein sollte, wer sagt eigentlich das Xander die Schule durch den Haupteingang verlässt? Außerdem sind das hier solche Massen an Schülern, da würde es Jesse auch nicht weiter wundern, wenn er den anderen einfach übersehen hat und er schon lange weg ist.
Doch dann taucht ein viel zu bekannter, wuseliger schwarzer Haarschopf – die Haare sind an einer Seite immer noch länger als an der anderen und der Pony fällt ihm ins Gesicht –vor seinen Augen auf. Aber Xander ist nicht alleine. Der Typ neben ihm, sticht Jesse ebenso in Auge. Ein Stück größer als Xander, dunkle Locken und ein Grinsen über beide Ohren. Der Latino macht wohl irgendeinen Scherz und er kann sehen wie Xander schief lächelt und den Kopf schüttelt. Xanders Haltung ist entspannt und locker, bis der andere einen Arm um ihn schlingt. Das Lächeln fällt von seinem Gesicht. Er tritt einen Schritt zurück und der andere Junge lässt sofort seinen Arm sinken. Er scheint sich zu entschuldigen, Xander winkt ab, bleibt aber doch auf Abstand. Aus irgendeinem völlig verqueren Grund erfüllt Jesse dieses Verhalten mit einer gewissen Genugtuung. Augenscheinlich stehen die beiden sich ja doch nicht so nahe. Er schüttelt über sich selbst den Kopf. Er wird offensichtlich verrückt. Verdammt, er sollte sich doch freuen, wenn der Jüngere Anschluss findet und Freundschaften schließt, oder nicht? Nur das er ein Problem damit hätte, wenn es mehr wäre. Was lächerlich ist. Er kennt dieses Gefühl, es ist dasselbe, wie damals. Wenn Casper und Cassie im Unterricht saßen, flüsterten, zusammen lachten und Jesse sich wie das fünfte Rad am Wagen fühlte. Immer und immer wieder. Er hat das so gehasst, aber er war auch nicht im Stande gewesen dem irgendetwas entgegenzusetzen. Eifersucht. Er ist eifersüchtig. Er schließt kurz die Augen, atmet tief durch. Er hat nicht einmal einen Grund dafür. Zwischen Xander und ihm ist nichts.
Als er die Augen wieder aufmacht, kann er sehen, wie Xander sich von seinem Gegenüber verabschiedet. Sie gehen getrennte Wege und Jesse erhebt sich von der Bank. Wenn er jetzt nicht aufpasst, ist Xander schneller weg, als er gucken kann. Auf der anderen Straßenseite kommt gerade ein Schulbus. Es kommt zum Gedränge und in der Menge verliert Jesse ihn aus den Augen. Verdammt. Er bleibt abrupt stehen. Was für ein Reinfall. Das war ja so klar, nicht einmal das funktioniert. Wäre ja auch zu einfach gewesen.
„Jesse?“
Jesse zuckt für einen Moment zusammen, dann dreht er sich um. Er hat Xander weder kommen sehen, noch hat er ihn gehört, aber nun steht er vor ihm.
„Hey.“
„Ehm… hey, was machst du hier?“
Xander hat den Kopf leicht schief gelegt, ein fragender Ausdruck im Gesicht. Aber auch ein sanftes Lächeln das seine Mundwinkel umspielt und beweist, dass er sich freut, Jesse zu sehen. Der fünfundzwanzigjährige fühlt sich jetzt schon hundselend und dabei haben sie noch gar nicht über die Situation gesprochen, die ihm solche Magenschmerzen bereitet. Xander sieht ihm immer noch fragend entgegen und Jesse wird klar, dass er ihm noch eine Antwort schuldig ist. Er atmet tief durch. Halte deine Gedanken zusammen, mahnt er sich selbst.
„Können wir reden?“
Xander zuckt unschlüssig mit den Schultern.
„Das tun wir gerade, oder?“
Bei diesen Worten wendet er den Blick für den Bruchteil einer Sekunde zur Digitaluhr am Busfahrplan. Natürlich, er hat sicher feste Zeiten in der Einrichtung, an die er sich halten muss. Daran hätte Jesse früher denken können. Er will Xander nicht in Schwierigkeiten bringen.
„Du musst sicher nach Hause“, stellt er fest.
In Xanders Blick liegt für einen Moment Irritation. Dann schüttelt er den Kopf.
„Ja, gleich.“
Plötzlich wird Jesse klar, dass er über das „nach Hause“ im Satz gestolpert ist. Er fühlt sich dort nicht Zuhause, Jesse weiß das und der Ältere ärgert sich darüber, dass er nicht nachgedacht hat, bevor er gesprochen hat.
„Nimmst du die Linie 23?“
Das müsste die U-Bahnlinie sein, die von ihrem Standpunkt aus auf direktem Wege zum Tellmanssquare führt. Doch Xander schüttelt den Kopf.
„Oh, welche denn dann?“
„Gar keine.“
„Gar keine?“, er zieht überrascht eine Augenbraue in die Höhe.
Xander wendet den Blick ab, tritt unruhig von einem Fuß auf den anderen.
„Ich gehe lieber zu Fuß?“
„Ist das eine Frage oder eine Feststellung?“
Xander fährt sich nervös durchs Haar.
„Eine Feststellung.“
Jetzt sieht es noch wilder aus und Jesse hat das verlangen selbst durch den schwarzen Schopf zu fahren. Er tut es nicht. Er harkt auch nicht weiter nach, aber er kann sich denken, dass mehr dahinter steckt. Einen Moment sehen sie sich schweigend in die Augen.
„Wolltest du nicht reden?“
Nicht wollen aber doch müssen.
„Ja, stimmt. Aber nicht unbedingt hier. Mein Auto steht da drüben, ich bringe dich zurück, okay? Auch, wenn du lieber zu Fuß gehst.“
Xander lächelt schief und murmelt:
„Ausnahmen bestätigen die Regel.“
Jesse kann nicht anders, er lächelt unwillkürlich zurück.
Einen Moment später sitzen sie im Auto. Xander auf dem Beifahrersitz ist ein, ihm völlig vertrauter, Anblick. Für einen Moment ist es als hätte jemand die Zeit vier Wochen zurück gedreht. Bis Xander fragt:
„Worüber willst du reden, Jesse?“
Er atmet tief durch. Er hätte das lieber in Ruhe geklärt, wenn er nicht am Steuer sitzt, aber er erkennt, dass er es nicht weiter hinaus zögern kann. Er versucht es möglichst unverfänglich.
„Du warst letzten Sonntag unangemeldet bei mir Zuhause?“
Jesse versucht den Blick stur auf die Straße zu richten. Wenn Xander nicht zu ihm gewollt hätte …
„Ja.“ Kommt eine denkbar kurze Antwort zurück.
„Ja?“
„Ja.“
„Ist das alles?“
Jesses Ton klingt scharf, dabei hat er doch eigentlich keinen Grund dazu. Er weiß das und dennoch, was soll das für eine Antwort sein? Keine vernünftige jedenfalls.
Xander wirkt verunsichert. Jesse merkt, wie er sich unruhig am Handgelenk kratzt. Die empfindliche Haut wird direkt rot.
„Du warst nicht Zuhause. Deine Mitbewohnerin hat die Tür aufgemacht“, erweitert er seine Antwort.
Seine Mitbewohnerin? Ist das Xanders Schlussfolgerung, oder hat Cassie das gesagt? Worüber haben die beiden gesprochen? Er muss das wissen.
„Meine Mitbewohnerin“, widerholt Jesse nur gepresst. Seine Hände umklammern das Lenkrad fest. Seine Fingerknöchelt treten weiß hervor.
„Ich …, du hast nicht erwähnt, dass du eine Mitbewohnerin hast. Wir haben nur kurz gesprochen. Ich wollte nicht stören. Wirklich nicht.“
„Tja, das ist dir gründlich misslungen.“
Es rutscht ihm heraus. Er wollte das nicht sagen und er bekommt keine Sekunde später die Quittung. Xanders Unsicherheit wird durch Zorn ersetzt. Er faucht:
„Ich konnte das nicht wissen, verdammt. Du hättest auch einfach erwähnen können, dass du eine Mitbewohnerin hast die ich stören könnte. Oder du hättest einfach mal drei Minuten deiner kostbaren Zeit geopfert um mir am Telefon zuzuhören.“
Jesses zum Zerreißen gespannte Nerven vertragen nicht mehr viel. Was bildet sich Xander eigentlich ein? Die Welt dreht sich sicher nicht um ihn. Er schnaubt, versucht möglichst ruhig zu bleiben und erwidert eine Spur zu wütend:
„Ich lass mich von dir nicht zurechtweisen, Xander. Es geht nicht immer nur um dich, klar? Ich habe nun mal auch andere Dinge zu tun als vierundzwanzig Stunden, sieben Tage die Woche, für dich da zu sein.“
Xanders braune Augen funkeln ihn von der Seite hitzig an. Die Wangen sind gerötet. Auch sein Geduldsfaden reißt.
„Oh, klar, weil ich das ja verlangt habe. Im Übrigen bin ich kein kleines Kind, also könntest du vielleicht, verdammt nochmal, anfangen mit mir wie mir einem Erwachsenen zu reden?“
„Vielleicht dann, wenn du dich für einen Augenblick auch wie ein Erwachsener verhalten würdest, statt dich über ein zu kurzes Telefongespräch zu beschweren!“
„Ich beschwere mich? Wer hat denn bitte angefangen? Was willst du eigentlich wissen? Komm zum Punkt. Außerdem hast du doch gefragt, warum ich am Sonntag bei dir war. Dabei weißt du’s wahrscheinlich eh. Ich hab deiner Mitbewohnerin ja schon erklären müssen, dass ich nur mit dir reden wollte. Tut mir Leid, dass das offensichtlich ein Verbrechen ist!“
Jesse kann spüren, wie die Ader an seiner Schläfe pocht. Er ist gefährlich nah dran auszurasten. Einzig und alleine die Tatsache, dass er sich auf den Verkehr konzentrieren muss hält ihn davon ab.
„Oh, Danke. Keine Antwort ist auch eine Antwort.“
Es klingt so patzig. So passiv aggressiv. Das bringt das Fass zum überlaufen.
„Gott, könntest du vielleicht eine einzige Sekunde die Klappe halten? Nein, verdammte scheiße, ich habe gar nichts erfahren und sie ist nicht meine Mitbewohnerin, zum Teufel, sie ist meine Verlobte!“
Er schreit. Sie sitzen in einem verschissenen kleinen Smart und er schreit als müsste er das Volumen der Welt ausfüllen. Vermutlich kann halb Manhattan mithören. Xander zuckt auf dem Beifahrersitz zusammen. Seine Hand verkrampft sich an der Armlehne. Sein Blick geht stur geradeaus. Er kann sehen, wie der Schwarzhaarige wiederholt blinzelt und einmal hart schluckt.
Super Jesse, du bist in deinen Bemühungen ja wahnsinnig erfolgreich. In seiner Magengrube breitet sich ein heißes Gefühl aus. Es scheint an seinen Eingeweiden zu nagen und ihn von innen aufzufressen. Es ist widerwärtig. Er atmet tief durch. Er muss das hier in Ordnung bringen. Irgendwie.
„Hör zu…“, beginnt er langsam, nach den richtigen Worten suchend. Doch noch bevor er sie gefunden hat, schneidet Xander ihm das Wort ab.
„Fahr einfach rechts ran.“
Die Stimme klingt vollkommen emotionslos. Jesse weiß nicht, ob er wütend, genervt oder verzweifelt sein soll. Theoretisch kommt alles in Frage.
„Xander …“
„Fahr einfach rechts ran, Jesse.“
„Nein. Jetzt hör‘ doch erst mal zu.“
Xander schüttelt vehement den Kopf.
„Fahr.Rechts.Ran.“
„Nein, Xander. Ich …“
Er wird von seinem Vordermann abgelenkt, der wohl auf einmal auf die Idee kommt, dass er unbedingt noch in die Seitenstraße rechts abbiegen muss, an der er eigentlich schon halb vorbei ist. Er drückt auf die Bremse. Xander nutzt die Gelegenheit. Jesse kann so schnell gar nicht reagieren, da ist er abgeschnallt und reißt die Beifahrertür auf. Der Wagen steht nicht einmal und dennoch ist Xander mit einem Satz auf der Straße. Jesse bleibt für eine Sekunde das Herz stehen. Im Zickzack läuft Xander über die Verkehrsinsel und über die Straße. Er schaut nicht einmal nach links und rechts und um ein Haar wäre er von einem roten PKW erwischt worden. Das folgende Hupkonzert reißt ihn aus seiner Starre. Nicht nur auf der gegenüberliegenden Fahrbahn – Xander ist mittlerweile nicht mehr zu Sehen – sondern vor allem auch sein Hintermann meldet sich lautstark. Er ist kurz davor aus seinem Auto auszusteigen und Jesse hinter dem Lenkrad hervor zu zerren. Ihm bleibt nichts anderes übrig als mit einem Griff über das Armaturenfeld die Beifahrertür zu schließen, die durch Xanders Aktion noch immer offen steht und anzufahren bevor er ein Verkehrschaos verursacht.
Seine Gedanken rasen und er kann sich nicht mehr konzentrieren. Nur einen Moment später nimmt er fast eine rote Ampel mit. So kann er einfach kein Auto fahren, also sucht er sich den nächstbesten Parkplatz, auf dem sein Wagen langsam zum Stehen kommt. Oh, Gott. Nur ganz langsam begreift er, was da vor wenigen Minuten passiert ist. Was hat er da gerade eigentlich getan? Xander wird nie wieder auch nur ein Wort mit ihm reden. Er ist einfach auf die Straße gerannt. Auf die Gottverdammte Straße. Ohne zu zögern. Wenn ihn das Auto erwischt hätte …wo ist er jetzt und was wird er tun? Was ist mit dem Wohnheim, was wenn er dort nicht mehr bleiben will oder dort gar nicht erst ankommt? Was ist, wenn er den falschen Leuten begegnet oder er sich nun in all seinen unausgesprochenen Ängsten bestätigt fühlt? Was hat er bloß angerichtet? Ihm ist so schlecht. Er kann gerade keinen klaren Gedanken mehr fassen. Er lehnt seine Stirn an das kühle Lenkrad. Er braucht einen Moment um zu realisieren das es heiße Tränen sind, die da in seinen Schoß fallen. Aber er kann nicht mehr und er tut auch nichts mehr. Er bleibt einfach sitzen und weint.